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IV

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„Junge, gut, dass du kommst.“, wurde Greg von der knarzigen Stimme des alten Uhrmachers begrüßt.

Arthur Tudors blaue Augen warfen einen letzten stechenden Blick auf die Straße, ehe er, wie jedes Mal nach Gregs Eintreffen im Laden, die Jalousien herunterkurbelte und das Geschäft in dieses merkwürdige Halbdunkel tauchte, das für Greg genauso untrennbar mit diesem Ort verbunden war wie der leichte Geruch nach Öl und Mottenpulver, der in der Luft lag. Draußen herrschte noch reger Betrieb. Eigentlich war es noch viel zu früh, den Laden zu schließen, wo doch um diese Zeit die meisten Menschen erst begannen, ihre Einkäufe zu erledigen und Besorgungen zu machen.

Der Junge hatte es schon lange aufgegeben, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie Arthur Tudor sein Geschäft am Laufen hielt. Mit dem Verkauf der Waren in den Auslagen jedenfalls nicht. Seit Greg für den schrulligen alten Mann arbeitete, war kaum jemals eine der Uhren oder einer der mechanischen Apparate, die etwaigen Kunden präsentiert wurden, aus den Vitrinen verschwunden. Allerdings landeten auch niemals die Kunstwerke darin, die er gemeinsam mit dem Uhrmacher in ihren unermüdlichen Nachtschichten herstellte.

Wie jeden Nachmittag folgte er dem leise vor sich hin murmelnden Arthur Tudor an den Glaskästen vorbei in den hinteren Teil des Ladens, in dem der Uhrmacher seine Werkstatt eingerichtet hatte. Im Gegensatz zur sterilen Verkaufsatmosphäre in dem den Kunden zugänglichen Verkaufsraum atmete hier hinten jede Ritze des Dielenbodens und jede Fuge in den Regalen die Persönlichkeit des Uhrmachers. Greg konnte nicht genau beschreiben, woran es lag, aber sobald er den Vorhang zur Werkstatt passiert hatte, überkam ihn jedes Mal dieses merkwürdige Gefühl, als habe er schon hunderte von Jahren in diesem Raum verbracht, als wäre dies seine eigentliche Heimat und er sei nur kurz vor die Tür gegangen, um sich die Beine zu vertreten, um dann schnell wieder in die Sicherheit und Geborgenheit der Werkstatt zurückzukehren. Wie jeden Tag mahnte er sich, diese Eindrücke nicht zu sehr an sich heranzulassen. Am Ende begann er noch, genauso unkontrolliert zu kichern wie Arthur Tudor. Und das auch noch in den unpassendsten Augenblicken.

Etwas war heute anders als an den meisten Tagen. Arthur Tudor trat nicht zu Molly, seiner riesigen Standuhr, mit deren Hilfe er die Zeit so manipulieren konnte, dass sie beide, egal welches Projekt sie sich vorgenommen hatten und wie viele Stunden sie schrauben, biegen und tüfteln mussten, immer weit vor Morgengrauen ihre Arbeit verrichtet hatten und ausreichend Schlaf für den nächsten Tag sammeln konnten. Stattdessen ging der alte Uhrmacher zu dem kleinen Ofen in der Ecke und setzte einen Topf mit Wasser auf. Greg beobachtete die kleine Gasflamme, die hektisch unter dem kupfernen Topfboden hin und her tanzte.

„Wo hab ich denn nur…?“ Arthur Tudor kramte gedankenversunken in einem mit Ersatzteilen und Haushaltsutensilien vollgepackten Regal herum.

„Arthur!“, versuchte Greg in seine Gedanken vorzudringen. „Molly!“

Der alte Uhrmacher drehte sich mit gerunzelter Stirn zu dem Jungen um. Unter dem Blick des alten Mannes fühlte Greg sich wie ein exotischer Käfer, der soeben die neueste Entdeckung eines schrulligen Naturforschers geworden war. Tudor legte den Kopf schief und lächelte ihn erfreut an, so als hätte er Greg tatsächlich gerade entdeckt. Dann klarte sein Blick langsam auf. Greg atmete erleichtert aus. Er hatte Arthur wieder einmal aus einer seiner Gedankenspiralen herausgeholt.

„Ach ja, Molly.“, antwortete der alte Uhrmacher, als wäre nichts gewesen. „Die kann sich noch ein bisschen ausruhen.“ Dann drehte er sich wieder um und begann erneut, in dem Regal herumzukramen. „Wir bekommen heute Besuch.“, brummte er dabei vor sich hin.

„Besuch?“, wunderte sich Greg.

„Ja, eine alte Freundin kommt auf einen Plausch vorbei.“, stöhnte Arthur Tudor, der sich gerade besonders strecken musste, um an einige Dosen auf dem Obersten Regalbrett heranzureichen. „Sie wird dir gefallen.“ Er schaute in eine blau bemalte Metalldose, schüttelte dann den Kopf und stieß sein irres Kichern aus, das Greg jedes Mal eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

„Was sucht Ihr eigentlich?“, wollte der Junge wissen.

„Tee.“, antwortete der Uhrmacher und stellte die Dose auf das unterste Brett des Regals. „Wir sollten Tee machen.“

Ohne ein Wort zu sagen, drehte sich Greg zu einem kleinen Schränkchen um, öffnete die linke Schublade und holte eine bronzefarbene Dose hervor. „Hier ist der Tee.“, sagte er, ohne in die Dose zu schauen und stellte sie auf den Arbeitstisch neben dem Herd. Er kannte jedes Versteck in Arthur Tudors Werkstatt und wenn der alte Uhrmacher nicht die Angewohnheit gehabt hätte, Dinge ständig an neuen Orten abzustellen, hätten sie einen Großteil der Arbeit, die sie mit dem Suchen nach Schraubendrehern, Federn oder Bleigewichten verbrachten, bereits in neue Erfindungen und wundervolle Apparate investieren können.

„Ah, da ist er ja.“, rief Arthur Tudor begeistert aus, so als habe er selbst gerade die Teedose gefunden, entnahm ihr ein paar Teeblätter und warf sie achtlos in das langsam heißer werdende Wasser. Dann wanderte sein prüfender Blick über die Werkbank, an der sie den größten Teil ihrer Arbeitszeit verbrachten. „Ich schätze, die Raupe, den Kolibri und den Dampfdruckmesser sollten wir erst einmal verschwinden lassen.“ Ohne eine weitere Erklärung schnappte er sich die beiden Tiernachbildungen, denen sie im Begriff waren, Leben einzuhauchen.

Greg kannte Arthur Tudor gut genug, um nicht weiter nach dem Sinn der Aktion zu fragen. Stattdessen schnappte er sich eine kleine Holzkiste und packte die Einzelteile des Druckmessers hinein.

„Wie läuft es zu Hause so?“, fragte der Uhrmacher unvermittelt.

Greg stutzte kurz. Normalerweise interessierte sich der alte Uhrmacher nicht für das, was außerhalb seines Ladens geschah. „Wir kommen zurecht.“, antwortete er zögerlich.

„Na, ihr braucht ja auch keinen Diesel, was?“, entgegnete Arthur Tudor.

Auch diese Eigenart des alten Kauzes, ständig abrupt das Thema zu wechseln, irritierte Greg nicht mehr. Manchmal, wie gerade eben, war er sogar ganz froh, dass der Uhrmacher so schnell vergaß, worüber sie gerade geredet hatten. „Diesel?“, fragte der Junge höflich nach.

„Es wird knapper. Manche der reichen Herren müssen schon wieder mit der Pferdekutsche vorlieb nehmen.“, berichtete der Uhrmacher und ließ ein weiteres Kichern ertönen.

Bevor Greg überlegen konnte, was er darauf antworten sollte, erklang von der Tür her ein merkwürdiges Klopfzeichen aus verschiedenen kurzen und langen Schlägen. Der Uhrmacher ließ seinen Blick ein letztes Mal durch den Raum schweifen, der jetzt wie eine ganz gewöhnliche Uhrmacherwerkstatt aussah und nickte zufrieden. „Und denk dran, Greg! Wir bauen Uhren. Große und kleine Uhren.“, sagte er, klopfte sich mit dem Zeigefinger gegen die Nase und zwinkerte dem Jungen zu. Dann schlurfte er bedächtig zur Ladentür.

Greg hörte das Klimpern des Schlüssels, das Klappern und Schaben der Riegel und dann die Ladenglocke, als die Tür geöffnet wurde. Schnell setzte er sich an seinen Platz an der Werkbank und schnappte sich eines der Uhrgehäuse, die überall herumlagen. Es sollte nur niemand merken, wie neugierig er wegen des ungewöhnlichen Besuchs war.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schien Arthur Tudor das Abschließen des Eingangs beendet zu haben. Bedächtige Schritte kündigten das Kommen des alten Uhrmachers und seines geheimnisvollen Gastes an. Greg wunderte sich, dass er bisher noch kein einziges Wort vernommen hatte. Es fiel ihm ungeheuer schwer, nicht den Vorhang zur Seite zu ziehen, um endlich zu sehen, wer da in ihre Arbeit hereingeplatzt war. Immerhin schien der Uhrmacher die Person erwartet zu haben. Statt seinem Drang, aufzuspringen und sich endlich Klarheit zu verschaffen, nachzugeben, drehte Greg an einer kleinen Schraube im Innern der Taschenuhr herum, so als wäre er gerade dabei, die Uhr zu reparieren. Wie konnte man nur so lange vom Eingang durch den Laden bis in die kleine Werkstatt brauchen? Selbst für Arthur Tudor, der alle Verrichtungen mit einer besonderen Bedächtigkeit ausführte, so dass es manchmal so aussah, als würde er Dinge geschehen lassen, ohne sich auch nur zu bewegen, musste dies ein neuer Rekord in Langsamkeit sein.

Endlich bewegte sich der Vorhang und eine großgewachsene Frau mit krausen, schwarzen Haaren trat in die Werkstatt. Gregs erster Impuls war, ihr zu Hilfe zu eilen und einen Stuhl anzubieten. Ihr mit einer Unmenge an ausgebeulten Taschen versehener Lodenmantel war von unzähligen Brandlöchern durchsiebt, das vergilbte Kleid darunter mochte ehemals weiß gewesen sein und die schweren Stiefel mit ihren Ölflecken und Kratzspuren hatten auch schon bessere Zeiten gesehen. Greg war sich nicht sicher, ob die dunkle Haut der Frau natürlichen Ursprungs oder ebenfalls Ergebnis eines Brandunfalls war, die versengten Brauen über den forschend umherblickenden braunen Augen ließen letztere Möglichkeit zumindest im Rahmen des Wahrscheinlichen erscheinen.

„Oh, du hast schon Besuch?“, rief die Frau verwundert über ihre Schulter und durchbohrte Greg mit einem abschätzigen Blick.

„Nein, nein. Das ist mein Lehrjunge.“, korrigierte Arthur Tudor ihre Annahme und schob sich hinter ihr durch den Vorhang. „Gloria, das ist Greg.“ Bei diesen Worten deutete er auf den Jungen. „Greg, Gloria Josnic, eine alte Freundin.“, stellte er nun auch die Frau vor. „Sie ist Erfinderin.“, fügte er hinzu. Greg war sich nicht sicher, ob er einen Hauch Ironie in der Stimme des alten Mannes wahrnahm.

Um Glorias Lippen huschte ein Schmunzeln, dann machte sie einen forschen Schritt auf Greg zu und reichte ihm die Hand. „Ein Lehrjunge? Nach all den Jahren?“, sagte sie an den Uhrmacher gewandt, ohne Greg aus den Augen zu lassen. „Sehr erfreut.“

Greg griff nach der Hand und spürte, dass sie erstaunlich schwielig war. Gleich darauf schalt er sich, dass er bei dem Aussehen der Frau wohl kaum etwas anderes hätte erwarten können.

„Du musst ein besonderes Talent für Uhren haben.“, redete die Frau weiter. „Ich habe noch nie erlebt, dass Arthur jemandem gestattet hätte, ihm bei seiner Arbeit zur Hand zu gehen.“ Sie warf dem alten Uhrmacher, der sich gerade an der Teekanne zu schaffen machte, einen abschätzigen Blick zu, den er aber nicht wahrzunehmen schien, da er mit dem Rücken zu den beiden stand.

„Ja, das ist er. Ein wirkliches Talent.“, entgegnete Arthur Tudor und warf Greg einen anerkennenden Blick zu.

„Hast du endlich einen Nachfolger auserkoren?“, bohrte Gloria weiter und ließ sich auf einem Schemel an der Werkbank nieder. Ihr Blick glitt forschend über die Arbeitsplatte.

„Tee?“, fragte der Uhrmacher, ohne auf ihre Frage einzugehen. Er stand so unvermittelt neben Gloria, dass Greg vor Schreck beinahe den Schraubendreher fallen gelassen hätte.

„Aber gern. So lange wir noch Feuer machen können.“, entgegnete sie mit einem Lächeln.

„Keine Sorge, den Ofen kann ich auch noch mit Holz befeuern.“, entgegnete Arthur Tudor lächelnd und goss ihr mit einem eleganten Schwung Tee in die Tasse.

Greg schaute irritiert zum Herd hinüber, auf dem der Topf mit Wasser leise vor sich hin blubberte. Kein Feuer mehr machen können? Wovon sprachen die beiden?

Gloria griff nach der Teetasse und pustete einmal kräftig, bevor sie einen ersten zögerlichen Schluck nahm. „So wie vor 20 Jahren?“

In die Augen des Uhrmachers trat ein merkwürdiger Glanz, als er an die alte Zeit zurückdachte. „Ja, was für ein Winter! Damals stand uns der Schnee bis zur Nasenspitze.“

„Die Menschen in der Stadt werden unzufrieden. Es gibt immer wieder Aufläufe.“, wechselte Gloria für Greg völlig unverständlich das Thema.

Arthur Tudor hingegen schien nichts an dem Wechsel zu finden. „Die Menschen sind immer unzufrieden. Das gehört zu ihrer Natur.“, tat er ihren Kommentar mit einem Gesichtsausdruck ab, als würden sich die beiden in einer gelehrten Diskussion über exotische Käfer befinden.

„Bis alle Bäume abgeholzt sind. Und womit heizt du dann?“, schwenkte Gloria erneut ab.

„Es wird mir schon etwas einfallen. Elektrizität vielleicht? Es heißt, man macht damit große Fortschritte.“, entgegnete der alte Uhrmacher liebenswürdig und schenkte sich selbst auch eine Tasse des dampfenden Getränks ein.

Gloria sinnierte einen Augenblick über ihrem Tee. „Damit hätte man damals vielleicht auch den Schnee schmelzen können. Stellt euch mal vor, eine Maschine, die in Windeseile die Straßen wieder passierbar macht.“, geriet sie ins Schwärmen. „Und eine angenehme Wärme schafft, die das Spazieren auf den Bürgersteigen auch im Winter zu einem Vergnügen werden lässt.“

„Damals im Süden haben sie auch viel mit Elektrizität experimentiert.“, entgegnete der Uhrmacher.

Gregs Blick wanderte unstet zwischen den beiden hin und her. Er kam sich vor wie in einem dieser makabren Theaterstücke, die hin und wieder von fahrendem Volk zur Belustigung der einfachen Leute auf dem Marktplatz aufgeführt wurden. Die beiden redeten in einem Fort und schienen sich prächtig zu verstehen, wohingegen er keinen roten Faden in dem Gedankenaustausch erkennen konnte.

„Du und dein Süden.“, tat Gloria die Bemerkung des Uhrmachers mit einem Schnauben ab. „Schau dir an, wie es jetzt dort aussieht!“

„Lieber nicht.“, winkte Arthur mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen ab.

Greg hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl aus. Irgendetwas musste er tun, sonst würde er hier noch irre werden. „Ich mache noch eine Kanne Tee.“, verkündete er und griff nach dem Keramikkrug auf dem Tisch.

„Guter Junge, den du da hast.“, stellte Gloria mit einem anerkennenden Nicken fest.

Doch Arthur Tudors Gedanken waren bereits in dem irren Labyrinth seiner Gehirnwindungen weitergewandert: „Den Winter einhegen, damit die Obrigkeit noch mehr Zeit für ihre intriganten Spiele hat?“, fragte er mit gerunzelter Stirn. „Ich fand den Winter immer sehr angenehm. So ereignisarm. Eine echte Zeit der Erholung, bevor das politische Affentheater von neuem beginnt.“

Gloria verdrehte die Augen: „Die Intrigen hören doch nie auf. Im Winter bekommen wir nur weniger davon mit. Habt ihr gehört, dass Collin Rand wieder als Oberster Richter eingesetzt worden ist?“

Greg spitzte die Ohren. Endlich wurde ein Thema angeschnitten, von dem er etwas verstand und das für ihn durchaus von Bedeutung sein konnte.

„Hat der Siebenkantschlüssel gepasst?“, fragte Arthur Tudor wie aus dem Nichts und trieb Greg dazu, wild mit den Augen zu rollen. Zum Glück schaute der Junge gerade nach dem Wasser, so dass die beiden Erwachsenen die zugegebenermaßen wenig anständige Geste nicht wahrnehmen konnten.

„Oh ja. Als wäre er nur für diese Schraube gemacht worden.“, rief Gloria und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Sie kramte in den Taschen ihres Mantels und hielt dann endlich einen klobigen Schraubenschlüssel in der Hand. „Ich habe ihn dir wieder mitgebracht. Ein wirkliches Meisterwerk.“

„Vielen Dank.“ Endlich einmal blieb der Uhrmacher beim Thema. „Ein solches Lob aus deinem Munde?!“

Diesmal war es wieder Gloria, die den bunten Reigen der Verwirrungen fortsetzte: „Ein paar Teslaspulen werden nicht alle Öfen der Stadt befeuern können.“, überlegte sie nachdenklich.

Arthur Tudor hob den Zeigefinger der rechten Hand, als wäre er ein Volksschullehrer, der einem wissbegierigen Kind einen wichtigen Vortrag hielt: „Man muss eben andere Energiequellen anzapfen. In Frankreich soll man da schon recht weit sein.“

„Collin Rand wird die ganze Stadt gleichschalten.“, erwiderte Gloria. Für Greg stand inzwischen außer Frage, dass sie mindestens so verrückt wie der irre Uhrmacher war. „Für kreative Geister wie uns wird hier schon bald kein Platz mehr sein.“

Der alte Mann kicherte belustigt. Ein schelmischer Glanz trat in seine Augen. „Für Leute wie uns war noch nie irgendwo Platz. Und dennoch sind wir immer überall zurecht gekommen.“

Gloria führte die Teetasse an ihren Mund, nahm einen kräftigen Schluck und stimmte ihm dann eifrig zu: „Und wir haben den eisigen Winter vor 20 Jahren besser überstanden als die meisten.“

„Diesel ist ein echtes Problem geworden.“, nickte der Uhrmacher nachdenklich.

„Deshalb setze ich ja auch auf die Dampfkraft.“, erwiderte die Erfinderin. „Die Ressourcen sind einfach umso vieles größer.“

„Und die Kolonien liefern zuverlässiger als die Hafenstädte.“, überlegte Arthur Tudor und blickte in seine Tasse, als könne er darin die Antworten auf alle seine Fragen lesen. „Das war schon immer so.“

„Wenn alles wahr wäre, was man über Frankreich hört, ständen wir schon längst unter der Herrschaft ihres Kaisers.“, sprang Gloria wieder einmal zum nächsten Thema. „Der letzte Krieg hat das Land kaputt gemacht und mindestens zweihundert Jahre zurückgeworfen.“

„So wie uns, Gloria, so wie uns.“, entgegnete Arthur Tudor seufzend.

Gloria bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick: „Ohne die Kolonien wären wir längst am Ende.“

„Und sie ohne uns.“, versetzte der alte Uhrmacher immer noch seelenruhig.

„Woran arbeitet ihr eigentlich gerade?“, wollte die Erfinderin wissen und schaute sich in der Werkstatt um, in der Hoffnung, an den herumstehenden Gerätschaften einen Teil der Antwort auf ihre Frage ablesen zu können.

Arthur Tudor nahm einen weiteren Schluck Tee und stellte die nun leere Tasse laut scheppernd auf dem Tisch ab. „Uhren. Sie werden immer raffinierter.“

„Collin Rand ist raffiniert.“, sagte Gloria. Greg konnte ihr nicht ansehen, ob sie über die Antwort des Uhrmachers enttäuscht war. „Lässt Song die Drecksarbeit für sich machen und zieht im Hintergrund die Fäden.“

„So wie Treuenberg, bevor er das Kaiserreich und die ganze Welt in diesen verheerenden Krieg gestürzt hat.“, erwiderte Arthur Tudor bekümmert.

Gloria schüttelte entschieden den Kopf. „Wir sollten dennoch nicht so viel Hoffnung in die Elektrizität stecken. Nicht, so lange wir das Thema Dampf nicht wirklich erschöpfend verstanden haben.“

Der alte Uhrmacher hob den Kopf und schnippte mit einem Finger. „Ah, der Dampf. Eine faszinierende Geschichte, findest du nicht Greg?“

Greg, der gerade heißes Wasser in die Teekanne nachfüllte, hätte vor Schreck beinahe den Topf fallen lassen. Geistesgegenwärtig platzte er heraus: „Durchaus, obwohl ich glaube, dass Dieselmotoren die Zukunft gehört. Sie arbeiten mit Wirkungsgraden, die Dampfmaschinen nicht erreichen können.“

Nun war es an Gloria, den Zeigefinger zu erheben: „Noch nicht, mein Junge. Noch nicht.“, dozierte sie.

Bevor Greg nachfragen konnte, was sie damit meinte, sprangen die Gedanken des Uhrmachers schon wieder auf und davon: „Ja die Kolonien brauchen uns und wir brauchen die Kolonien.“

„Hoffen wir, dass Rand das auch begreift.“, ging Gloria auf die Problematik ein. „Mit seiner Kampagne gegen das unzivilisierte Fremde hat er einen Ton angeschlagen, der mir gar nicht gefällt.“

„Rand ist ein eitler Tropf.“ Arthur Tudor blickte grimmig in die von Greg neu gefüllte Tasse, die vor ihm auf dem Tisch stand. „Einer, der die wichtigen Zusammenhänge nicht versteht.“

„Hast du zwei Zahnräder. Etwa so groß?“, fragte die Erfinderin unvermittelt und zeigte mit ihren Händen den ungefähren Umfang der Zahnräder, die sie brauchte, an.

„Greg, kannst du mal nachschauen?“, forderte Arthur Tudor seinen Gehilfen auf.

,Nichts lieber als das.‘, dachte sich Greg und machte sich daran, dankbar, dass er endlich eine Aufgabe hatte und nicht länger dem komplizierten Verbaltanz der beiden Verrückten an diesem Tisch folgen musste.

Ungerührt fuhr Gloria fort: „Ich mache mir wirklich Sorgen, wenn der Winter wieder so kalt wird. Es ist schon jetzt sehr ungemütlich.“

„Frankreich wird sich wieder aufrappeln.“, prophezeite der Uhrmacher. „Und Russland auch. Wir müssen den technischen Fortschritt voranbringen, wenn wir nicht zwischen beiden zerrieben werden wollen.“

Greg hatte in einer Schachtel auf einem der Regale zwei Zahnräder gefunden: „Diese hier?“, rief er und ging mit fragendem Blick zu der Erfinderin hinüber.

Gloria nahm die beiden Zahnräder und prüfte sie eingehend.: „Das hier ist gut.“, meinte sie und legte eines der beiden Räder vor sich auf den Tisch. „Aber das hier müsste dicker sein.“, sagte sie und hielt Greg das zweite unter die Nase. Der nahm es und machte sich erneut auf die Suche.

„Im Süden soll es viel Diesel geben.“, behauptete der alte Uhrmacher nun.

Gloria ließ ein helles Lachen erklingen: „Aber wer würde schon in den Süden fahren, um ihn zu holen.“

„Patty Song wird Rand nicht lange im Zaum halten können, oder?“, überlegte Arthur Tudor weiter.

Die Erfinderin griff nach ihrer Teetasse und rührte lautstark mit dem Löffel darin herum, was völlig unnötig war, da sie weder Zucker noch Sahne dazugegeben hatte: „Wer kann Rand schon im Zaum halten?“

„Verwegene Abenteurer?“, spekulierte der alte Uhrmacher weiter.

„Die Dieselpreise würden ins Exorbitante steigen.“, entgegnete Gloria mit einem vehementen Kopfschütteln.

Arthur Tudor nickte vor sich hin: „Hoffen wir, dass Rand diesmal seine Kettenhunde im Zaum halten kann.“

Greg war erneut fündig geworden und hielt das neue Zahnrad neben das zu dünne. Dicker war es auf jeden Fall. Da das Gespräch ohnehin bereits völlig verfahren war, machte er sich nicht die Mühe, abzuwarten, bis eine geeignete Gesprächspause ihm die Möglichkeit gab, das Metallstück an die Frau zu bringen. „Das ist das dickste, das ich finden kann.“, sagte er und legte sein neues Fundstück vor der Erfinderin auf den Tisch.

Gloria beäugte es kritisch. „Sehr gut!“, rief sie dann erfreut und hielt es in die Höhe. „Genau danach habe ich gesucht.“

Ungerührt von der erfolgreichen Suche fragte der Uhrmacher: „Glaubst du, der Doge würde eingreifen, wenn es Rand zu bunt treibt.“

„Es muss im Interesse des Dogen liegen, dass die Kräfteverhältnisse sich nicht zu seinen Ungunsten verschieben.“, gab sich Gloria sicher, dass dies der Fall sein würde und stemmte sich von ihrem Schemel hoch.

Arthur Tudor zuckte gelassen mit den Schultern: „Wir brauchen keinen Diesel. Und die Reichen bezahlen, was es eben kostet.“

Die Erfinderin klopfte ihren Mantel zurecht, steckte die beiden Zahnräder in eine seiner vielen Taschen und schob den Vorhang zur Seite. „Greg, du musst mich unbedingt einmal besuchen.“, sagte sie, ohne sich noch einmal umzudrehen. Dann fiel der Vorhang hinter ihr zurück und ihre Schritte verrieten, dass sie sich Richtung Ausgangstür bewegte. Greg schaute zu Arthur Tudors Platz, um zu sehen, ob der alte Uhrmacher nicht Anstalten machen wollte, seinen Gast zur Tür zu begleiten und die Riegel zu öffnen, doch der Stuhl, auf dem der alte Mann gerade noch gesessen hatte, war verwaist. Stattdessen hörte Greg von der Ladentür her das vertraute Klappern und Schaben der Riegel und Schlösser und das irre Kichern des Uhrmachers, der die nicht weniger verrückte Erfinderin verabschiedete.

Erschöpft ließ der Junge sich auf einen Stuhl fallen und stützte den Kopf in seine Hände. Er versuchte, das Gespräch der beiden noch einmal Revue passieren zu lassen, doch alles, was sich tat, war der unbändige Drang zu lachen, der sich durch seinen Oberkörper zum Mund kämpfte und gewaltsam Bahn brach.

Diesel

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