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Die Allee des Östlichen Zephyrs war eigentlich gar keine. Vielmehr handelte es sich um eine ganz gewöhnliche Straße, kaum breiter als die Gassen der Altstadt. Doch im Südviertel, dem feinsten Quartier Brae Flammars, war kein Platz für schnöde Straßen und schon gar keiner für Gassen. Hier gab es ausschließlich Alleen, Chausseen und Boulevards. Nach Flynns Meinung war dies ein weiterer Beweis für die Menschen im Allgemeinen und Flammari im Speziellen angeborene Großkotzigkeit. Alles musste besser klingen und größer aussehen, als es in Wirklichkeit war. Elben wären nie auf solch eine Idee gekommen. Wobei Flynn zugeben musste, dass es sich bei der Allee des Östlichen Zephyrs zwar nicht um eine imposante, aber zumindest um eine gepflegte Straße handelte. In regelmäßigen Abständen flankierten sauber getrimmte Pfeifnussbäume den Weg, der für flammarische Verhältnisse geradezu blitzblank war. Die Häuser waren nicht rot- oder ockerfarben wie im Rest der Stadt üblich. Stattdessen hatte man sie weiß getüncht. Anders als in den meisten anderen Stadtvierteln standen die Gebäude auch nicht dicht aneinander gedrängt, sondern lagen etwas auseinander, wie die Zähne eines vom Skorbut geplagten Seemanns.

Flynn musste nach dem Weg fragen, denn obzwar er die Hausnummer kannte, hatte er die fragliche Stadtvilla nicht finden können. Daran war die flammarische Nummerierung der Häuser schuld. Sie folgte einem System, das zu verstehen höchstens ein seit zwanzig Jahren in der Halle der Schriften arbeitender Stadtverwalter in der Lage war. Für Normalsterbliche wirkte die Abfolge der Hausnummern, nun ja, wahllos. Flynn marschierte die Allee des Östlichen Zephyrs hinab, vorbei an den Nummern 17, 134, 2b und P19. Dann erreichte er das gesuchte Haus. Es handelte sich um eine kleine Stadtvilla mit winzigem Garten. Flynn lehnte sich an einen der Pfeifnussbäume vor dem Anwesen. Er steckte zwei Finger in den Mund und blies hindurch. Ein für menschliche Ohren nicht vernehmbarer Ton entfuhr ihm, und um Flynn herum gingen Nüsse zu Boden. Der Elb las ein halbes Dutzend davon auf und begann, sie zu knacken. Während er aß, beobachtete er die Villa. Ihre Tür bestand aus schwarzlackiertem Holz, in deren Mitte ein kupferner, vom Grünspan befallener Klopfer hing, dem Kopf einer Seegorgone nachempfunden. Um das Grundstück herum verlief eine Buchsbaumhecke, das Gartentor war eine schmiedeeiserne Extravaganz, die irgendwelche menschlichen Götter bei ihren Ränkespielen zeigte. Er meinte Baar zu erkennen, den Gott des Wissens und Look, den Gott des Sieges. Möglicherweise war es auch Pensa, die Göttin der Strategie, da war er sich nicht sicher. Im menschlichen Pantheon existierten einfach zu viele Götter und Götzen, als dass man sie sich alle hätte merken können. Ansonsten gab es wenig Besonderes an dem Haus. Die Fenster waren vergittert, das Dach mit gebrannten Kacheln gedeckt. Neben dem Eingang schlummerte eine orange-weiß marmorierte Katze in der Sonne und musterte ihn eingehend.

Orfamay Nachtauge musste wohlhabend sein, das war offensichtlich. Allerdings schien sie nicht über den unermesslichen Reichtum der Oberen Tausend zu verfügen, sonst hätte ihr Haus nicht so nahe am Roten Kliff gelegen. In den meisten Städten wäre eine Wohnlage umso teurer gewesen, je näher sie am Wasser lag, aber nicht in Brae Flammars Südviertel. Das Kliff befand sich nämlich in einem ebenso andauernden wie aussichtslosen Kampf mit einem übermächtigen Gegner: der stürmischen See. Jahr für Jahr wich es einige Fußbreit zurück. In zehn, höchstens zwanzig Jahren, so schätzte Flynn, würde Nachtauges Villa auf dem Grund des Golfs von Kharkesh liegen.

Er schluckte den letzten Nusskern hinunter und ging zur Gartenpforte. Sie war unverschlossen. Flynn öffnete das Tor und stieg die Stufen zur Tür hinauf. Die Katze schaute ihn indigniert an und verschwand mit einem Satz hinter einem Busch. Flynn umfasste den Ring, den die Seegorgone zwischen ihren spitzen Zähnen hielt. Er klopfte dreimal.

Es dauerte etwas, bis jemand auf der anderen Seite einen Riegel beiseiteschob. Die Tür schwang auf und Flynn sah sich einer Frau gegenüber. Sie war vielleicht Mitte dreißig und trug ein langes, dunkelgrünes Kleid aus Baumwolle. Ihr Gesicht schien nur aus Augen und Lippen zu bestehen. Erstere waren groß und smaragdfarben, letztere voll und tiefrot.

Flynn räusperte sich. »Habe ich die Ehre, Lady Orfamay Nachtauge gegenüberzustehen?«

»Die habt Ihr, Flynn vom Dunkeltal.«

»Diesen Namen habe ich längst abgelegt. Woher kennt Ihr ihn?«

Sie musterte ihn mit einem Blick, der Flynn nicht behagte.

»Ich pflege über meine Geschäftspartner Erkundigungen einzuholen.«

»Geschäftspartner? Schuldner eher.«

»Nicht unbedingt. Aber ich bin sehr unhöflich. Bitte tretet doch ein.«

Sie machte eine einladende Geste. Flynn verneigte sich nochmals. Während er über die Schwelle trat, murmelte er »Friede Eurem Hause«, jene Formel, ohne deren Erwähnung kein Flammari je das Domizil eines anderen betreten hätte. Als er sich in der Vorhalle umsah, fiel ihm auf, dass die Villa praktisch leer war. Es schien weder Bilder noch Baldachine, weder Teppiche noch Tische zu geben.

»Mich deucht, Ihr mögt es luftig, Lady Nachtauge.«

»Ah, nein, ich lasse dieses Anwesen gerade renovieren. Fast alle meine Möbel und Habseligkeiten befinden sich derzeit in einem Lagerhaus.«

Ihre Stimme hatte einen leichten Akzent, der ostländisch klang. Flynn wagte eine Vermutung. »Ihr stammt aus Graak?«

»Fast richtig geraten. Noch etwas weiter westlich, aus Tyne.«

»Tyne-am-Oyn?«

»Tyne-an-der-See. Aber bitte, lasst uns in den Salon gehen.«

Der Salon war so leer wie die Versprechen eines pyronischen Händlers. Lediglich in einer Ecke standen einige Habseligkeiten. Flynn konnte jedoch nicht erkennen, worum es sich handelte, da eine Plane aus Segeltuch die Gegenstände vor seinem neugierigen Blick verbarg.

»Ich hole uns einige Sitzkissen, Lord Grünblatt.«

Orfamay Nachtauge bedeutete ihm zu warten und verschwand durch einen Durchgang in der Wand in einem angrenzenden Zimmer. Sobald sie außer Sichtweite war, ging Flynn zu der Plane. Er lupfte sie an und riskierte einen Blick. Seine Kundschafternase hatte ihm signalisiert, er werde unter dem Segeltuch etwas Aufsehenerregendes finden. Doch der Elb erspähte lediglich einen Holztisch, zwei Kohlenbecken auf Ständern sowie den Ausschnitt eines ziemlich großen Ölgemäldes. Orfamay Nachtauge mochte es offenbar religiös. Wie schon auf ihrem Gartentor waren auch hier menschliche Götter bei der Arbeit zu sehen. Baar hielt ein dickes Buch in der Hand. Vermutlich spendierte er seinen menschlichen Anhängern gerade eine Portion Wissen. Das Buch wurde von Flammen umzüngelt, ein Ascheregen ging auf die darunter liegende Landschaft hernieder. Eine weibliche Göttin – er war sich diesmal ziemlich sicher, dass es sich um Pensa handelte – hatte ein zerbrochenes Schwert in der Hand. Dahinter stand Usara, die Göttin der Liebe und …

Seine feinen Elbenohren vernahmen die sich nähernden Schritte seiner Gastgeberin. Flynn ließ das Tuch los und machte einen Satz, der ihn einige Meter von dem Möbelstapel wegbeförderte. Er setzte einen gelangweilten Blick auf und schaute zur Decke.

Lady Nachtauge brachte zwei Sitzkissen, ferner eine Karaffe Wein und zwei lederne Becher.

»Bitte, setzt Euch. Stühle habe ich zurzeit keine, aber Euer Volk sitzt ja ohnehin lieber auf dem Boden, soweit ich weiß.«

Ja, aber nur wenn es sich um bemoosten Waldboden handelt, dachte Flynn, sagte aber nichts. Als sie sich gesetzt hatten, schenkte sie ihm Wein ein, den er nicht wollte.

»Danke. Könnten wir nun zum geschäftlichen Teil kommen?«, fragte Flynn.

Sie musterte ihn tadelnd.

»Eure Hast ist äußerst unflammarisch.«

»Da keine Flammari anwesend sind, können wir die Tanzschritte und Verbeugungen von mir aus weglassen. Um es kurz zu machen: Ich habe Euer Geld nicht, keinen einzigen Goldflamm.«

»Ich weiß. Eure ehemaligen Gläubiger wissen es natürlich auch. Deshalb habe ich die … wie viel waren es gleich?«

»EinundzwanzigtausenddreihundertfünfundsiebzigGoldflamm.«

»Richtig. Die hohe Summe ergibt sich aus den teils beträchtlichen Verzugszinsen. Ich habe die Schuldscheine mit erheblichem Abschlag erwerben können. Niemand glaubt, dass Ihr den Betrag je aufbringen könnt. Oder wollt.«

»Da hat dieser Niemand völlig Recht. Aber wenn man Schuldscheine mit Abschlag kauft, hat man normalerweise eine gute Idee, wie man das Geld dennoch aus dem Schuldner herauspresst, Lady Nachtauge. Was ist Eure?«

»Ihr besitzt etwas, das ich benötige. Etwas anderes als Geld.«

»Nämlich?«

»Gewisse elbische Fähigkeiten, die ich gerne in Anspruch nehmen würde.«

»Ihr hättet einfach in den Schwarzen Wal kommen und freundlich fragen können.«

Orfamay Nachtauge lächelte ihn an und sah ihn aus ihren großen grünen Augen an.

»Ihr hättet nein gesagt.«

»Wozu denn eigentlich?«

Nachtauge zog eines ihrer Beine unter sich. Als sie das tat, verrutschte ihr langes Kleid. Flynn konnte erkennen, dass es sich um ein sehr ansehnliches Bein handelte.

»Wisst Ihr, wer die Magier von Shem sind?«

»Natürlich.«

Die Shem waren ein Magierorden, der seinen Sitz auf einer größeren Insel inmitten der See von Kharkesh hatte, mindestens zwanzig Tagesreisen vom nächsten Hafen entfernt. Mönchen in einem entlegenen Kloster gleich hatten die Shem Jahrhunderte lang auf ihrem Eiland gelebt, irgendwelche Schriftrollen studiert, Tränke gebraut und waren auf Zauberpferden übers Meer geflogen – was Magier eben so zu tun pflegten. Aber nach dem Zweiten Krieg, so erzählte man sich, hatten die Shem ihr Einsiedlerdasein urplötzlich aufgegeben und Expeditionen hinaus in alle Welt geschickt. Inzwischen gab es in jeder wichtigen Stadt rund um den Golf von Kharkesh Botschaften der Shem. In Handelsstädten wie Brae Flammar boten sie außerdem allerlei magische Dienstleistungen an. Keiner wusste, warum die Shem plötzlich die Wanderlust gepackt hatte, und vielen waren die Magier mit den bestickten Roben und den Tiermasken unheimlich. Andererseits waren die meisten anderen Leute, die sich Magier schimpften, kaum in der Lage, einen Kienspan Feuer fangen zu lassen. Die Shem hingegen, daran bestand kein Zweifel, vermochten mächtige Zauber zu wirken. Sie boten somit etwas an, das niemand anders besaß, und deshalb empfing man sie fast überall mit offenen Armen.

»Die Shem haben etwas, das ich benötige.«

»Ihr hattet recht.«

»Womit?«

»Dass ich nein gesagt hätte. Niemand ist so dumm und bestiehlt die Shem.«

»Ihr sollt sie nicht bestehlen. Höchstens belügen.«

»Auch das ist mir zu heikel. Diese Typen können einen mit Worten in ein Aschehäufchen verwandeln. Vergesst es.«

Sie lächelte ihn wieder an. Es hatte überhaupt nichts Freundliches.

»Ihr habt angesichts Eurer hohen Schulden wohl kaum eine Wahl.«

»Man hat immer eine Wahl, Lady Nachtauge. Lieber schiffe ich mich freiwillig auf einer traskischen Galeere ein oder ziehe dauerhaft in den Smaragdwald, als mich mit Magiern dieses Kalibers anzulegen.«

Ihre Miene verfinsterte sich.

»Mächtig? Ja, das sind sie. Glaubt mir, das weiß ich sehr genau.«

»Gut, dass wir uns da verstehen. Was ich hingegen nicht kapiere: Wenn Ihr von den Tiergesichtern was kaufen wollt, warum tut Ihr es dann nicht einfach selbst? Der Shem-Stand auf dem Wazaar ist doch jedem zugänglich.«

Ohne ein weiteres Wort begann Orfamay Nachtauge, ihr Kleid bis zum Bauchnabel aufzuknöpfen. Flynn musste schlucken, denn der Rest ihres Körpers hielt, was die Augen und Beine versprachen. Sein Blick heftete sich an der Stelle unter dem Bauchnabel fest, an der ihre nackte Haut endete. Er hörte, wie sie sich räusperte.

»Freut mich, dass Euch gefällt, was Ihr seht. Wie ich an Euren Beinlingen erkennen kann, gefällt es Euch sogar außerordentlich. Aber worauf ich Eure Aufmerksamkeit eigentlich lenken wollte, war das hier.«

Sie ließ ihr halboffenes Kleid über die Schultern gleiten, sodass Flynn ihre linke Brust sehen konnte – sie war makellos, bis auf eine schlangenförmige schwarze Tätowierung, die um die Warze herum verlief.

Er keuchte. »Ein Mal der Shem! Wieso habt Ihr das?«

»Weil ich nicht bezahlt habe.«

Flynn grinste. »Gut zu wissen, dass ich hier nicht der einzige mit schlechter Zahlungsmoral bin.«

»Es ist sehr lange her«, erwiderte Nachtauge. »Ich hatte auf Kredit gekauft und war damals in einer Notlage, konnte die Raten nicht zahlen. Ein Magier der Shem verpasste mir daraufhin diese Markierung. Die Details tun nichts zur Sache. Aber es erklärt wohl, warum ich persönlich keine Geschäfte mit den Shem mehr machen kann. Ihr schon.«

»Ich soll Euer Mittelsmann sein?«

»So ist es. Wobei die Shem niemals herausfinden dürfen, für wen Ihr arbeitet.«

»Man hört, Magier der höheren Grade könnten Gedanken lesen.«

»Ja, das hört man. Man hört aber auch, dass Elben gegen derlei Geistesmagie besser gefeit sind und sich sogar völlig dagegen immunisieren können.«

»Wie soll das gehen?«

Aus einer Falte ihres Kleides holte Orfamay Nachtauge ein Amulett hervor. Es bestand aus einem flachen, polierten Stück Jade. In der Mitte hatte sie ein Loch, durch das man eine schlichte Lederschnur gezogen hatte.

»Tragt das hier, und kein Magier der Welt wird Euch in den Kopf schauen können.«

Flynn runzelte die Stirn. »Nehmen wir an, Ihr habt Recht und es funktioniert. Was soll ich denn bei den Shem für Euch kaufen?«

»Tessar.«

»Nie davon gehört.«

»Eine magische Ingredienz. Sie ist ein … Sekret gewisser infernalischer Kreaturen. Ein teerartige Substanz, zu kleinen Fladen gepresst, mit einem Gewicht von etwa drei liwarischen Unzen.«

»Wofür benötigt man so etwas?«

»Priesterinnen aller Götter verwenden sie als eine Art Weihrauch.«

»Und was heißt Sekret?«

»Nun, körperliche Ausscheidung.«

»Habe ich das richtig verstanden?«

»Was?«

»Ihr wollt, dass ich für Euch zu den Shem gehe und ein Viertelpfund Dämonenscheiße kaufe?«

»Das ist etwas deftig formuliert, aber es trifft den Kern der Sache.«

Lady Nachtauge packte ihre gebrandmarkte Brust ein und knöpfte ihr Kleid zu. Dann fuhr sie fort: »Morgen, gegen die siebte Stunde, wird Ion Ibn Shem, ein Magier des vierten Grades, auf dem Wazaar sein, um dort Waren zu verkaufen, die mit dem letzten Shem-Schiff eingetroffen sind. Ihr geht zu ihm und erwerbt für mich drei Tessari. Die für den Erwerb notwendige Summe von dreitausend Goldflamm händige ich Euch zuvor aus. Haben wir eine Übereinkunft?«

»Moment, nicht so schnell. Was würdet Ihr tun, wenn ich nicht mitspiele?«

Ihre Lippen wurden schmal. »Mein Geld eintreiben. Mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln.«

Flynn schüttelte den Kopf. »Ich glaube gern, dass Ihr Euch die besten Knochenbrecher des Schmiedeviertels leisten könnt. Aber ich sagte ja bereits, dass ich lieber wegzöge, als den Shem auf die Füße zu treten. Wenn ich die Stadt verlasse, dann könnt Ihr mir nichts. Eure Bluthunde würden mich nie finden.«

»Meine wohl nicht, nein. Aber die der Tomaari.«

Flynn merkte, wie sein Hals trocken wurde. Die Tomaari waren eine der Fünf Familien, genauer gesagt die, die das Südviertel kontrollierte.

»Was habt Ihr mit den Tomaari zu schaffen?«

»Wisst Ihr, wer Vara Tomaar ist?«

»Die älteste Tochter Leto Tomaars, des Familienoberhauptes.«

»Richtig. Vara Tomaar schuldet mir einen Gefallen.«

»Wie habt Ihr das geschafft?«

»Das tut nichts zur Sache. Aber falls Ihr Euch weigert, werde ich Vara meinen Schuldschein verkaufen.«

Flynn merkte, wie ihm die Knie weich wurden. Er war lange genug in Brae Flammar, um die unerbittliche Logik zu kennen, nach der das Verbrecherkartell der Fünf Familien funktionierte. Unter normalen Umständen hätten die Tomaari seinen Schuldschein niemals gekauft, denn er war kaum eintreibbar und somit eine schlechte Investition. Mithilfe des ausstehenden Gefallens konnte Orfamay Nachtauge die Tomaari jedoch zwingen, das Papier trotzdem zu erwerben.

Sobald sich der Schuldschein im Besitz der Familie befand, würde diese alles in ihrer Macht Stehende tun, um das Geld einzutreiben. Die Tomaari mussten so handeln, es ging schließlich ums Prinzip und um ihren unguten Ruf. Niemand durfte es wagen, einer der Fünf Familien Geld vorzuenthalten, das ihr zustand, niemand durfte damit durchkommen. Da Flynn kein Geld besaß, würden die Messermänner der Tomaari ihn ins Hafenbecken werfen – aber erst, nachdem sie ihn mit ihren Klappdolchen so klein geschnitten hatten, dass die Aale nicht einmal mehr zu kauen brauchten. Auch der Ausweg einer Flucht war ihm nun versperrt.

Flynn hatte erwogen, einfach in eine andere Stadt überzusiedeln, vielleicht nach Goltport oder Nyn. Die meisten normalen Gläubiger wurde man auf diese Weise los. Die Tomaari hingegen besaßen Verbindungen zu den Verbrecherorganisationen in allen anderen großen Städten. Wo auch immer er sich niederließ, man würde ihn dort jagen. Es war an der Zeit, die Waffen zu strecken.

»Danach bekomme ich den Schuldschein?«

»Dann bekommt Ihr ihn.«

»Gut, einverstanden.«

Orfamay Nachtauge erhob sich und streckte ihre Hand aus, nur um sie gleich wieder zurückzuziehen.

»Verzeihung, ich vergaß, wie sehr Elben diese Händeschüttelei hassen.«

Sie ging einen Schritt auf ihn zu und drückte ihre Stirn gegen die seine. Als sie ihm nahe kam, erhaschte Flynn etwas von ihrem Geruch. Er war süßlich, wie von zu viel pyronischem Rosenwasser, gepaart mit einer unterschwelligen Note, die ihn an fauliges Holz erinnerte.

»Soll ich mit der Ware herkommen, wenn ich fertig bin?«

Orfamay Nachtauge ging zum Kamin, auf dessen Sims ein Lederbeutel lag. Sie nahm ihn.

»Hier, dreitausend, in Edelsteinen. Und ja, so schnell es geht. Ich benötige die Tessari bis spätestens zur dritten Stunde nach Sonnenuntergang. Das ist sehr wichtig, versteht ihr? Sollte ich sie bis dahin nicht haben, betrachte ich unseren Handel als hinfällig.«

Flynn nahm den Beutel und das Amulett entgegen.

»Ich verstehe«, sagte er, »gehabt Euch wohl, Lady. Ich bringe Euch die Dämonensch… die Tessari.«

Mit einer Verneigung verabschiedete er sich. Eiligen Schrittes verließ Flynn das Wohnzimmer und öffnete die Vordertür. Eine salzige Brise traf sein Gesicht, als er die Stufen hinunterhastete und wehte den schweren Duft von Orfamay Nachtauges Parfum davon.

Grünblatt & Silberbart

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