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8 James kommt in Lindau an und trifft auf Sarah, Mathilda und Herrn Bertram

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Auch in Lindau geht er als erstes wieder in die Bahnhofsgaststätte um weitere Auskünfte zu erhalten, weil er Touristen, die mit der Verwahrlosung der Kleidung den gerade stattfindendenden Erholungsprozess des Trägers bewusst sichtbar machen nicht von Einheimischen, die immer so rumlaufen, unterscheiden kann, und daher auf seine Frage nach dem Grand Hôtel Bodensee nicht viermal hintereinander die Antwort hören möchte, dass wisse man auch nicht, man sei nicht von hier und man selbst würde mit Sicherheit ganz woanders wohnen.

Die Bahnhofsgaststätte, die in Lindau tatsächlich nur Bahnhofsgaststätte heißt, ist ein schmaler tiefer Schlauch mit einer sich im Dunkeln des Raumes verlierenden langen Theke, an deren Ende schemenhaft die Türe zu den Toiletten zu sehen ist. Gegenüber der Theke entlang der Wand stehen quadratische Tische mit jeweils 4 Stühlen, die allesamt unbesetzt sind, nur an der Theke sitzen zwei Männer Anfang 50, die gerade noch nicht als alt durchgehen, sie tragen T-Shirts, die sich über den Bierbäuchen wölben und kurze Hosen, und sie haben die zu dünnen Beine von chronischen Biertrinkern. Hinter der Bar steht eine dünne Frau, die die Theke als natürliche Barriere zwischen sich und den anderen sieht, quasi wie ein Schalterbeamter, oder wie Benni in seinem Kiosk, aber das weiß James noch nicht, dass Benni jetzt einen Kiosk betreibt. Die Frau hinter der Theke unterhält sich mit den Biertrinkern und erweckt nicht den Eindruck, als sei sie an der Anwesenheit von James sonderlich interessiert. Sie sprechen schwäbisch, in leicht näselndem Ton. James konnte schon als er noch klein war schwäbisch nicht besonders leiden, er empfindet die Nasallaute gegenüber den schönen klaren Vokalen des Westallgäuer Dialektes als Zumutung. Er bestellt ein Bier, die Frau fragt welches, und James sagt egal. Einer der Männer mischt sich daraufhin ein, das sei nicht egal, es gäbe große Unterschiede, aber James verweist darauf, dass er die letzte Zeit im Gefängnis gewesen wäre und ihm deshalb jedes Bier recht wäre, das nicht Pfälzer Hopfenperle hieße. Die Männer sind nicht besonders beeindruckt davon, dass er im Gefängnis war und murmeln was von ‚kenn ich nicht’. Er bekommt ein Kemptener Hofbräu. ‚Nicht schlecht’ sagt er, als er einen Schluck getrunken hat, mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung.

‚Wo bitte ist hier das Bodenseegrandhotel? fragt James die Frau hinter der Bar, die ihm knapp antwortet, das gäbe es schon lange nicht mehr, und dann das Gespräch mit den zwei Männern in den kurzen Hosen, und den dünnen Beinen von Biertrinkern, die an der Bar stehen und Bier trinken, wieder aufnimmt.

James schaut sich um, kann noch immer keine weiteren Gäste entdecken und formuliert um.

‚Wo war früher das Bodenseegrandhotel?’

‚Es heißt Grand Hôtel Bodensee. Gleich der dritte Kasten geradeaus den Hafen entlang’, antwortet einer der Biertrinker. ‚Ist aber zu’, ergänzt der andere. Die Frau hinter der Bar schaut statt James und die geschwätzigen Gäste missbilligend ihr Spülbecken an. James sagt danke, nimmt seine 2 Handkoffer und geht los. Aus der Musik-Anlage quillt Proud Mary von Creedance Clearwater Revival, als er die Bahnhofsgaststätte verlässt.

Zum Bodenseegrandhotel, oder Grand Hôtel Bodensee, sind es vom Bahnhof aus noch etwa 200 Meter, und James stellt sich vor, dass das Gefühl, fremd und allein im Sturm in der Nacht, der Regen peitscht ihm waagrecht ins Gesicht, wie Nadelstiche, mit den Koffern in der Hand, direkt am tosenden See aus weißem Schaum, gebeugt sich zu dem hell beleuchteten Hotelkasten aus dem 19. Jahrhundert durchzukämpfen und gleich durch eine messingbeschlagene Türe in ein Grandhotel zu treten, mit loderndem Kaminfeuer und weichen Sesseln, in denen Zeitung lesende Reisende sitzen, dass dieses Gefühl einfach überwältigend sein muss.

Es ist ein milder Augustabend, der Bodensee liegt völlig ruhig und schwarz. Er findet das Grand Hôtel Bodensee sofort, es ist das einzige Gebäude am Hafen, das völlig im Dunkeln liegt, kein einziges der Fenster ist beleuchtet, das Haus wirkt bedrohlich und geheimnisvoll zugleich, ein gewaltiger 6-stöckiger Kasten mit Balkonen zum See, über hundertvierzig Jahre alt, mit einem neueren zweigeschossigen Anbau, wo vorher einmal der Garten des Hotels gewesen war. Er erreicht die erwartete messingbeschlagene Drehtüre, wenigstens die gibt es wirklich, denkt er, sie ist nicht verschlossen, und er geht hinein. Er kommt in einen Vorraum, im Licht der Straßenlaternen, das durch die Glastüre fällt, erkennt er zerschlissene braune Ledersessel, die um einen offenen Kamin platziert sind, in dem einige mit Asche bedeckte angekohlte Holzscheite liegen. Auf jedem der Sessel liegt etwas anderes, Zeitungen unbestimmten Alters, eine wohl dunkelblaue Strickjacke, eine Kehrschaufel. Es riecht muffig. Er geht weiter in die Halle, in der sich die Rezeption befindet. Alle Schlüssel bis auf 2 hängen am Schlüsselbrett. Er sieht Licht durch einen Türspalt, und hört Musik.

Er geht hinein in einen Raum, der früher einmal die Bar gewesen ist und jetzt immer noch die Bar ist, nur dass die Regale leer sind bis auf einen Mülleimer, etwas Gerümpel, das sich angesammelt hat, einer völlig unangebrochener Flasche Racke Rauchzart und einer halbleeren Flasche Lufthansacocktail, die in einer Ecke stehen. Auf der Theke stehen zwei mehrarmige Kerzenleuchter, auf einem Tisch und auf einem Klavier stehen zwei weitere.

In den gleichen dunklen zerschlissenen Ledersesseln wie im Vorraum sitzen zwei Handvoll Leute. James wartet, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben und schaut in die Gesichter, die alle ihm zugewandt sind und ihn ihrerseits neugierig anblicken. Er kennt die Gesichter nicht, bis auf eines, das seinem Nachbarn Benni* gehören könnte, James ist sich nicht sicher, er hat ihn das letzte Mal gesehen als er selbst 18 und der Nachbar 21, 22 Jahre alt war, das Kerzenlicht ist nicht sehr genau, es verwischt die Konturen und zeichnet alle Gegenstände, die es beleuchtet, weich. Er sagt erst einmal nichts, sondern schaut weiter die Menschen an, während die weiter ihn anschauen.

Er sieht eine Frau in James Alter, offensichtlich die Frau von Benni, vor ihr liegt ein Foxterrier auf der Seite und streckt ihr die Vorderpfote entgegen, die sie hält, dahinter sitzt ein Mädchen, daneben eine kleine ältere Frau mit Edith-Piaf-Frisur, ein ebenfalls älterer Mann im Anzug mit einem weißen Schnurrbart, der an dem Klavier sitzt, und an der Theke stehen ein großer Mann mit Bart, Mitte Ende 50 und zwei fast genau so große, aber dünne Mädchen mit dunklen krausen Haaren, offensichtlich Schwestern.

Er sieht außerdem 3 Flaschen Havanna Club und eine angebrochene Kiste Bier davor auf dem Boden stehen.

‚Wir haben geschlossen’, sagt das Mädchen.

‚Alles besetzt’, ergänzt der ältere Mann am Klavier.

‚Was jetzt, geschlossen oder voll’? fragt James.

‚Beides’ antwortet das Mädchen.

‚Beides geht nicht’ sagt James.

Die ältere Frau steht auf, dreht den MP3 Spieler leise und beginnt ein Lied von Bryan Ferry zu singen, der ältere Mann setzt am Klavier ein, und nach einer halben Strophe fällt sie um. Niemand der Anwesenden zeigt eine Reaktion.

‚Wenn sie tot ist, dann ist jetzt doch was frei’, denkt James, was er aber natürlich nicht laut sagt.

‚Gibt es etwas zu feiern’? fragt er stattdessen und tut ebenfalls so, als habe er nichts bemerkt.

‚Wir feiern Abschied.’

‚Wir haben gehört, mein Vater hat das Hotel verpachtet’, ergänzt das Mädchen.

‚Und jetzt trinken wir darauf, dass bald ein dynamischer Jungunternehmer hereinkommt und uns rauswirft.’

‚Obwohl wir lebenslanges Wohnrecht haben’, ergänzt die ältere Frau, die doch nicht tot ist, vom Fußboden.

‚So etwas würde ich nie machen’, sagt James, woraufhin allgemeines Gemurmel ansetzt, von wegen, da haben wir ja noch einmal Glück gehabt.

‚Ich habe gleich gesagt, der taucht noch am selben Tag auf, an dem er entlassen wird’, sagt der ältere Mann am Klavier. ‚Wahrscheinlich hat er kein Zuhause.’

James nickt. ‚Wie lange wisst ihr schon, dass ich komme?’

‚Schon seit ein paar Monaten’, antwortet die junge Frau, ‚und Du?’

‚Seit heute.’

James wird aufgefordert, gleich über die Zukunft zu sprechen und bekommt ein Glas Rum.

‚Welche Zukunft?’

‚Unsere natürlich.’

‚Du’, sagt er zu dem Mädchen, ‚Du übernimmst die Rezeption.’

‚Sarah, die Tochter, danke’, sagt das Mädchen.

‚Ihr Schwestern macht die Betten’, sagt James zu den Zwillingen, die im Frühjahr das Abitur gemacht haben und nun darauf warten, dass ihnen einfällt, was sie tun könnten.

‚Du hast sie wohl nicht mehr alle’ sagen sie synchron zu James, denn Betten machen gehört nicht in die Auswahl möglicher zukünftiger Betätigungen von Abiturientinnen. ‚Außerdem sind wir Zwillinge. Eine heißt Anne und eine Ulla, es ist aber sinnlos, sich merken zu wollen, wer welche ist, also lass es gleich.’

‚Dann eben die Rezeption, und Sarah wird Geschäftsführerin. Und Du,’ zur älteren Frau gewandt, ‚wirst abends in der Bar singen, ohne dabei umzufallen. Schaffst Du das?’

‚Mathilda, die Mutter’, stellt sie sich vor, ohne dazuzusagen, von wem. ‚Wir werden Geld brauchen.’

‚Die Mutter von wem’? denkt James.

‚Meine Mutter denkt immer praktisch’ löst Sarah das Rätsel auf.

‚Dann kann sie tagsüber das Büro mit übernehmen. Der Klavierspieler wird dabei helfen.’

‚Und Du, was machst Du bei der ganzen Geschichte?

James schaut sie erstaunt an. ‚Ich bin natürlich hier der Frühstücksdirektor’! ruft er, als ob damit alles gesagt wäre.

‚Geld’ erinnert Mathilda.

‚Die Bank’ sagt der ältere Mann am Klavier, ‚gestatten, Herr Bertram.’

‚Verzeihung, sagt James, ‚ich heiße James. Bank kommt nicht in Frage.’

‚Weil, wer die Schulden kontrolliert, der kontrolliert das ganze Hotel’ stimmt ihm Sarah zu und James fragt sich, woher sie das weiß.

‚Dann muss eben Benni Geld besorgen’ schlägt James vor, ‚so etwas kann er.’

‚Hallo Hans’, sagt Benni und verbessert sich sofort, ‚um Vergebung, natürlich James. Lange nicht gesehen.’

James fragt Benni, wie es ihm geht und was er so macht, und Benni erzählt, dass er jetzt einen Kiosk betreibt am Stadtplatz in Lindenberg, Tabak und Zeitschriften, und Süßigkeiten, und stellt ihm dabei noch seine Freundin Trisch vor.

‚Und davor?’

Benni sagt, es täte ihm leid, aber darüber könne er ihm nichts erzählen, nicht, weil es geheim sei, er habe das nur völlig vergessen*.

‚Was macht der Dicke’? fragt Franz und meint sich damit. James entschuldigt sich, dass er ihn übersehen habe, was vorkommen kann, wenn man am gleichen Tag aus dem Gefängnis entlassen wird und ganz wo anders ein Grandhotel aufmacht.

‚Wie wäre es mit Küche?’

Franz lacht, sagt, das sei eine rhetorische Frage gewesen und teilt ihm mit, dass er Künstler sei und keinesfalls kochen könne, selbst wenn er Zeit hätte, was er aber nicht hat. James fragt ihn nach Bildern mit Segelbooten, die er im Salon aufhängen könnte, aber Franz antwortet, er male seit einiger Zeit nur noch Kühe, das habe sich als das Beste herausgestellt. Für wen oder was das Beste sagt er nicht, und James fragt nicht weiter nach, auch weil er keine Bilder von Kühen im Salon des Grand Hôtel Bodensee aufhängen will.

‚Um den Nachtportier und die Kellner kümmere ich mich dann, ebenso um die Küche. Und um die Zimmermädchen’ ergänzt James und schaut zu den Zwillingen, die aber demonstrativ wegsehen.

‚Dann bleib eine Weile’, sagt Mathilda poetisch, ‚wir sind ohnehin nur eine weitere Station auf Deiner Reise.’

‚Wo kann ich wohnen’, fragt James noch, und das Mädchen sagt, ‚wo Du willst. Wir haben nämlich gelogen, es sind doch noch Zimmer frei. Nur nicht die Zimmer 45 und 46, da wohnen meine Mutter und ich.’

Das Mädchen gibt James eine Kerze.

Sie verabreden, sich ‚am nächsten Tag’ wieder zu treffen, stehen auf und verteilen sich in kleinen Gruppen in der Bar.

James fragt noch, ob sie die Stromrechnung nicht bezahlt hätten, ‚Nein’, antwortet sie, ‚wir haben sie bezahlt, oder genauer Herr Bertram, der bislang immer alle Kosten getragen habe, es ist vielmehr so, dass die ganze Elektrik marode ist und gelegentlich ausfällt.’

James sagt, da müsse er wohl morgen einen Elektriker bestellen und geht langsam Richtung Rezeption.

‚Er kann gerne eine Weile bleiben, aber das mit dem Hotel, das wird nie was’, meint Mathilda zu Sarah, die nickt und auch Herr Bertram, der daneben steht, nickt, obwohl er gar nicht angesprochen wurde, weil, wenn das was werden würde, müssten sie sich schließlich fragen, warum sie nicht schon längst das Grand Hotel selbst betrieben hätten.

‚Viele Menschen hätten sich niemals verliebt, hätten sie nicht andere darüber sprechen gehört, das heißt auch, viele Hotels wären nie betrieben worden hätte nicht jemand erwähnt, man könnte doch ein Hotel aufmachen’ meint Herr Bertram und schenkt sich aus der Rumflasche nach.

‚Wer sagt das?’

‘Francoise de la Rochefoucault’ antwortet Herr Bertram.

Allgemeines ‚kenn ich nicht’ setzt ein.

‚Salut’, sagt Mathilda und hebt ihr Glas an. ‚Trinken wir auf was auch immer. Hat noch wer Zigaretten?’

‚Und, wird es was’? flüstert Trisch Benni ins Ohr. ‚Er kommt mir nicht so vor, dass er es schafft.’

‚Er nicht, aber die anderen. Er wird ihnen die Kraft geben, die er selber nicht hat.’

‚Ich kenne ihn’, fügt er dann noch hinzu und nickt zur Bestätigung.

Franz und die Zwillinge sagen nichts und machen auch keine Kopfbewegung.

‚Ihr werdet Euch jetzt vielleicht fragen, warum Ihr nicht längst selbst das Hotel betrieben habt’ ruft James von der Türe aus in den Raum. Alle drehen sich nach ihm um.

‚Ja, warum nur’? murmeln sie.

‚Weil ein Grandhotel ohne Frühstücksdirektor einfach unvorstellbar ist’ sagt er noch, dann geht er entgültig schlafen.

Sarah dreht die Musik wieder lauter, Los Lobos, Will The Wolf Survive.

*Die Person des Benni ist im Buch ’Kuhland’ näher beschrieben.

*Weiß auch Nietzsche, dass es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben kann ohne Vergesslichkeit, denn ‚Vergesslichkeit ist keine bloße via inertise, wie die Oberflächliche glauben, sie ist vielmehr ein aktives (..) positives Hemmungsvermögen’.

o.T., 2014

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