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3 Hans heißt James und lebt jetzt in London, Willi heißt Willem und lebt in Amsterdam.

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Hans lebt jetzt in London und heißt nicht mehr Hans, er nennt sich James. Er wohnt eine Zeitlang in Islington in Untermiete in einem dieser englischen Reihenhäuser, wie es sie nirgendwo sonst auf der Welt gibt, nur in England, dort dafür aber überall, bei einer Künstlerin, von der er alles über Kunst lernt, aber über weitere Wohnorte ist nichts bekannt. Er hat Kontakt zur Punkszene und über seine Mieterin zu den Britpopmalern, was ihn dazu bringt, Kunst als bürgerlichen Unfug fortan abzulehnen, sowie zu militanten Muslimen, woraufhin er feststellt, dass Religion etwas ist, was er nicht begreifen wird und es deshalb tunlichst auch nicht versucht.

Er lernt in England, dass sich in England wohnende Leute sehr wohl fühlen, wenn es gemütlich ist. Gemütlich ist es, wenn das bekannte englische Reihenhaus vollgestopft ist mit Krimskrams bis oben hin, das Aufräumen über längeren Zeitraum vermieden wurde, wenn das Kaminfeuer brennt, als Heizmaterial eignen sich Holz, Kohlen, gebrauchte Windeln etc, und wenn die Besucher ausreichend Alkohol mitbringen.

Und er lernt große Gesten zu lieben, die auf halbem Wege wieder in Frage gestellt werden und dann ins nichts laufen. Kurz gesagt, er lernt, was er immer werden wollte, Bohème.

Willi geht nach Amsterdam, heißt jetzt Willem und lernt auf hart. Er wird Türsteher in einem Nachtklub, dann wird er Geschäftsführer in einem Nachtklub, Er arbeitet sich hoch, bis er Besitzer mehrerer Nachtclubs ist, in den Salons der Politik, Justiz und Wirtschaft verkehrt, Netzwerke aufbaut, und über einen Stab von mehreren Hundert freien Mitarbeitern verfügt, auf mehrere Untergruppen verteilt, und eine kleine Gruppe meist vorbestrafter Männer geringerer intellektueller Kapazität, die von Willem und seinem Stab geführt Angriffe anderer Gruppen aus vorbestrafter Männer geringerer intellektueller Kapazität auf sein Nachtklubimperium vor Ort abwehren, noch bevor das Netzwerk aus den Salons greift.

Es geht immer weiter aufwärts, bis es irgendwann wieder abwärts geht. Er geht rechtszeitig vor dem Absturz nach Berlin, nachdem Berlin die deutsche Hauptstadt geworden war und viele Firmen von Amsterdam nach Berlin umgezogen sind oder gerade dabei sind, er will sich in der Nachtklubszene zu etablieren, er übernimmt eine Russendisko der DDR, in denen nun noch die amerikanischen und britischen Soldaten verkehren, bald aber die Zivilisationszerstörer aus den Entwicklungsetagen nachziehen werden, ist dort anfangs aber wenig erfolgreich.

Möglicherweise unterschätzt er dabei auch den Verdrängungswettbewerb, der damit einsetzt, dass nun mehr Agierende einen größeren Kuchen verteilen und setzt zu sehr auf die Kraft des noch immer präsenten Militärs. Es gelingt ihm nicht, rechtzeitig wieder sein Netzwerk aufzubauen, rechtzeitig, bevor James dann später seinen einzigen Nachtklub in die Luft sprengen wird und er wieder von vorn anfangen muss.

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Denn James taucht plötzlich nach fünf Jahren London ebenfalls in Berlin auf, verheiratet mit einer Deutschen, die er in London kennen gelernt hat. Sie mieten sich eine 8-Zimmer Wohnung aus der Gründerzeit, mit Ausgängen in zwei Treppenhäuser, von denen seinerzeit in den goldenen 20er Jahren eines als Dienstbotenzugang gedacht war, bezahlen die Kaution und sind anschließend pleite.

Am Morgen des 5. Tages nach seiner Ankunft in Berlin um 7 Uhr 43 morgens bekommt er einen Anruf von seinem Bruder Willem, der ankündigt, ihn zu besuchen. James geht in die Küche, setzt die damals übliche Espressokanne aus Aluminium auf und als der Kaffee durchgelaufen ist klingelt Willem bereits an der Türe. Willem trägt einen Ledermantel, der am Boden schleift.

‚Du kommst früh’ begrüßt er ihn, ohne weiter darauf einzugehen ob früh nach fünf Tagen oder früh um jetzt 7 Uhr 55. ‚Wie hast Du mich gefunden?’ Willem macht eine abwehrende Handbewegung. Sie trinken Kaffee, schweigend, wie sie es früher schon gemacht haben als Kinder, dann bietet Willem James an, mit ihm zusammen zu arbeiten.

James lehnt ab, leiht sich aber 5.000 Mark von Willem.

Aus London kennt sich James aus mit den Sitten und Gebräuchen von Gesellschaften am Rande der Gesellschaft und er bewegt sich mühelos in solchen und solchen, ohne sich selbst als Teil davon zu verstehen. Er schreibt sich an der Kunstakademie ein und lernt Motorradfahren, das er in den Gängen der Akademie übt. Malen lernt er nicht, aber in seiner Berliner 8-Zimmer Wohnung gründet er unablässig Organisationen bildender Künstler, aus denen ihn die anderen Mitglieder dann später per Mehrheitsentscheid wieder rauswerfen werden. James selbst fehlt jede Affinität zu Mehrheitsentscheidungen.

Seine Frau wirft ihm vor, es zu nichts gebracht zu haben. James antwortet, er finge eben im Leben alles anders an als andere, weshalb ihm eben auch wenig gelingt, das sei ganz normal.*

Statt es zu was zu bringen zieht es James vor, mehr als 20 Jahre nach dem Ende der RAF den antiimperialistischen Kampf neu zu inszenieren, quasi als Revival, nur diesmal als absurdes Kunstwerk.

Nachdem ihn daraufhin seine Frau nach mehreren Anläufen entgültig verlässt, wobei er erstaunt feststellt, dass er den Verlust der Mutter, zu der er nie ein besonders inniges Verhältnis gehabt hat, nicht wirklich verarbeitet hat, unternimmt er Studienreisen, aber der Libanon und der Südjemen sind bereits überlaufen oder passé, und so fährt er in die Anden und in die Westsahara. Er lernt den Umgang mit verschiedenen Waffen, mit der Uzi, ‚Gießkannenprinzip’ sagt er dazu verächtlich, und mit der Kalaschnikow, zu der er in den Anden sagt, das sei mehr eine Waffe für Kameltreiber, in der Sahara lässt er den Ausdruck Kameltreiber weg. Er versucht zu lernen, mit zwei Walter PPK beidhändig zu schießen, dann mit einer Glock mit Magazin für 33 Schuss, und rennt damit zwischen Schießscheiben herum, aber als er auch nach Wochen nicht trifft entscheidet er sich gegen Schusswaffen und für Sprengstoff. Sprengstoff erscheint ihm nun als genau das Mittel, die Welt zu verlangsamen.

Er lernt alles über Nitroglycerin, Zellulosenitrat, Ammoniumnitrat, Natriumnitrat, über Rohre und Zünder.

Eine Gruppe zorniger Frauen und Männer schart sich um ihn, allesamt gebildete freundliche Leute, die hilflos mit aufgerissenen Augen eine Abscheulichkeit nach der anderen ins Auge fassen und analysieren, die nächtelang darüber diskutieren, um dann nicht zu wissen, was sie mit ihrem Wissen anfangen können, wie damit umzugehen, wodurch sich etwas ändern lässt. James lässt sich nicht darauf ein, bleibt den Diskussionen fern, interessiert sich nicht für Politik. James ist nur daran interessiert, dass die Zukunft nicht zu interessant zu werden verspricht.*

Bei seinen Sprengstoffexperimenten im Ausland trifft James einen großen hageren Mann mit Halbglatze*, der ebenfalls in Sachen surreale Satire unterwegs ist und der ihm rät, bei den Einrichtungen der Alliierten anzusetzen, denn die wären nicht so gerne gesehen, und dass der Innensenat ihn dabei gerne mit Material und sachdienlichen Hinweisen unterstütze.

Wieder zu Hause trägt James der Gruppe zorniger junger Männer und Frauen die Strategie vor, die er auf dem Rückflug auf den Servietten des Bordservice der Lufthansa entwickelt hat. Nachdem er seine Ausführungen beendet hat stellen sie gemeinsam fest dass er auch keine Ahnung hat und schicken den Jüngsten los, Bier und Zigaretten zu holen. Mit Hilfe von Bier und Zigaretten einigen sie sich auf die vom Fernsehen bekannte konventionelle Vorgehensweise, Schlüssel besorgen, ermitteln wann leer, Fluchtweg 1 + 2 ermitteln, das übliche. James findet das nicht originell genug, im Sinne eines Kunstwerkes, kann sich aber nicht durchsetzen.

Sie sprengen dann zuerst das Hard Brake in die Luft, und als das ohne Zwischenfälle reibungslos klappt folgt das Amber Eyes.

Als es so weit ist, die Vorbereitungen abgeschlossen, betritt James durch den Hintereingang die Diskothek, die da noch Diskothek heißt und nicht Club, wartet mit der Alditüte in der Hand, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben, dann geht er langsam Richtung Theke, stellt die Tüte ab, schaltet den Zünder ein. Er denkt, dass noch genügend Zeit sei, ein Glas Rum zu trinken und sieht 34 Rumsorten im Regal, und entscheidet sich schließlich für Saint James Réserve Privée, aus Martinique. Als James dann auf dem Rückweg den Lieferantenausgang erreicht hat legt sich ihm ein Arm von hinten um dem Hals. James stampft mit der Ferse auf den Fuß und mit dem Ellenbogen gegen die Rippen des Angreifers und haut ihm mit dem Hinterkopf gegen die Nase, ganz schnell, und der Arm lockert sich und James dreht sich um.

‚James’? sagt Willem. Es klingt wie ‚Mbs’.

Die Auswahl des Rums aus 34 Sorten hat länger gedauert als geplant, und James hat jetzt keine Zeit, seinerseits erstaunt zu sein, schon wieder Willem zu treffen. Er packt ihn am Arm.

‚Raus hier’ schreit er und sie rennen los, Willem trotz gebrochenem Zeh ohne zu humpeln, dann werden sie noch schneller, als die Druckwelle der Explosion die beiden von hinten erfasst und gegen die Fassade der gegenüberliegenden Schaufenster der Ladens für Literatur im Grenzbereich wirft. Die Scheibe hält dem Aufprall stand, nicht aber der Hinterkopf von Willem, der zu Boden sinkt. James prüft den Puls, stellt fest, dass er fest ist und es sich um eine vorübergehende Ohnmacht auf Grund besonderer Belastungen des Organismus handelt.

‚Tut mir leid’, murmelt er.

Es ist das letzte Mal für mehr als 3 Jahre dass er seinen Bruder sieht.

James geht nach Hause und teilt der Gruppe zorniger junger Männer und Frauen mit, dass er ab sofort aus dem Verein für surreale Satire austrete. Da aber surreale Satire nur wirkliche surreale Satire ist, wenn sie auch ernst genommen wird, landet James im Gefängnis*.

James will die Welt anhalten, aber die Welt hält ihn an.

*Um 5 Uhr 43 sitzt Helena auf der Toilette in James’ Wohnung, und weil die Toilette in der 9 Zimmer Altbauwohnung nicht beheizt ist lässt sie die Türe offen. James und die anderen vier Mitbewohner schlafen. Sie hört leise Stimmen vor der Wohnungstüre, beendet umgehend ihr Geschäft und weckt sofort alle auf. Sie raffen an Kleidern, was gerade greifbar herumliegt, und rennen zur Dienstbotentreppe, als an die Türe gehämmert wird und ‚Aufmachen Polizei’ gerufen wird.

In einem Anflug von Opferbereitschaft, die er sich dann im Nachhinein nicht mehr erklären konnte, lässt James Hose und Jacke fallen und ruft ‚Sofort, ich zieh mir nur schnell was an.’ Dann hebt er Hose und Jacke wieder auf, holt das dazu noch erforderliche Hemd und zieht alles an. Er wartet, bis auch alle weg sind, und öffnet dann die Türe für die sofort hereinströmenden Polizisten. Er zählt 12 Stück und stellt später fest, als sie ihn abführen, dass vor der Türe an beiden Hauseingängen noch je 4 postiert sind.

Seine Mitbewohner laufen derweil leise in nicht vollständiger Oberbekleidung über Schlafanzug oder Nachthemd, einer barfuß, zwei mit Hausschuhen und einer mit Socken und einem Halbschuh die Dienstbotentreppe hinauf, um vom Speicher ins Nachbargebäude zu gelangen und von dort über die Querstraße zu verschwinden, ein längst vorbereiteter Fluchtweg.

*’Mögen Sie interessante Zeiten erleben’ gilt in China, ungeachtet oder aktuell auch gerade wegen der Realität, bis heute als beliebte Drohung.

*gemeint ist Dieter Kunzelmann

o.T., 2014

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