Читать книгу Gedanken im Kofferraum - Tomas de Niero - Страница 10

HABE ICH EINE MACKE?

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Wo sind wir wohl gerade? Fahren wir jetzt vielleicht an unserem Haus vorbei, vorbei an dem Schmuckgeschäft »Uhrenengel«, das sich unten im Haus befindet? Vorbei an meinen Brüdern, an Oma, die nicht das Geringste ahnen?

Es riecht plötzlich komisch hier drin. Können die Abgase in den Kofferraum gelangen? Wir halten, ah, vielleicht steht so ein Trabi-Stinker neben uns. Mein Onkel Fritz hat so ein Ding und nimmt uns manchmal mit zum Angeln. Ja, genau so riecht es jetzt hier drin. Wir fahren wieder, und der Gestank verschwindet. Mir tut die ganze rechte Seite weh, auf der ich liege, aber umdrehen geht nicht. Beschäftige dich! Denk über was nach!

Ein bisschen dösen wäre am besten. Nein, lieber nicht, nachher fange ich noch an zu schnarchen und gehe als der dämlichste Republikflüchtling aller Zeiten in die Geschichte ein!

Ein komisches Wort, »Republikflüchtling«, aber das genau waren wir wohl nun, Mama und ich. Im Osten Verbrecher, und im Westen? Werden die uns da wirklich so herzlich empfangen, wie es ständig im Westfernsehen verbreitet wird? Bekommen wir da eigentlich eine Wohnung? Finanzielle Hilfe?

Man hört ja auch ständig von Problemen da drüben. So ganz ohne ist es da auch nicht. Der Berliner CDU-Vorsitzende Peter Lorenz wurde von so ein paar Spinnern entführt, ein RAF-Kommando überfiel die BRD-Botschaft in Stockholm, und über eine Million Leute haben keine Arbeit. Aber was soll’s, man kann ja einfach woanders hinreisen, wenn’s einem nicht gefällt, oder?

Ich muss husten. Nicht laut, aber hier drin kommt es mir vor, als hätte ich geschrien. Ich versuche, ganz gleichmäßig zu atmen, und beruhige Mama durch erneutes Klopfen auf die Schulter. Mann, bleib cool und beschäftige dich mit irgendwas, spreche ich mir selbst Mut zu. Scheißzigaretten, die muss ich mir da drüben sofort abgewöhnen! Schmeckt mir ja eigentlich sowieso nicht, aber was tut man nicht alles, um Mädchen zu gefallen.

Ich wuchs als sogenanntes Künstlerkind in Ostberlin auf. Die meisten meiner Klassenkameraden hatten Eltern, die Ihren Lebensunterhalt mit regelmäßiger Arbeit verdienten, als Elektriker, Handwerker, Fabrikarbeiter, Büroangestellte, Staatsdiener und was es sonst so gab. Ich war in meiner Klasse das einzige Kind von »bekloppten« Eltern, die nicht Parteimitglieder waren und auch noch die meiste Zeit des Jahres über kein regelmäßiges Einkommen verfügten. In gewisser Weise wurde ich von meinen Klassenkameraden dafür zwar verehrt und vielleicht auch ein bisschen beneidet. Dafür, dass meine Eltern so herrlich verrückt aussahen und so anders waren. Aber meistens ließ man mich einfach spüren, dass ich ein Außenseiter war. Ein Kind ohne Zirkel, ohne gut sortierte Schreibutensilien, das die ausgetretenen Schuhe des älteren Bruders auftragen musste und als Pausenbrot wochenlang Stullen mit Margarine und Senf darauf aß. Oder hartgekochte Eier. Das würde nun im Westen endgültig aufhören. Nie wieder Senf! Eier nur zum Frühstück! Ich will mich nicht beklagen, aber meine Außenseiterstellung und die immer angespannte wirtschaftliche Situation zu Hause prägten mich. So entwickelte ich schon sehr früh gewisse Macken.

Immer wenn ich auf der Straße mit dem linken Fuß auf eine Linie im Straßenpflaster trat, zog ich sofort mit dem rechten nach, um auch damit eine Linie zu treffen. Berührte ich etwas mit der rechten Hand, musste auch die linke etwas anfassen. Das fing im Heim an und ging bis zur dritten Klasse so. Warum ich das tat? Keine Ahnung, vielleicht war ich harmoniebedürftig, da mein Leben in dieser quasi elternlosen Zeit so unstet war.

Ich kann mich auch erinnern, dass ich mich beim Einschlafen immer von einer Seite auf die andere wälzte. Eher ein Hin- und Herschleudern des Oberkörpers, das Mama »rackeln« nannte. Das stellte ich erst mit Eintritt in die Schule ein.

Wann hatte das eigentlich begonnen? Nun kehrt die Erinnerung an ein Ereignis in meiner Vorschulzeit zurück. Waren meine Macken oder wenigstens eine vielleicht darauf zurückzuführen?

Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war, wahrscheinlich sechs Jahre, meine kleine Schwester war bereits von uns gegangen und ich gerade in die Schule gekommen. Übers Wochenende hatten wir einen Babysitter. Meine beiden Brüder schliefen im sogenannten Balkonzimmer und ich allein in dem anderen Kinderzimmer. In dem Raum standen zwei Betten einander gegenüber, ich lag auf dem rechten und döste schon ein wenig, als das Mädchen, die achtzehnjährige Tochter eines bekannten Karikaturisten, mich an der Schulter berührte und mich in ein Gespräch verwickelte. Irgendwann forderte sie mich auf, zu ihr unter die Decke zu schlüpfen. Danach erinnere ich mich an Folgendes:

Sie lag auf dem Rücken, ich neben ihr, ihre schwarzen Haare berührten mein Gesicht. Sie plapperte von allem Möglichen, ich wurde sehr schläfrig, als sie meine Hand griff, zu ihren Brüsten führte und dort kreisen ließ. Dabei sprach sie mit belegter Stimme unaufhörlich weiter. Mich erinnerte das an meine heiß geliebten Märchenfilme, in denen die Hexen auch immer so sprachen. Ich spürte etwas Hartes an ihrer Brust, und sie gab unverständliche Geräusche von sich. Dabei bewegte sie sich merkwürdig, bäumte sich auf und die Decke verrutschte. Ich bemerkte, dass sie völlig nackt war. Ich lag da wie gelähmt, wagte kaum Luft zu holen und ließ es einfach geschehen. Sie dirigierte meine Hand zwischen ihre Beine, sie hatte ziemlich viele Haare. Spätestens jetzt verwandelte sich meine Neugier und Aufregung in wilde Ablehnung.

Ich riss mich trotzig los und sprang wieder in mein Bett hinein. Nach einem letzten verstohlenen Blick auf ihren nackten Körper, als sie ins Bad ging, schlief ich unruhig ein. Würde ich es meinem Vater erzählen? Eher nicht. Mama? Die bringt die um!

Den Jungs, niemals.

Durch die nächtlichen Brüllattacken meines an- oder betrunkenen Vaters war ich auch zu einem chronischen Lauscher geworden, zunächst mehr aus Sorge um Mama als aus Neugier. Etwas mit anzuhören, was gar nicht für meine Ohren bestimmt war, gab mir einen kleinen Kick – und verschaffte mir oft einen Wissensvorsprung, den ich gern und gut zu nutzen wusste.

Meine »positivste« Macke war, dass ich jeden Abend vor dem Einschlafen alles, was sich am Tage so ereignet hatte, noch mal im Kopf durchlebte. Nur dass ich diesmal ganz allein Regie führte! Ich konnte jede Situation, die mir missfallen hatte, in meinem Kopfkino verändern und den Ausgang nach Belieben so manipulieren, dass ich am Ende mindestens als Sieger, wenn nicht sogar als Held dastand! So gewann ich im Nachhinein jede Schulhofprügelei, bot meinem Vater die Stirn, faltete ihn nach Belieben vor Mama zusammen und schlug ihn manchmal sogar k. o.

Das plötzliche Stöhnen meiner Mutter bringt mich schlagartig zurück in die Enge des Kofferraums. Sie streckt sich ganz langsam, erst die Beine, dann den Kopf, als versuche sie, ihren Hals zu verlängern. Ich lausche gespannt, denn mir ist kurz so, als hätte ich Stimmen gehört. Ist das unser Fahrer? Aber der Motorlärm und die Geräusche der Straße, die von außen an meine Ohren dringen, sind zu laut. Mama hat sich beruhigt und klopft mir ganz leicht auf den Oberschenkel, als Zeichen dafür, das alles in Ordnung ist.

Ich hätte jetzt gerne eine geraucht. Mama bestimmt auch! Wo sind wir jetzt?

Wir haben uns zur Vorbereitung auf diesen Wahnsinn natürlich mehrfach eine Karte von Berlin und Umgebung angesehen, aber meine Fähigkeiten, mir etwas räumlich vorzustellen, halten sich sehr in Grenzen, wie mein Geografielehrer schon in der Schule bemerkte.

Vielleicht kommen wir an Menschen vorbei, die an Straßenbahnhaltestellen warten und unserem Wagen nachsehen, denn das rote Autokennzeichen verrät, dass es sich um einen Diplomatenwagen handelt. Vielleicht hängen sie ihren Traum, in den Westen fahren zu dürfen, mit an unsere Stoßstange.

Mein Kopfkino öffnet in diesem Moment und ich stehe am Straßenrand und sehe unseren Wagen an mir vorbeifahren. Ich kann mich selbst mit Mama darin liegend erkennen, denn das Auto ist aus Glas, völlig durchsichtig. Ich winke in meinem Tagtraum mir selbst zu und muss fast loslachen, kann mich aber im letzten Moment zusammenreißen. Nur ein leises Glucksen verlässt meine Kehle.

Ich lasse meine Gedanken wieder in die Vergangenheit schweifen.

Im Zimmer meiner zweiten Freundin Marlies sah es DDR-untypisch aus. Che Guevara hing als Riesenposter an der Wand, gleich daneben die Rolling Stones, Frank Zappa saß auf einem weiteren Poster auf dem Klo, und überall standen leere Flaschen herum. Mitten im Zimmer befand sich eine Sitzgruppe, bestehend aus einem Tisch, einer ziemlich ramponierten Couch und einem Omasessel. In Letzterem saß ich, meiner neuen Angebeteten gegenüber. Marlies hatte wilde blonde Haare, eine Halskette mit dem Peacezeichen, das wie ein verunglückter Mercedes-Stern aussah, und ein kleines Tattoo auf dem Hintern. Und sie hatte Kontakte zur Rockszene hier in Prenzlauer Berg. Daher kam sie ab und zu auch an Drogen ran, die ein arabischer Musiker aus Westberlin illegal einführte. Die Hauptdroge bei uns war Alkohol. Eigentlich soff fast jeder. Haschisch war sehr selten zu haben.

An diesem Abend hatte sie einen Joint, den wir zusammen rauchten. Ich stand mit ihr am Fenster und blies den Rauch hinaus in die Dunkelheit der Straße.

Erst passierte nicht viel, aber dann ging es los. Ich hatte große Mühe, mich wieder in den Sessel fallen zu lassen, meine Sinne schwirrten wild umher. Ich hätte das Zeug nicht nehmen sollen. Sie war einiges gewöhnt, vom Schnüffeln an Fleckentfernern bis hin zu irgendwelchen Tabletten. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, gab dies aber sofort wieder auf, da ich mich plötzlich so fühlte, als würde ich wild Achterbahn fahren. Minuten vergingen so. Das Zeug wärmte meine Beine und alles dazwischen. Nachdem die Achterbahn zum Stillstand gekommen war, erhob ich mich mühsam und schwankte in Richtung Badezimmer. Marlies folgte mir und umarmte mich von hinten. Sichtlich angetörnt, verführte sie mich in der Badewanne, was zwar nicht bequem war, aber durchaus geil. Alles schien in Zeitlupe abzulaufen, alles war breiter, farbiger, und sogar mein Geschmackssinn war viel intensiver. Das Stück Schokolade, das ich aß, schmeckte unfassbar viel besser als sonst. Ich legte ich mich auf die Couch und schlief ein.

Marlies und ich blieben nicht wirklich lange zusammen ...

Was zum Teufel ist denn jetzt los? Wir stehen, die Warnblinkanlage ist angeschaltet. Gibt es Ärger? Hat man uns angehalten?

Die Blinker gehen aus und wir fahren wieder. Ist der Botschafter irrtümlich an den Schalter gekommen? Oder gibt es einen Stau? Das würde jetzt gerade noch fehlen!

Gedanken im Kofferraum

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