Читать книгу Gedanken im Kofferraum - Tomas de Niero - Страница 12

BETE ICH HIER ETWA?

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Eine Vollbremsung! Wir werden gegen die Rückwand des Kofferraums gedrückt und federn zurück.

Mama und ich heben gleichzeitig fragend den Kopf und lauschen ins Nichts.

Dann fährt der Wagen weiter, und wir fallen brav in unsere unbequeme Position zurück. Unser Botschafter ist wohl auch etwas angespannt, was nur allzu verständlich ist.

Wieso macht der das eigentlich? Hat Mama ihm drüben Geld versprochen? Blödsinn, wir haben ja nichts außer dem, was wir am Körper tragen und sich in ihrer Handtasche befindet. Hätte ich das riskiert an seiner Stelle? Der ist Diplomat, verdient wahrscheinlich richtig Westgeld, also warum tut er das? Ich werde ihn fragen, wenn wir da sind. Hoffentlich bald! Mir platzt die Blase. Aber das kann ich gut wegstecken, da bin ich übertrainiert! In der Schule hielt ich es auch meistens zurück, weil die Toilette ein Ort des Grauens für mich war, seit ich darin einmal verprügelt wurde. Ich werde drüben einen Karatekurs belegen, keiner soll sich mehr an mir vergreifen!

Wie wird wohl mein nächster Geburtstag, der siebzehnte, aussehen? Werde ich ihn sozialistisch verbringen müssen, wo und wie auch immer, oder doch im goldenen Westen?

Mamas Karten sagen ja, dass es klappt!

Was werde ich im Westen wohl als Erstes machen?

Das berühmte Kaufhaus des Westens, das ich aus der Berliner Abendschau kenne, werde ich das mit Mama zuerst ansehen? Da liegen Sachen in den Auslagen!

Ha, da kenne ich einen guten Witz! Den werde ich den Westlern erzählen:

Ein treues SED-Parteimitglied kehrt von einer Dienstreise aus der Bundesrepublik zurück.

Sein Vorsitzender fragt ihn: »Na Genosse, haben Sie den faulenden und sterbenden Kapitalismus gesehen?«

»Ja.«

»Und was halten Sie davon?«

Da antwortet der Genosse mit verklärtem Gesichtsausdruck: »Ein schöner Tod ...«

Vielleicht spazieren wir einfach stundenlang über den Ku’damm, so wie ich es mir schon Hunderte Male vor dem Einschlafen vorgestellt habe. All die schönen Cafés abklappern und die teuren Boutiquen ansehen und später da auch was einkaufen.

Auf jeden Fall werde ich zu dem Gebäude gehen, das ich meine ganze Kindheit lang vom Berg am Friedrichshain aus sehen konnte und das für mich und meine Kumpels immer das Zeichen von Freiheit war. Es soll Europacenter heißen und hat diesen Mercedes-Stern auf dem Dach, der sich immer dreht. Ja, da will ich unbedingt hin!

Wie werden die Mädchen wohl drauf sein? So eine Westbraut aufzureißen, das wird sicher schwer, die sind doch höchstwahrscheinlich wahnsinnig verwöhnt. Also muss ich erst mal Geld verdienen ...

Mama bewegt sich ganz leicht und stöhnt jetzt schon etwas unkontrollierter. Was mag ihr gerade durch den Kopf gehen? Vielleicht geht es ihr so wie den Leuten, die angeblich kurz vor dem Tod ihr Leben noch einmal im Schnelldurchlauf Revue passieren lassen.

Also, wenn wir diese Nummer hier hinkriegen, dann wird die Stasi wohl am Dienstag – denn Pfingstmontag ist ja sogar in der DDR ein Feiertag – in den Theaterwerkstätten des Deutschen Theaters in der Chausseestraße auftauchen und jeden Hobel, den ich je benutzt habe, einsammeln. Dort mache ich nämlich eine Lehre als »Facharbeiter für Holztechnik«, eine DDR-typische Umschreibung des Tischlerberufs. Von dem Fenster aus, an dem ich seit Monaten als Lehrling arbeite, hat man einen hervorragenden Blick auf die Mauer, auf die hungrigen Hunde in ihrem eingezäunten Laufstreifen, auf den Stacheldraht und die Panzersperren, denn das Haus ist das letzte vor dem Grenzstreifen. 180 Grad Mauerpanorama! Da haben sie ihren Fluchtplan ausgeheckt, werden die bestimmt denken.

Mama und ich haben verabredet, dass wir einfach losrennen, wenn sie uns erwischen. In den Knast wollen wir auf keinen Fall!

Mein Gott, ich ersticke hier drin bald! Warum habe ich bloß so viel Kaffee getrunken vorhin, auf dem Weg nach Buch? Da haben wir an der Weißenseer Spitze, einem Knotenpunkt, an dem die drei Bezirke Pankow, Weißensee und Prenzlauer Berg aufeinandertreffen, noch aufgeregt einige Tassen Kaffee getrunken und natürlich wie die Gestörten geraucht, um die Nervosität zu vertreiben.

In den letzten Tagen sprachen wir uns gegenseitig, wann immer wir alleine waren, Mut zu. Mama hatte von ihrem Michel eine Schallplatte von Barry White mit dem Lied »Can’t Get Enough of Your Love« geschenkt bekommen, die nun so gut wie den ganzen Tag und die halbe Nacht durch die Altberliner Räume dudelte. Sie wurde so quasi zum Soundtrack unserer Flucht.

Oh Mann, dieser nervige Blinker klickt schon wieder neben meinem Kopf, an, aus, an, aus, wir schaffen es, wir schaffen es nicht, wir schaffen es, wir schaffen es nicht ...

Hoffentlich dreht Mama nicht durch! Jetzt fahren wir gerade mal ein paar Minuten und sie gräbt mir schon ihre Zähne in den Unterarm. Nicht, dass das wirklich wehtut, nein, aber ich glaube, wir müssen noch mindestens eine Stunde durchhalten. Oder nur eine halbe? Wird sie das packen? Ist ja auch egal, zurück geht’s nun eh nicht mehr.

Adieu, liebe DDR, es wäre wirklich hilfreich, wenn du heute an der Grenze nochmal so richtig versagen könntest, davon verstehst du doch so viel, du größte DDR der Welt!

Grenzkontrolle, versage! Grenzkontrolle, versage!

Was ist denn jetzt los? Bete ich etwa?

Gedanken im Kofferraum

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