Читать книгу Gedanken im Kofferraum - Tomas de Niero - Страница 7
VOLLES RISIKO
Оглавление16. Mai 1975 irgendwo in einem Wald in Berlin-Buch Da liegen wir nun, Mama und ich, endlich! Es ist dunkel und gespenstisch still hier drin. Am vergangenen Donnerstag standen wir schon einmal im Wald, im wahrsten Sinne des Wortes, zum Einsteigen bereit, aber der Botschafter kam nicht. Ein Schock. Unverrichteter Dinge hatten wir wieder nach Hause fahren müssen. Sieben unendliche Tage und vor allem schlaflose Nächte lang warteten wir auf den zweiten Versuch. Bei jedem Klingeln an der Tür dachten wir an Verrat, Stasi und Gefängnis.
Aber nun ist es soweit, wir gehen volles Risiko, sind in den Kofferraum gestiegen, endlich geht es los.
Es ist verdammt eng in dieser Westkarre, ganz anders als ich mir das vorgestellt habe. Ich kann Mamas Angst förmlich riechen. Sie liegt auf der linken Seite und ich direkt hinter ihr, in grotesker Löffelchenstellung, wie tot. Ihr Gesicht ruht auf meinem ausgestreckten rechten Arm. Keinen Laut dürfen wir von uns geben, die ganze Zeit über nicht. Dabei wissen wir nicht genau, wie lange das alles dauern wird. Und was werden wir wohl zu Gesicht bekommen, wenn sich der Kofferraum wieder öffnet? Einen Vopo mit einer Maschinenpistole im Anschlag? Einen chronisch unterfütterten deutschen Schäferhund? Oder aber das mutige Gesicht des Botschafters, der jetzt hinterm Steuer sitzt und aus Verehrung für meine Mutter das Risiko eingegangen ist, bei unserem Fluchtversuch das Auto selbst zu fahren? Wir können, nein, wir dürfen uns nicht bewegen – aber unsere Gedanken gehen spazieren!
Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten,
sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten.
Kein Staat kann sie wissen, kein Vopo erschießen,
es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei!
Das geht mir ungefragt durch den Sinn, oft hatte ich es von meinem Vater genau so, als sarkastische Parodie, gehört.
Das war eine alte Tradition in meiner Familie, fast jedes Lied und jedes Gedicht wurde von meinem Vater, wenn er sich in entsprechender Laune befand, mit eigenen Texten versehen.
Meine Mutter vor mir in dem viel zu kleinen Kofferraum macht sich ihre unruhigen Gedanken, was ich daran bemerke, dass sie sich kaum spürbar bewegt, ständig an anderen Stellen ihres Körpers leicht zuckt.
Ich hätte nie gedacht, dass es so eng ist hier drin. Mein Gott, brummt mir der Schädel, aber jetzt ist es zu spät, irgendetwas zu bereuen!
Bin ich überhaupt noch eine Mutter, in dieser Stunde? Für Tommy hier sicherlich noch, aber für Peer und Dirk, meine anderen beiden Söhne? Warum kommt mir ausgerechnet jetzt meine Tochter Tanja in den Sinn, die ich durch eine Krankheit im Alter von knapp drei Jahren verloren habe? Verliere ich heute wieder ein Kind? Oder alle? Oder verlieren sie heute ihre Mutter? Gut, ich musste mich entscheiden, einer kann nur mit. Aber wählen Sie mal zwischen drei Söhnen aus, entscheiden Sie mal, wer vielleicht gemeinsam mit Ihnen bei der Flucht erwischt wird. Dann haben Sie ihr eigenes Kind auf dem Gewissen! Und damit nicht genug, die anderen beiden, die aus Platzmangel nicht mitkönnen, was wird wohl aus denen? Peer, tja, der ist achtzehn, da kann er schon allein laufen. Oder? Und Dirk, gerade mal fünfzehn Jahre alt? Werden sie das je verkraften, die beiden, je verstehen oder mir sogar irgendwann verzeihen können? Vielleicht kann ich sie später nachholen? Oder freikaufen?
Bin ich eine gute Mutter?
Klar bin ich das. Habe ich nicht die Kinder aufgezogen, fast ganz ohne Vater, der fast nie zur Verfügung stand? Dieses versoffene Genie! Egal, geliebt habe ich ihn, und wie. Dreizehn chaotische Jahre lang, na ja.
Bin ich eine gute Mutter?
Nein, in diesem Augenblick bin ich eine gottverdammte Egoistin! Ich will hier nur noch raus, aus der »größten DDR der Welt«, die Panik treibt mich, die Angst, hier im Osten nie Künstlerin sein zu dürfen. Und zwar so, wie ich es verstehe. Die DDR ist für mich ein böser Staat – aber mit unheimlich vielen guten Menschen darin. Die sind hier eingesperrt, werden bespitzelt, werden gegeneinander ausgespielt und gequält oder aber einfach ignoriert. Einfach weil sie gute Menschen sind. Eine Diktatur bekämpft immer die Guten, die Bösen sind die Diktatur! Was denke ich hier nur für einen Mist. Na ja.
Und die Liebe treibt mich. Michel ist ein so zauberhafter Mensch.
Er lebt in Westberlin und ist Geschäftsführer eines meist von Afrikanern besuchten Nachtclubs. Er stammt aus Kamerun, hat in Moskau Jura studiert und ist dann, statt nach Hause zurückzukehren, in Westberlin geblieben. Als er vor mir stand, da wusste ich sofort, das ist er, der, auf den eine Frau wie ich eigentlich wartet. Der, der von der ersten Sekunde an passt, in allen Dingen. Gott, ich klinge ja wie eine fünfzehnjährige Göre!
Aber er liebt mich so, wie ich bin. Und klar, er hat die Möglichkeit, dank seines Botschafter-Freundes, der mit seinem diplomatischen Status am Checkpoint Charlie Immunität genießt, einfach so von Ost nach West und zurück zu fahren. Am Checkpoint Charlie dürfen nur Ausländer und Diplomaten die Grenze überqueren. Sein Wagen darf nicht kontrolliert werden. Sagt er, der hagere, fast zwei Meter große Diplomat. Nun fährt »Vater«, wie wir ihn während der ganzen Zeit der Vorbereitung unserer Flucht konspirativ nennen, mit uns als heimlicher Fracht zu eben diesem Checkpoint Charlie. Und mein Michel wartet auf uns in Westberlin ...
Ich spüre, wie die Nervosität meiner Mutter vor mir zunimmt, und bin versucht, sie leise zu beruhigen, lasse es aus naheliegenden Gründen aber sein, drücke nur leicht ihre Schulter.
Plötzlich bleibt der Wagen stehen. Ist es schon vorbei, hat uns die Polizei am Wickel? Gefühlte Stunden vergehen.
Dann fährt er wieder an, er fährt!
Wahrscheinlich nur eine rote Ampel.
Apropos rot, wie die Liebe. Meine Freundin Sabine wird zu uns in die Wohnung kommen und nach mir fragen, und Oma wird ihr wie aufgetragen sagen, dass ich mit Mama übers Wochenende einen Grafiker-Kollegen bei Berlin besuchen bin. Sie wird sich fragen, warum ich sie dann zu mir bestellt habe, für heute Abend. Aber das musste ich doch, um alles ganz normal aussehen zu lassen. Ich werde Sabine wohl nie mehr wiedersehen. Das tut weh, denn ich liebe sie sehr. Ich sehe sie ganz klar vor mir, ihre schönen Augen, ihre herrlichen Brüste ...
In Sabine war ich meine gesamte Schulzeit hindurch verliebt. Außer in der zweiten Klasse, da besuchte ich mit meinen Brüdern ein Schuljahr lang eine andere Schule. In diesem Jahr waren wir in einem Heim unter gebracht. Eine furchtbare Zeit, und ich weiß bis heute nicht genau, warum unsere Eltern uns da abgaben. Mama hatte lediglich gesagt, sie müsse in Leipzig auf der Messe einen Stand bauen und unser Vater sei auf Tournee! Ich habe nie wieder nachgefragt, habe es lieber verdrängt. Denn nichts in meiner Kindheit habe ich düsterer, beklemmender und angstvoller in Erinnerung als diese Zeit ohne die Vertrautheit unserer Wohnung, ohne Mamas Nähe.
Mein Bruder Peer, der immer gut hinzulangen wusste, hat mich und Dirk im Heim so gut er konnte gegen die anderen Kinder verteidigt. Die meisten von denen waren so was von gestört.
Das Heim, das Mama uns gegenüber Kinderhotel nannte, lag in der Eberswalder Straße, ein roter Backsteinbau, unweit der Mauer. Im Nachbarhaus befand sich eine Art Storchennest aus Stein mit Glasscheiben auf dem Dach. Von hier aus beobachteten Grenzsoldaten die Mauer. Auf der anderen Seite, also der Westseite, hatte man an der Demarkationslinie, wie die Mauer im Westen genannt wurde, einen Hochstand errichtet, auf dem wiederum Westberliner und Touristen einen Blick über die Mauer hinein in das finstere Ostberlin werfen konnten. Man wurde bestaunt wie im Zoo.
Es ist schon erstaunlich, was das Gedächtnis alles so an Müll verschluckt! Jetzt, wo ich über das beschissene Heim nachdenke, treten Bildfetzen des Schlafsaales, Geruchsspuren der ekligen Küche und die Fratzen einiger Erzieher vor mein geistiges Auge. Ich sehe alles aus einem kindlichen Blickwinkel. Unscharf, unwirklich, übergroß, alles in einem bedrohlichen Grau. So ist das halt mit dem Kopfkino: Führt man Regie, ist alles cool, aber wenn Dinge ungefragt auftauchen und man zu einem passiven, meist erstaunten Zuschauer wird, dann ist es mitunter die Hölle!
So ist wahrscheinlich das ganze Leben, mal ist man ein Blatt im Wind und kann nichts dagegen unternehmen, ein anderes Mal ist man der King of the Road. Dieses Scheißheim war wirklich das Schrecklichste ...