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DIE FREUDE IST KURZ,
DIE BEWEGUNG SCHIER LÄCHERLICH

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Meine Brüder und mich faszinierte damals ein zwielichtiger Typ namens Dieter, der in Prenzlauer Berg bei uns um die Ecke wohnte. Oft hingen wir bei ihm rum und hörten Westmusik, sahen uns die ersten Pornohefte unseres Lebens an, die aus dem Westen über dubiose Kanäle zu ihm gelangten, und tranken im zarten Alter von elf, zwölf Jahren unser erstes Bier. Dieter wohnte mit seinem trinkfesten Vater, dessen Gesicht mit Kriegsverletzungen übersät war, und seiner Schwester in einer Parterrewohnung. Und er besaß eine echte Elektrogitarre mit einem kleinen Verstärker. Oft, bestimmt an die hundert Mal, hockte ich bei ihm und spielte das Intro von »Smoke on the Water« von Deep Purple. Dieter hatte mir den Riff gezeigt; er war das Einzige, was ich auf der Gitarre spielen konnte. Wenn Mädchen da waren, versuchte ich, damit Eindruck zu schinden. Dieter ging weder zur Schule noch arbeitete er, und wir wunderten uns darüber, dass er immer flüssig war und auch sehr spendabel. Erst viel später erfuhren wir von seinen kriminellen Talenten, die ihm – und uns – immer stangenweise Zigaretten und Unmengen von Alkohol in seinem Zimmer bescherten. Irgendwann verschwand er für ein ganzes Jahr. Als er schließlich wieder auftauchte, suchte er sich sofort Arbeit. Ich fragte ihn, wo er denn gewesen sei, und er erzählte mir von einem Arbeitserziehungslager, eigentlich eher ein Knast für schwer erziehbare Jugendliche, wie er sagte. Dahin wolle er auf keinen Fall wieder zurück. Schlecht sah er aus, er hatte einige Zähne verloren. Der Held meiner Pubertät war ein gebrochener junger Mann.

Seine Wohnung wird mir ewig im Gedächtnis bleiben, denn hier verlor ich meine Unschuld. Ich war damals dreizehn, mein Bruder Peer vierzehn. Vom Balkon unserer Wohnung in der Prenzlauer Allee, Ecke Christburger Straße aus sahen wir eines Tages im Haus gegenüber zwei Mädchen an einem Fenster im dritten Stock rauchen. Sie sahen etwas älter aus als wir. Wir flachsten über die Straße hinweg mit ihnen herum. Am Abend war es soweit: Man traf sich unten an der Ecke und rauchte gemeinsam ein Kraut namens Juwel 72, eine typische DDR-Zigarette, wahrscheinlich erfunden zur schnellen Dezimierung des Proletariats in der Republik. Rita war blond, knappe siebzehn Jahre alt und erschien mir unerreichbar. Doch nach einem ausgiebigen Spaziergang in Friedrichshain am darauffolgenden Tag landeten wir in der Wohnung von Kumpel Dieter, der uns großzügig sein Zimmer überließ.

Es war eine typische Ostberliner Wohnung, eingerichtet mit Möbeln, die so aussahen, als hätte schon vor hundert Jahren jemand überlegt, sie zu entsorgen. Kohleöfen, klar, Zentralheizung gab es nur in den Neubauten. An den Wänden hingen äußerst geschmackvolle großmustrige Tapeten aus der künstlerisch hochwertigen sozialistischen Produktion. Das Sofa diente Dieter gleichzeitig als Bett und war deshalb immer mit einem Laken bezogen. In der Wohnung roch es ein bisschen wie in dem Keller, aus dem man die Kohlen zum Heizen hochholte. Alles in allem genau der Platz, wo man seine erste große Nacht – in diesem Falle eher den ersten großen Tag – sexueller Ausschweifungen erleben will.

Wir ließen die Jalousien herunter, Rita rauchte und erzählte von sich. Sie kam aus einem kleinen Ort achtzig Kilometer entfernt von Berlin, machte eine Ausbildung zur Näherin und fand mich süß. Mit meinen dreizehn Jahren sah ich ehrlich gesagt eher aus wie elf. Meine Haare trug ich wie alle damals ziemlich lang, was mich von hinten wie ein Mädchen aussehen ließ. Meine spindeldürre Figur, die mir Spitznamen wie »Killersprotte« einbrachte, rundete das Bild ab. Außerdem war meine Stimme eher die eines Kastraten, der Stimmbruch suchte mich noch erfolglos. Außer Knutschen und einem kurzen Betasten der Brüste eines nicht mehr ganz nüchternen Mädchens auf einer Party hatte ich keinerlei Erfahrungen vorzuweisen. So war ich doch sehr verwundert, warum Rita ausgerechnet mich erwählt hatte. Ich war unheimlich nervös, trank ein Bier, obwohl mir Bier überhaupt nicht schmeckte, und rauchte Kette. Rita hatte ein wunderschönes Gesicht, lange blonde Haare bis über die Schulter, trug geile Wildlederstiefel, die in Ostberlin so gut wie nicht zu bekommen waren, hatte große Brüste und war überhaupt eine Göttin. Nach einiger Knutscherei zog sie erst sich, dann mich aus ...

Von Rita erhielt ich übrigens auch meine erste Backpfeife! Nach einer wirklich schönen Nacht lagen wir da und rauchten die berühmte Zigarette danach. Ich zitierte in die Stille des Augenblicks hinein einen der Lieblingssätze meines Vaters:

»Ach, was soll das ganze Theater um das Bumsen, die Freude ist kurz und die Bewegung schier lächerlich!« Rums, hatte ich eine im Gesicht!

Wir sind danach eine ganze Weile miteinander gegangen, und mein Leben in dieser Zeit war einfach nur großartig. Wenn es zeitlich ging, holte mich Rita von der Schule ab, unter den neidischen Blicken meiner Klassenkameraden, die alle ein Jahr älter als ich waren, da ich als Augustkind früh eingeschult worden war. Ein unglaubliches Gefühl, wenn du vom Schulhof durch die Toreinfahrt zur Straße läufst und auf der anderen Straßenseite lehnt, lässig eine Zigarette rauchend, ein blonder Engel an der Hauswand und wartet nur auf dich! Unter dem Applaus oder auch den neidischen Schmährufen anderer Schüler küssten wir uns erst mal ausgiebig, um dann eng umschlungen die Christburger Straße hinauf zur Prenzlauer Allee zu spazieren. Getrennt haben wir uns schließlich aus irgendeiner weltbewegenden Belanglosigkeit, aber Rita hat mich fürs Leben geprägt. Ich schaue auch heute noch fast jeder Blondine hinterher.

Gedanken im Kofferraum

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