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Der Traum vom Verschwinden. Vom Fortsein. Eines Tages zur Tür hinausgehen und nicht wiederkehren.

Der Traum, ein anderer zu werden. Freunde und Familie zu verlassen, sich selbst zu verlassen und ein anderer zu werden; alle Bande abzuschütteln, Heim und Gewohnheiten zurückzulassen, Besitz und Geborgenheit, Zukunftsaussichten und Ambitionen aufzugeben, um ein Fremder zu werden.

Sich einen Bart stehen und die Haare wachsen lassen, seine Augen verbergen, eine Brille, zerschlissene Kleider, ausgelatschte Schuhe tragen, das Gesicht aufquellen, die Hände schwarz werden lassen, sich in seiner gewohnten Umgebung bewegen, unter seinen alten Bekannten, und beobachten, welchen Eindruck das alles auf einen macht, wenn man selbst fort ist.

Der Traum von einer Verwandlung.

Als wachtest du eines Morgens im Bett neben einem Gesicht auf, das du nicht kennst. Als spräche sie deinen Namen aus, und dein Name erschiene offen. Als würdest du aus dem Bett steigen, durchs Zimmer gehen und den Lichtschalter nicht dort finden, wo er sein sollte: Der Nachttisch ist fort, die Wände sind verändert, die Decke ist abgesenkt worden, und die Tür, einen Spaltbreit offen, ist links vom Bett und nicht rechts wie sonst. Und wo ist das Fenster? Das Fenster zum Hinterhof, es bietet Aussicht auf eine Landschaft, die du noch nie gesehen hast, aber dennoch erkennst, vielleicht aus einem Traum oder früheren Leben, oder die Landschaft gehört zu einem Leben, von dessen Kommen du wusstest, zu einem Ort, von dem du wusstest, du würdest ihn finden, und nun bist du hier, stehst am Fenster, siehst hinaus und bist für einen Moment glücklich; du hast vergessen, wer du bist.

Oder die geträumte Verdoppelung, ein Albtraum; du stehst an einer Straßenecke und siehst auf der anderen Straßenseite jenen Mann, den du von allen am meisten fürchtest; du siehst dich selbst. Du kannst dem Drang nicht widerstehen, ihm zu folgen, und kommst nicht umhin zu bemerken, dass er einen Weg und eine Route nimmt, die du kennst und deine eigene nennst. Dein Name steht auf seinem Briefkasten. Er liest deine Briefe. Deine Gewohnheiten scheinen ihm vertraut zu sein. Er hat ganz offensichtlich deinen Platz eingenommen. Was sollst du tun? Was wirst du tun? Du wolltest verschwinden, kannst aber jederzeit ersetzt werden, bist schon ersetzt worden, und erkennst nunmehr schmerzlich und klar, wie sehr du an dich und deine Eigenart gefesselt bist.

Oder die Kehrseite dieses Traums, der schwarze Spiegel, du blickst in die Dunkelheit und willst sterben. Wie bist du hierher gekommen? Du trittst einen Schritt vor, zum Bett oder Fenster; sollst du dich hinausstürzen, auf die Straße, der harte Schluss, oder dich ins Bett legen und ein Glas Tabletten schlucken, was willst du? Wie bist du hierher gekommen? Eine Stimme schreit in deinem Kopf, eine andere in den Ohren, eine dritte in der Brust, eine vierte im Bauch: Tu es nicht! Du aber gehst zum Fenster, schaust hinunter, auf die Straße hinab, die Straßenlaternen brennen, es ist Nacht. Du trägst deine besten Kleider, das Hemd ist gebügelt, die Haare sind gekämmt, das Gesicht ist rasiert, als wolltest du zu einer Reise aufbrechen, einer letzten Reise. Wie leid ich es bin, zu reisen. Wie leid ich es bin, daheim zu sein, wie leid ich das alles bin. Ja, wie bin ich hierher gekommen, zu diesem Fenster oder Bett, und zu dem Gedanken, aufzugeben? Ich will nicht auf der Straße gefunden werden, so feucht und offen, so entblößt und zerstört. Ich wähle das Bett und gehe zum Bett, liege im Bett, es schreit im Mund und im Hals, in den Händen und der Hand: Tu es nicht!

Oder der Traum, nicht mehr zu sein, allerdings nur, um als etwas Neues wiederaufzuleben, nicht als Käfer, nicht als Blume, nicht als etwas Höheres oder Niederes, nicht als Nichts, sondern wie im christlichen Traum von Lazarus: zu einem neuen Leben zu erwachen. Wiedererkennbar für sich und andere, gleichwohl verändert. Ein neuer Mensch.

Ein alter Traum. So alt wie der Mensch, wie der Überdruss am Sein. Wie die Unzufriedenheit darüber, man selbst zu sein. Nein, jetzt habe ich genug. Nein, jetzt kann ich nicht mehr. Und dann diese Lüge, die allmählich zu Stumpfsinn, zu einer lebensmüden Wahrheit geworden ist; ich habe alles gesehen, alles gehört, alles getan.

Die Langeweile. Nicht die gute, stille, sondern die quälende, erstickende, angstvolle Langeweile. In das große, allumfassende, leere, sinnlose Nichts zu starren.

Heute habe ich meinen Glauben verloren. Den Glauben an etwas Neues.

Es bleibt einem nichts, als sich zu wiederholen.

Was wurde aus den Freuden?

Der Freude, sich zu wiederholen?

Aufzustehen, sich das Gesicht zu waschen, sich im Spiegel zu betrachten, sich anzuziehen, zu frühstücken und sich an den Schreibtisch zu setzen. Alltägliche Verrichtungen: sich abmühen, um etwas Neues zu finden, ein neues Wort, einen neuen Satz, ein neues Buch.

Ist dir nie eine Stunde gekommen,

Ein jäher, göttlicher Funke, der

diesen ganzen Schwindel,

Mode und Reichtum, diese geschäftigen Ziele

voll Eifer – Bücher,

Politik, Liebesaffären –,

in völliges Nichts zersprengt?

Schrieb Walt Whitman, und heute, Donnerstag, den neunzehnten August, um acht Uhr dreiundvierzig, ist diese Stunde ein zweites Mal zu mir gekommen. Was tat ich beim ersten Mal? Ich hörte auf zu schreiben. Es währte vier Jahre. Ich zog aufs Land, heiratete und bekam Kinder, versuchte einen Kleinbauernhof zu bewirtschaften, es wollte mir nicht gelingen.

Es gelang mir weder, verheiratet zu sein, noch auf dem Land zu leben, es gelang mir nicht, das Schreiben aufzugeben. Es gelang mir nicht, mich selbst loszuwerden. Es gelang mir nicht, ein Anderer zu werden. Ich vermisste mein früheres Leben. Ich wollte allein sein. Wollte Bücher schreiben. Ich isolierte mich. Ich schrieb. Ich nahm mein altes Leben wieder auf. Meine alte Geschäftigkeit. Neue Beziehungen. Neue Träume, neue Reisen, neue Begegnungen, neues Geld, neue Bücher. Neue Zusammenbrüche. Aber niemals ein neues Leben. Was meinst du, ist es möglich, ein neues Leben anzufangen? Ich weiß es nicht. Heute ist alles zusammengebrochen, zum reinen Nichts, und ich weiß nicht, was ich tun soll.

Liebste.

Ich gehe, ich verlasse dich heute.

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