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Was schrieb D. H. Lawrence? »Die offene Straße. Die große Heimat der Seele ist die offene Straße. Nicht der Himmel, nicht das Paradies. Nichts ›darüber‹. Nicht einmal etwas ›darin‹. Die Seele liegt weder ›darüber‹ noch ›darin‹. Sie ist ein Wanderer auf der offenen Straße. Nicht durch Meditation. Nicht durch Fasten. Nicht indem sie einen inwendigen Himmel um den anderen erforscht, nach Art der großen Mystiker. Nicht durch Begeisterung. Nicht durch Ekstase. Auf keinem dieser Wege bekommt die Seele ihr angestammtes Recht.

Nur indem sie sich auf die offene Straße begibt.

Nicht durch Nächstenliebe. Nicht durch Opfermut. Nicht einmal durch Liebe. Nicht durch gute Werke. Auf diese Weise verwirklicht sich die Seele nicht. Nur auf der Reise entlang der offenen Straße.

Es ist die Reise selbst, entlang der offenen Straße. Für jede Berührung offen. Auf zwei langsamen Füßen. Allem begegnend, was auf der offenen Straße einherkommt. Gemeinsam mit jenen, die im selben Tempo auf derselben Straße dahintreiben. Ohne Ziel. Immer die offene Straße.«

Dieser höchst feierliche Lobgesang wird von der Philosophie bekräftigt. Søren Kierkegaard schrieb: »Vor allem, verliere nie die Lust zu gehen. Jeden Tag gehe ich mich in einen Zustand des Wohlbefindens, und gehe fort von jedweder Krankheit; ich bin zu meinen besten Gedanken gegangen, und ich kenne keinen Gedanken, der so bedrückend wäre, dass man ihn nicht gehend hinter sich lassen könnte. Aber indem man stillsitzt, kommt man dem Gefühl umso näher, krank zu sein.« Und Ludwig Wittgenstein notierte 1937 in seinem Tagebuch: »Das Christentum sagt: Du sollst hier (in dieser Welt) – sozusagen – nicht sitzen, sondern gehen. Du musst hier weg; & sollst nicht plötzlich weggerissen werden, sondern tod sein, wenn dein Körper stirbt. Die Frage ist: Wie gehst du durch dies Leben? – (Oder: Das sei deine Frage!) – Denn meine Arbeit, z. B., ist ja nur ein Sitzen in der Welt. Ich aber soll gehen & nicht bloss sitzen.«

Schon Aristoteles griff eine griechische Tradition auf, die Denken und Gehen vereinte. Aristoteles ging und dozierte in den Säulengängen im Lykeion, die Schüler dieser Schule wurden Peripatetiker genannt, vom griechischen Peripatos: Wandelgang. Die Sophisten gingen von Stadt zu Stadt und lehrten Rhetorik. Wir wissen von den Spaziergängen eines Sokrates, innerhalb und außerhalb der Stadtmauern, er liebte es, zu gehen und zu reden, zu flanieren und sich zu unterhalten, doch wenn er wirklich in Gedanken versank, hielt er inne, manchmal blieb er lange stehen, einmal rührte er sich eine ganze Nacht nicht von der Stelle. Die Stoiker erhielten ihren Namen nach einem Säulengang in Athen; die Stoa, ein Gehweg, auf dem sie promenierten und diskutierten. Die Verbindung von Denken und Gehen wurde also von der Philosophie etabliert: Immanuel Kant machte täglich nach dem Mittagessen einen Spaziergang durch Königsberg. Wir erinnern uns an Nietzsches Aussage, er setze wenig Vertrauen in die eigenen Gedanken, wenn sie nicht an frischer Luft, auf einem Spaziergang gedacht worden seien. Doch auch die Dichter gingen und schrieben über das Gehen, wir wissen, dass Dante in die Irre ging, Die göttliche Komödie ist eine Wanderung, eine christliche Fortsetzung von Orpheus’ Abstieg in die Unterwelt, ein Mythos, der wiederum bei den Poeten Widerhall fand. Gerade die Dichter haben sich häufig auf den Weg gemacht. Denken wir nur an Hölderlins Wanderungen, an Wordsworths und Coleridges Spaziergänge im Lake District und durch Europa, an Rimbauds frenetische Märsche fort von seinem Heimatdorf, an A. O. Vinjes zahlreiche Ausflüge ins Gebirge. Charles Baudelaire war ein Stadtwanderer, der Vater aller Flaneure (man erzählt sich, dass Baudelaire auf den Straßen in der Nähe des Mietshauses, in dem er wohnte, oft im Nachtgewand beobachtet wurde, er spazierte im Pyjama durch die Straßen und demonstrierte so, dass er draußen zu drinnen gemacht hatte; ihm muss der Gedanke gefallen haben, die Straßen sein Zuhause zu nennen. Zugleich wird berichtet, dass die Wohnung des Dichters den Anschein erweckte, außerhalb des Hauses zu liegen, Leute kamen und gingen, die Räume waren pausenlos von Freunden und Unbekannten bevölkert, Frauen und Männern, zu allen Tages- und Nachtzeiten, und Baudelaire muss der Gedanke gefallen haben, dass er seine Wohnung in eine Straße verwandelt hatte), und in unserer Zeit gibt es kaum einen Schriftsteller, der so viel und so weit gegangen ist wie Bruce Chatwin. Sein ganzes schreibendes Leben träumte er davon, ein Buch über die Nomaden zu schreiben, und in einer der Notizen zu seinem geplanten Hauptwerk weist Chatwin darauf hin, dass das englische Wort für reisen, to travel, gleichen Ursprungs ist wie das französische travail, also: Arbeit.

Ein Beruf. Endlich. Mit Bruce Chatwin ist das Gehen zu einer Arbeit geworden, denke ich; es erfordert keine Bewerbung, keine Zeugnisse, man macht sich einfach auf den Weg, zur Tür hinaus, jederzeit, geradeaus, in irgendeine Richtung, die offene Straße hinab, auf zwei langsamen Füßen. So einfach kann es doch nicht sein. O nein. Lasst mich von meinem ersten Zusammenbruch erzählen.

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