Читать книгу Gehen - Томас Эспедал - Страница 19

13

Оглавление

Ursprung der Einsamkeit muss die Sprache sein, denke ich und gehe durch das Gatter gleich bei den Höfen, an denen der Postweg die Steigung nach Mellingen hinaufführt. Es ist ein schöner Weg. Hier ist man also zu Fuß mit der Post gegangen. Ist der Brief nicht das Emblem für Einsamkeit? Der Schreibende. Allein an seinem Schreibtisch. Der Abschiedsbrief. Der Liebesbrief. Der gelbe Briefumschlag, den man sorgsam verschließt und seinem Schicksal überlässt. Man schreibt keine Briefe, um seine Einsamkeit aufzuheben, sondern um sie zu besiegeln.

Gedanken dieser Art kommen einem, wenn man allein auf einem Postweg geht. Ich muss an jenen Brief denken, den Hölderlin dem Dichter Casimir Ulrich Böhlendorff schrieb, kurz bevor er zu Fuß in die Alpen aufbrach, Richtung Schweiz und später Frankreich: »Und nun leb wohl, mein Teurer! Bis auf weiteres. Ich bin jetzt voll Abschieds. Ich habe lange nicht geweint. Aber es hat mich bittre Tränen gekostet, da ich mich entschloss, mein Vaterland noch jetzt zu verlassen, vielleicht auf immer.«

Hölderlin blieb dann doch nicht so lange fort. Im Jahr darauf kehrt er wieder zu seiner Mutter zurück, »leichenblass, abgemagert, mit tiefen, wirren Augen, langen Haaren und Bart, gekleidet wie ein Bettler«. Das viele Gehen hatte Hölderlin nicht gut getan, er treibt nun auf jenen Wahnsinn zu, den die Literaturgeschichte als eine lange Isolation beschreibt: »Er schloss sich in den sogenannten Hölderlinturm am Fluss Neckar in Tübingen ein. Hier verbrachte der rastlose, geistig umnachtete Dichter seine letzten sechsunddreißig Jahre. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang ging er hinaus, spazierte vier, fünf Stunden durch den Garten. Den Rest des Tages verbrachte er damit, in seinem Zimmer auf und ab zu gehen, in ein immerwährendes Gespräch mit sich selber vertieft.«

Hölderlin war ein Bewunderer Rousseaus, und in seiner Hymne »Der Rhein« taucht der Philosoph als zurückgezogener Weiser auf:

Wem aber, wie, Rousseau, dir

Unüberwindlich die Seele,

Die starkausdauernde, ward,

Und sicherer Sinn

Und süße Gabe zu hören

Na ja. Hölderlin standen eben nicht die Biografien zur Verfügung, die uns heute zugänglich sind. Außerdem gab es so viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden, dass sich der eine im anderen wiedererkannte. Bemerkenswert an Hölderlins Wanderungen ist, dass sie – im direkten Widerspruch zu Rousseaus Anmerkungen zur gesundheitsfördernden und gedankenschärfenden Wirkung des Fußmarsches – Hölderlin angreifen und seine geistige Gesundheit zerstören. Es mag daran liegen, dass Rousseau hauptsächlich kürzere Spaziergänge machte und Wandern mit Spazieren verwechselte, während Hölderlin, der weit ging, ausgezehrt und geprägt war von allem, was er im Laufe seiner Wanderungen erlebt hatte. Wir wissen es nicht. Sicher ist allerdings, dass langes Gehen anstrengend ist. Wer über Wanderer oder Vagabunden gelesen hat, der weiß: Das Leben als Streuner ist hart. Wer Fotografien und Bilder von Landstreichern betrachtet hat, sieht: Das Dasein eines Landstreichers kostet Kraft. Wer einige Monate unterwegs gewesen ist, der weiß: Das Wanderleben ist brutal und zerstörerisch.

Man ist ohne Heim. Man schläft im Freien. Man ist ein Fremder und erweckt Misstrauen. Man ist schmutzig und hungrig. Man ist allein, geht und geht, es regnet und stürmt, man schläft geduldet, in einer Scheune oder Pension; was man besitzt, trägt man auf dem Rücken, die Beine schmerzen, die Schultern schmerzen, der Körper schmerzt, man vermisst ein Bett und eine Geliebte.

Ich komme an zwei Bauernhöfen vorbei, trete wieder durch ein Gatter, folge einem Bach und gewinne nach und nach Aussicht auf den Stadtteil Bergens, den ich soeben verlassen habe. Åsane. Die eine Hälfte der Vorstadt prägen Autobahnen und Einkaufszentren, Neubauten und Wohnviertel; Reihenhäuser und Wohnblocks und Einfamilienhäuser, die aus der Ferne unbewohnbar wirken, dünn und flach, wie Kulissen. Noch schlimmer wird es, wenn man die Tür zu einem dieser Häuser öffnet und in ein Heim hineinschaut, das sich einzig und allein dadurch auszeichnet, den übrigen zu gleichen; das Wohnzimmer mit dem Fernsehapparat und den vielen Lampen, all das künstliche Licht, die unangenehme Wärme, die vielen überflüssigen Zimmer, die lebensfeindlichen Möbel, dieses halbtemperierte Interieur, das uns wissen lässt: Die Arbeit, die wir verrichten, ist verschwendet, das Geld, das wir verdienen, wird missbraucht, falsch verwendet, das Leben, das wir führen, ist uninteressant.

Die andere Hälfte Åsanes erstreckt sich bis zu Feldern und Bergrücken, alte Häuser und Höfe, Traktorstraßen und Feldwege, Bäume und Bäche, Blumen und Gras; langgestreckte, gewellte Flächen, die im Licht der Sonne glänzen. Die alte und die neue Zeit. Die alte Zeit war nicht besser als die neue. Die neue Zeit ist nicht besser als die alte. Man muss wählen, nach bestem Wissen und Gewissen, wie gut man leben will. Aber wie ist es möglich, dass so viel Geld, so viel Wohlstand, zu einer hässlicheren Landschaft, einer schlechteren Architektur geführt haben?

Wie ist es möglich, dass man billigere Lösungen, schnellere Lösungen wählt, dass man mit so viel Geld baut und erschafft und so schlecht denkt? Gedanken dieser Art bedrängen einen, wenn man auf dem alten Postweg in Åsane geht.

Ich will Briefe schreiben.

Ich bin voll Abschieds.

Ich gehe über die Hügelkuppen und zum Kreisgefängnis in Breistein hinunter; die hohen Mauern; ein Baum, der Schatten des Baums, der neben der Betonwand wächst. Zwei Pferde grasen vor der Mauer, als sollte uns all diese Freiheit außerhalb der Mauern, all diese Schönheit, davon künden, wie brutal es ist, auf der anderen Seite hinter Gittern zu sitzen.

Ich gehe vorbei am Gefängnis und am Asylantenheim, einem Kindergarten, Gärten und Häusern, einem angeleinten Hund, einem Gewächshaus; Blumen in Reihen, ein Mann in seiner Garage, im Auto, ich erblicke hier nichts als Unfreiheit, wo immer ich gehe, vorbeigehe, schneller jetzt, ich folge der asphaltierten Straße bis zum Kai und der Fähre, die mich nach Valestrand übersetzen soll. Auf dem Kai ziehe ich mich aus und springe ins Meer. Schwimme. Ich sehe die Fähre in der Mitte des Fjords.

Gehen

Подняться наверх