Читать книгу Mara und der Feuerbringer - Tommy Krappweis - Страница 11

Kapitel 6

Оглавление

Eine Zugmaschine mitsamt riesigem Anhänger hatte direkt hinter ihnen angehalten, und gerade stieg der Fahrer erstaunlich leichtfüßig aus. Das war deswegen so erstaunlich, weil der Fahrer zu den dicksten Menschen gehörte, die Mara jemals live und in Farbe gesehen hatte.

»Alles okay?«, fragte er mit einer freundlich singenden Stimme, und Mara konnte nicht anders. Sie mochte ihn sofort.

»Es geht so«, antwortete Professor Weissinger. »Es würde uns in der Tat etwas besser gehen, wenn Sie uns ein Stück mitnehmen würden. Wir wollen Richtung Osnabrück, aber unser Auto … äh …«

»Schon klar«, nickte der Trucker. »Sind ein paar echt komische Sachen passiert in der Nacht. Ihr Karren ist nicht der einzige, der den Geist aufgegeben hat. Na, dann steigen Sie ein. Ist genug Platz.« Er lachte kurz und zeigte mit beiden Händen auf seinen gigantischen Bauch. »Trotz dem da.«

»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen«, bedankte sich der Professor.

Sie erkletterten den erstaunlich hoch gelegenen Führerstand des Trucks auf der Beifahrerseite, und Mara sah sich um.

»Ist ja echt viel Platz hier drin«, sagte sie. Dann erst entdeckte sie die kleine Schlafkabine hinter den Sitzen. »Cool.«

»Yep«, machte der Trucker und grinste. »Kannst gern mal hinten reinklettern, aber ich sag’s gleich: Hab nicht aufgeräumt.«

Mara beließ es bei einem Blick, denn irgendwie fühlte sie sich unwohl bei dem Gedanken, auf dem Bett von irgendwem herumzukrabbeln. Stattdessen setzte sie sich auf den mittleren Platz zwischen dem Fahrer und dem Beifahrer.

»Hey!«, rief der Trucker plötzlich erschrocken und begann wild mit den Armen zu wedeln. »Schh! Schh! Raus!«

»Krah Krah«, sagten Hugin und Munin, machten aber keine Anstalten das Führerhaus zu verlassen. Seelenruhig setzten sie sich neben den Professor auf das geräumige Armaturenbrett und blickten stumm umher. Der Fahrer sah Mara und den Professor verwundert an. »Äh … gehören die irgendwie … zu euch?«

»Ja«, sagte der Professor.

»Nein«, sagte Mara im selben Moment, und sie sahen sich kurz irritiert an.

»Was Mara meint, ist, dass sie uns natürlich nicht gehören, weil wir sie nicht zwingen bei uns zu bleiben. Wir wollten sie eigentlich mit dem Auto zum Tierarzt in Osnabrück bringen, um sie mal wieder auf Würmer und ähnliches zu überprüfen«, log Professor Weissinger. Wie immer klang es aus seinem Mund als wäre das nichts als die Wahrheit. Mara nickte eifrig, und selbst das kam ihr im Vergleich zu der routinierten Lüge des Professors viel zu aufgesetzt vor.

Hugin und Munin war allerdings deutlich anzusehen, dass ihnen der Teil mit den Würmern nicht so richtig gut gefallen hatte. Trotzdem blieben sie erfreulich still und bemühten sich um einen möglichst rabigen Eindruck.

Der Trucker nickte schließlich. »Aha. Okay. Aber nicht dass die mir hier die Armaturen vollkacken.«

»Krah!«, erwiderte Munin, und die beiden Raben drehten sich beleidigt weg. Ein Moment der Stille kehrte ein, als der Fahrer von den Raben zu Mara und dem Professor und dann wieder zu den Raben sah. Doch dann zuckte er mit den Achseln und wandte sich seinem Zündschlüssel zu.

»Krasse Viecher«, bemerkte er, als er den mächtigen Motor anließ. »Seid ihr Zirkusleute oder so was?«

»Nein, wir haben einfach nur beide jeweils einen Vogel«, antwortete der Professor und grinste Mara an. »Verzeih diesen unsäglichen Witz, den will ich schon seit Längerem anbringen.«

»Schön, dass wir es jetzt hinter uns haben«, gab Mara trocken zurück und schnallte sich an.

»Also, ich bin der Willi«, stellte sich der Trucker vor und ließ den Motor an, als sie in die nahe Auffahrt zur Autobahn einbogen. »Und ihr?«

»Mara und Reinhold Weissinger«, antwortete der Professor. »Sie ist meine Nichte.«

»Freut mich«, sagte Willi und lächelte freundlich. »Ist es okay, wenn ich Musik anmache?«

»Kommt drauf an«, murmelte Mara, die nichts nerviger fand als den Einheitsbrei der einschlägigen Radiosender.

Aber der Professor sah sie tadelnd an. »Nur zu! Wer fährt, bestimmt.«

Willi grinste und drückte eine Taste an seinem Lenkrad. Mara betrachtete das Lenkrad genauer und erkannte, dass er von dort wohl auch die Lautstärke und den CD-Player bedienen konnte. Praktisch. Vor allem für ihn, denn vermutlich hätte er Schwierigkeiten gehabt, das Radio über seinen mächtigen Bauch hinweg zu erreichen.

Doch nun war sie erst einmal verwundert, als ihr aus den Boxen nicht Das Beste der Achtziger, Neunziger und von heute entgegenschepperte. Stattdessen hörte sie ein paar Akkorde aus akustischen Gitarren. Und dann eine Männerstimme, die man nicht anders als »samtig« bezeichnen konnte.

Ev’rybody gonna pray

On the very last day

»Na, das passt ja«, ließ sich der Professor vernehmen. Und da stimmten auch schon zwei weitere Stimmen ein.

Ev’rybody gonna pray

To the heavens on the judgement day

Da Mara sich immer schon für die Texte der Songs interessiert hatte, die ihr auch ansonsten gefielen, konnte sie gut genug Englisch, um zu verstehen, um was es in diesem Lied ging. Leise stöhnte sie auf.

»Judgement Day … Die singen nicht wirklich vom Weltuntergang, oder?«, fragte sie in die Runde und der Professor lachte trocken auf. »Ich bin ehrlich gesagt auch etwas baff. Das nenn ich mal einen Zufall.«

Willi kicherte ebenfalls: »Ja, das passt echt ganz gut auf diese Sache von der letzten Nacht. Kann mir vorstellen, dass ein paar Leute gedacht haben, die Welt geht unter. Das muss man sich mal vorstellen: Der Tankwart aus dem Ort hinter uns hat mir erzählt, dass ihm der gesamte Inhalt seiner Kühlschränke um die Ohren geflogen ist. Und er schwört bei allem, was ihm heilig ist, dass die Getränke aus den Flaschen und den Dosen einfach nur rauswollten, weil …« Er machte eine Pause als würde er erst jetzt darüber nachdenken. »… weil sie irgendwohin wollten …« Willi runzelte die Stirn und schwieg. Eine Weile hörten sie still dem Song zu.

Get ready, brother, for that day

Ev’rybody gonna pray

When you hear that bell

Ring the world away

»Wenn du die Glocke hörst, die die Welt wegbimmelt?«, fragte Mara stirnrunzelnd.

»Na ja, so ähnlich. Auf Deutsch würde man wohl eher sagen, die Glocke läutet das Ende der Welt ein«, antwortete Professor Weissinger. Aber ihm war anzusehen, dass ihn das Lied auch nicht gerade fröhlicher machte. Trotzdem übte der Text zusammen mit dem eindringlichen Gesang der drei Stimmen eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus. Es war fast unmöglich, sich dem Song zu entziehen. Oder ging es nur ihnen so, wegen all des Weltuntergangswahnsinns?

Ev’rybody gonna pray

To the heavens on the judgement day

Ein letztes Mal hatten die zwei Männer und die Frauenstimme den Refrain angestimmt, dann endete das Lied mit einem finalen Gitarrenakkord.

»Peter, Paul & Mary …«, sagte Willi in dem Moment und es klang verzückt. »Die sind einfach immer noch der absolute Hammer.«

Das Erste, an das Mara bei den drei Namen dachte, war das Lehrbuch aus dem Englischunterricht. Wie hieß doch gleich der Hund … Egal.

Sie wurde unruhig. So langsam brannte es ihr doch unter den Nägeln, sich mit dem Professor über das vorhin Erlebte und Erfahrene auszutauschen. Der Ende-der-Welt-Song gerade eben hatte das noch mal verstärkt. Abgesehen von der niederschmetternden Gewissheit, ein Götterfass zu sein, waren ihr noch ein paar Dinge aufgefallen, die vielleicht wichtig werden könnten.

Mara überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass sie sich jetzt mit dem Professor unterhalten wollte und nicht erst in ein paar Stunden. Sie spürte kurz in sich hinein und sofort wurde ihr klar, dass sie es gar nicht erst versuchen brauchte mit Gehirnstimmen, Visionen oder Ähnlichem. Maras Magie-Akku stand bei minus tausend und in etwa auf dem Level befand sich auch ihr Bock-O-Meter auf irgendwelchen Seherinnen-Kram.

Aber wer weiß denn, ob es nicht gleich wieder losgeht, und plötzlich stehen wieder schwarzäugige Heinis vor mir, oder es wachsen Römerzombies aus dem Boden! Ich will jetzt mit dem Professor reden. Jetzt!

Und da kam ihr eine Idee: Warum sollten sie sich denn nicht über nordisch-germanische Göttergeschichten unterhalten? Sie musste doch eigentlich nur weglassen, dass sie es mit eigenen Augen gesehen hatten, oder nicht?

»Apropos Ende der Welt. Wissen Sie eigentlich, dass …«, fing sie also an und schwieg sofort wieder, als sie der Professor alarmierend ansah.

»Nein, was denn?«, fragte Willi nach, und Mara verstand: Sie hatte den Professor gesiezt, obwohl er sich ja als ihr Onkel vorgestellt hatte. Also hatte sich natürlich jetzt Willi angesprochen gefühlt. Nun ja, warum nicht. Mara warf dem Professor einen vielsagenden Blick zu und begann nun in Richtung von Willi zu erzählen: »Na, ich meine, da gibt’s doch diese Religion. Beziehungsweise gab es, weil gibt’s jetzt nicht mehr. Also gibt’s so mehr oder weniger, nicht mehr so richtig, aber …«

Sie bemerkte, dass Willi ihr nicht so richtig folgen konnte. Und das lag nicht an seinem Intellekt, sondern an ihrem dämlichen Gestammel. Auch die beiden Raben sahen Mara irgendwie mitleidig an, und das nervte Mara noch mehr!

Konzentration!, dachte sie und fing einfach noch einmal von vorne an. »Es gibt auch ein Ende der Welt in der nordisch-germanischen Mythologie, wollte ich sagen. Da heißt es Ragnarök.«

»Nordisch-germanisch?«, sagte Willi. »Ach, na klar, Wotan, Donar und die dicken Frauen mit den Hörnerhelmen! Kenn ich!«

Der Professor stöhnte so lautstark auf, dass Mara für einen Moment dachte, er würde die beiden Raben vom Armaturenbrett pusten.

»Genau!«, erwiderte sie trotzdem. »Ist ja toll, dass Sie sich da so gut auskennen!«

»Tja, hab ich alles meinem erlesenen Musikgeschmack zu verdanken«, erklärte Willi stolz.

»Schon klar … Wagner«, seufzte Professor Weissinger neben Mara durch das Führerhaus.

»Was? Nee, um Gottes willen! Heavy Metal!«, lachte Willi und zog mit geübtem Griff eine CD-Hülle aus dem Seitenfach an der Tür. Mara reichte sie an den Professor weiter, und der zog die Augenbrauen hoch. »Manowar? Aha.«

Der Professor studierte die CD-Hülle:

»Hörnerhelme, wie nett« …

»Soll ich es einlegen?«, bot Willi an. Wussten die Raben, was Heavy Metal war? Zumindest schien ihnen Willis Angebot auch eher als eine Art Drohung vorzukommen: Sie blickten unruhig zwischen der CD-Hülle und Mara hin und her.

»Vielleicht später, vielen Dank«, beeilte sich Professor Weissinger zu sagen, und auch die Raben schienen wieder zu entspannen. Mara selbst hatte mit Heavy Metal keine großen Probleme. Ihrer Meinung nach gab es kaum ein Metal-Stück, dass es von der Härte mit »Helter Skelter« der Beatles aufnehmen konnte. Nicht umsonst hatten es einige Heavy-Bands schon mal gecovert. Und alle waren sie im Vergleich zahmer gewesen. Wo war sie gleich noch mal stehen geblieben? Ach ja, Götterdings.

»Also, was ich ja so interessant finde, ist, dass es da diesen Heimdall gibt«, machte Mara weiter.

»Der Wächter auf der Brücke namens Bifröst«, ergänzte Professor Weissinger.

»Aha, ich meine ja, ja, genau der. Und der hat wohl ein Problem mit Loki.«

»Mit wem?«, fragte Willi dazwischen, aber der Professor kam gerade in Fahrt. »Ja, Heimdall und Loki sind Erzfeinde, musst du wissen. Kein Wunder, dass Heimdall der Erste war, der spürte, dass Loki noch immer quicklebendig und bei Kräften ist. Er hat Loki immer misstraut und jeden seiner Schritte bewacht. Die beiden treten auch während der Ragnarök gegeneinander an und töten sich gegenseitig.«

»Nein!«, rief Mara erschrocken, und Willi sah verwundert rüber.

Sofort bemühte sich der Professor um eine Erklärung für diesen emotionalen Ausbruch. »Aber Mara, das ist doch nur eine alte Geschichte aus der Edda. Und außerdem wollen wir die ja verhindern, die Götterdämmerung … äh, nicht wahr, Willi?«

»Öh, ja, ich denke mal schon …«, antwortete der zunehmend verwirrt. Eigentlich war das doch eine Unterhaltung gewesen, die mit ihm und dem Mädchen begonnen hatte. Aber Willi musste nun langsam das Gefühl bekommen, keine allzu große Rolle mehr zu spielen. Wie konnte er ahnen, dass seine Rolle nicht nur nicht groß, sondern im Gegenteil so winzig klein war, dass selbst ein Bakterium ein Mikroskop gebraucht hätte, um sie wahrzunehmen.

»Also, der Heimdall hat bemerkt, dass es Loki noch gibt und dass es ihm, mal von den Fesseln und der Schlange abgesehen, in seinem Gefängnis viel besser geht als den anderen Göttern?«, überlegte Mara laut weiter.

»Ja genau, so stelle ich mir das vor«, stimmte der Professor zu. »Und daraufhin weckte er all die anderen Götter mit dem Gjallarhorn und …«

»Mit wem?«, fragten Mara und Willi gleichzeitig, und der Professor stöhnte auf. »Mit dem gellenden Horn, Mara. Eine mächtig laute Tröte, was Jungs?« Die beiden Raben nickten schicksalsergeben. Vielleicht hatte das Höllenhorn die beiden mehr als einmal aus der Luft getutet. Mara war froh, dass Willi die Augen auf der Straße hatte und nicht auf die beiden Raben achtete.

»Und kaum waren sie alle wachgegjallart, beschloss man, was zu unternehmen«, sprach der Professor gerade weiter. »Aber wie sollten die alten Götter das anstellen? Kaum jemand glaubt mehr an sie, keiner bringt ihnen mehr Gebete oder Opfer dar. Und ich denke, wenn ein Gott nichts mehr hat außer vielleicht die Erwähnung in einem Wochentagsnamen, dann ist da nicht mehr viel zu wollen. Odin und Konsorten sind heute nur noch Schatten ihrer selbst. Darum fürchten sie alle Lokis Rache, denn nun ist er – dank seinem Gefängnis jenseits von Raum und Zeit – der mächtigste Gott aller Asen!«

»Also, davon hab ich bis jetzt in keinem Song von Manowar gehört«, murmelte Willi.

Aber Mara war viel zu aufgeregt, um jetzt auf ihn zu achten. »Und weil sie so schwach waren, haben sie nach einem Menschen gesucht, der ihr Fass sein sollte?«

»Wer sie? Ich komm nicht ganz mit«, versuchte Willi einzuwerfen und wurde weiterhin ignoriert.

»Richtig!«, rief der Professor so laut, dass Willi zusammenzuckte. »Und darum hast du eben doch eine ganz spezielle Fähigkeit!«

Willi sah verwirrt zum Professor. »Wer? Warum? Wer hat jetzt hier eine Fähigkeit? Sagt mal, was ist denn hier bitte los!?«

Professor Weissinger setzte sofort sein bestes Harmlosgesicht auf und sprach mit der Ruhe eines tibetischen Mönchs kurz nach der Morgenmeditation: »Gar nichts ist los, alles ist in bester Ordnung, wir unterhalten uns nur.«

Doch das schien Willi nicht zu genügen. »Also bitte, ihr schlurft auf der Landstraße rum, habt zwei Raben dabei und redet vom Ende der Welt als wär’s morgen Vormittag um neun! Entschuldigung, aber seid ihr noch ganz dicht?«

Du glaubst ja gar nicht, wie oft ich mir diese Frage in der letzten Zeit gestellt hab, dachte Mara ...

Gleichzeitig hatten sie nun beide erkannt, dass sie wohl ein wenig zu weit gegangen waren. Auch Hugin und Munin blickten recht vorwurfsvoll drein.

Diese Situation war, zumindest für Mara, eine neue Erfahrung. Jetzt bin ich schon wie der Professor, dachte sie. Kaum dass ich was durchblickt hab, krieg ich einen Laberflash. Oh Mann.

Wie immer war es Professor Weissinger, der eine Antwort parat hatte. »Ach nein …«, winkte er ab. »Es ist alles viel banaler, als Sie denken. Mara soll nur in einer Schulaufführung die Frau des listigen Gottes Loki spielen …«

»Genau, Sigyn! Ich spiel die Sigyn, nämlich!«, warf Mara etwas zu laut ein, und der Professor nickte. »Exakt, und das Stück ist leider ein wenig kompliziert. Da ich mich in dem Thema recht gut auskenne – rein hobbymäßig – muss ich ihr nun helfen, die Zusammenhänge zu klären.«

»Schulaufführung?«, sagte Willi und zog seine Stirn in Falten. Er sah skeptisch aus, und beide starrten ihn erwartungsvoll an. Würde er den Köder schlucken?

Doch da lachte der massige Mann hinter dem Steuer und schüttelte den Kopf. »Du liebes bisschen, das kenn ich noch von früher. Musste da auch ein paar Mal mitmachen und hab nie verstanden, um was es geht!« Und dann lachte er so laut, dass es in Maras Ohr ein paarmal ganz laut knackste. »Schon in der dritten Klasse haben wir die Fabel von dem Hasen und dem Igel aufgeführt, und ich hab’s nicht gerafft! Ich war damals schon ein bisschen pummelig und sollte darum die Doppelrolle von Herrn und Frau Igel spielen. Hab aber das Stück nie gelesen und drum nicht gecheckt, warum ich immer schon da sein sollte, wo doch der Hase viel schneller läuft, hahaha!«

Um Gottes willen, schau nach vorne!, dachte Mara, als Willi auffordernd zu seinen beiden Beifahrern hinüberlachte. Irgendwie war klar, dass er erst wieder nach vorne schauen würde, wenn sie beide genug mitlachten. Also bemühte sich Mara, ebenso wie Professor Weissinger, um ein einigermaßen authentisches Gelächter. Hauptsache, der schaute wieder nach vorne.

»Na, dann macht mal weiter mit eurer Analyse, ich find’s ja ganz spannend. Lern ich vielleicht doch noch was«, kicherte Willi und wendete sich dann endlich wieder der Straße zu.

Mara und der Professor sahen sich an, und beide atmeten so erleichtert aus, dass sie den Luftzug des anderen in ihren Gesichtern spürten. Das erinnerte Mara an etwas anderes: »Ähm, Sie haben nicht zufällig einen Kaugummi oder ein Mintdrops oder so was in der Art?«

Willli lachte noch einmal: »Haha, na klar. Direkt vor dir in der Ablage findest du ein ganzes Sortiment an »Lufterfrischern«, wenn du das meinst.«

»Mein‘ ich, danke«, antwortete Mara, fummelte zwei Lutschpastillen aus einer Packung, auf der die Worte »Fresh« und »Extra« besonders groß gedruckt waren, und steckte sich eine davon in den Mund. Die andere legte sie dem Professor in die dankbar geöffnete Hand.

»Wo waren wir? Ach ja, richtig«, fuhr dieser schließlich vielsagend fort. »Nun, Mara … die Rolle, die du in dem Ganzen spielst, ist tatsächlich die eines Fasses.«

»Hey, das wär doch eigentlich eine Rolle für mich!«, warf Willi ein und kicherte wieder.

»Glauben Sie mir, das wollen Sie nicht spielen«, antwortete Mara trocken.

»Es ist ja auch eher ein Fass im Sinne eines perfekten Behälters gemeint«, erklärte der Professor. »Bei anderen, weniger perfekten Fässern ginge vielleicht was daneben, und da läuft auch schon mal was aus, verstehst du? Bei dir eben nicht. Wenn man dich mit Götterkräften auffüllt …« Professor Weissinger sah kurz zu Willi hinüber, der schon wieder die Stirn runzelte. »Also, dich in der Rolle in dem Stück, du verstehst …« Und Mara nickte eifrig.

»Also, wenn man dich mit Götterkraft auffüllt, dann kann man sicher sein, dass du nichts davon verschwendest und dass es im Sinne der Sache eingesetzt wird. Weil du ein reines Herz hast und weil du nichts nur zu deinem eigenen Vorteil tun würdest.«

Mara überlegte einen Moment. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Tja, das haben die jetzt davon, die Götter. Eine Spákona, die keinen Bock hat und dazu ’nen größenwahnsinnigen Esoknilch, einen jähzornigen Feuerbringer und ein gemeingefährliches Eichhörnchen.«

»So!«, rief Willi dazwischen. »Jetzt reicht’s mir aber!«

Erschrocken sahen Mara und der Professor ihn an.

»Das ist ja wohl der größte Schwachsinn, den ich jemals gehört hab!«, schimpfte Willi weiter, und sein Gesicht wurde dabei immer röter. »Was für ein blödes Theaterstück ist das denn bitte? Was denken sich denn die Lehrer bei so was! Warum kann man die alten Geschichten nicht einfach so aufführen, wie sie gehören! Muss da immer dieser moderne Kram mit rein ge… gedingst werden? Ich meine, was hat bitte ein Eichhörnchen mit der Götterdämmerung zu tun?«

»Mehr als Sie denken«, sagte Mara leise, aber Willi hörte es nicht, denn er war jetzt richtig wütend.

»Wieso müssen Kinder in deinem Alter ein Stück spielen, das hinten und vorn keinen Sinn macht, außer man entschlüsselt es zusammen mit dem Opa, der sich zufällig damit auskennt!? Also, da ist was ganz schön faul an unserem Schulsystem, sag ich euch! Ich weiß schon, warum ich da selten war, in dem Laden. Also wirklich! Götterdämmerung mit Eichhörnchen, wo gibt’s denn so was!?« Willi lachte trocken und verstellte dann seine Stimme zu einem theatralischen Säuseln. »Oh nein, seht, da ist das Eichhörnchen, und es stürzt uns alle in die Hö…«

In dieser Sekunde stieg Willi so brutal auf die Bremse, dass Mara von dem Gurt die Luft wegblieb!

Die Bremsen quietschten, und sie spürte gleichzeitig, wie das Gewicht des Anhängers den Truck nach vorne und zur Seite schob! Würden sie umkippen? Nein, Willi war ein routinierter Trucker und hatte das riesige Gefährt sofort wieder unter Kontrolle. Dann kam der Laster endlich zum Stillstand, und Mara schaute erschrocken hinüber zu Willi. Der sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen.

»Hallo?«, fragte Mara vorsichtig, aber Willi reagierte nicht. Er sah nur nach vorne und blinzelte nicht einmal.

»Mara! Da!«, rief der Professor und deutete schräg nach unten auf die Straße. Mara folgte seinem Zeigefinger und sah: Ratatösk.

Das kleine rote Eichhörnchen saß mitten auf der Straße. In den putzigen Krallen hielt es den Stab, und nach wie vor war der Delfin oben befestigt.

»Was will es?«, flüsterte Mara. Obwohl sie oben im Führerhaus des LKWs saßen, war ihr irgendwie mulmig zumute.


»Keine Ahnung«, gab der Professor zurück. »Aber es sieht wütend aus, findest du nicht?«

Da meldete sich Willi zu Wort. »Warum geht das Tier nicht weg? Und warum hat es ein Stück Holz?«

Bevor irgendwer was antworten konnte, griff Willi zur großen Drucklufthupe und zog. Ein lautes dröhnendes Tuten ertönte. Das Eichhörnchen rührte sich nicht.

»Wer das Gjallarhorn gewöhnt ist, dürfte sich kaum vor einer Lastwagenhupe fürchten«, murmelte der Professor.

»Gibt’s doch nicht.« Willi schüttelte erstaunt den Kopf und drückte dann auf den Fensterheber.

»Moment!«, entfuhr es Mara erschrocken, die genau wusste, wie schnell Ratatösk in Willis Haaren stecken würde, wenn es nur wollte. Doch Willi hatte schon seinen Kopf aus dem Fenster geschoben und machte: »Ksch! Ksch! Gehste weg! Ja, gehst du weg!«

Er wartete einen Moment, aber nichts passierte. Willi zog seinen Kopf wieder zurück und setzte sich gerade hin. Dann zuckte er mit den Schultern. »Dann halt nicht«, sagte er und startete den Motor.

»Sie wollen doch nicht …«, rief Mara erschrocken und wunderte sich im selben Moment, warum ihr das jetzt gegen den Strich ging. Das da vorne war Ratatösk, verdammt noch mal! Ihr Feind! Und er hatte ihren Stab, verdammt! Eine Stimme in Mara schrie: »Fahr’s platt!« Eine andere, zaghaftere Stimme flüsterte jedoch gleichzeitig irgendwas von »Puschelschwänzchen« und »Knopfaugi« und war trotz der Flüsterei irgendwie viel, viel lauter. Warum musste es auch ausgerechnet ein Eichhörnchen sein!

Der Professor sagte gar nichts, aber seine linke Hand suchte Halt an einem Griff über der Tür. Auf was, bitte, bereitete er sich denn vor?

»So. Wird spät, ich muss los«, sagte Willi trocken und löste die Handbremse. Er startete den mächtigen Motor der Zugmaschine, und Mara spürte die Vibration im ganzen Körper. Sie bemerkte, wie die beiden Raben freudig erregt mit den Flügeln schlugen und ertappte sich kurz dabei, sie voll gemein zu finden.

Willi ließ den LKW einen drohenden Ruck vollführen, aber Ratatösk zuckte nicht mal.

»Das gibt es doch nicht«, brummte der massige Mann und schickte sich nun tatsächlich an, das kleine Tier zu überrollen.

»Nein!«, schrie Mara und fasste Willi an den Arm. Das war nicht richtig! Egal, was das Mistviech getan oder vorgehabt hatte zu tun, das war falsch!

Und da kam plötzlich Bewegung in das Eichhörnchen. Es hob den Stab hoch über den kleinen Kopf. Mara und der Professor duckten sich instinktiv. Die Knopfaugen funkelten wütend. Der Motor röhrte ein weiteres Mal auf …

… und Ratatösk warf Maras Stab wütend vor sich auf die Straße. Dann machte es eine uneichhörnchenhafte Bewegung, die sie alle hochgradig erstaunte, und war dann so schnell verschwunden, als hätte es jemand weggebeamt. Nur das raschelnde Gebüsch am Straßenrand verriet, dass hier gerade ein kleines Tier durchgeschlüpft war.

Eine ganze Weile war es still im Truck. Dann schaltete Willi den Motor wieder aus. Erst nach einer weiteren langen Pause drehte er sich zu Mara und dem Professor und sagte dann mit lahmer Stimme: »Hat dieses Tier gerade wirklich das gemacht, was ich glaube, dass es das gemacht hat?«

Mara nickte, und der Professor tat es ihr gleich.

»Und ich hab mir das nicht nur eingebildet, es hat damit tatsächlich mich gemeint?«

Wieder nickten die beiden. Es hatte eindeutig Willi angesehen.

Dann war es wieder still. Willi überlegte.

»Also bin ich nicht verrückt, wenn ich jetzt sage, dass da gerade ein Eichhörnchen mit seinen kleinen ausgestreckten Fingerchen erst auf seine eigenen Augen und dann auf meine gedeutet hat, als wäre es Robert De Niro, der sagen will: ›Ich sehe dich, Mann.‹?«

»Nein, ich finde, das haben Sie sehr treffend beschrieben, Willi«, antwortete der Professor. »Willst du nicht deinen Stab holen, Mara?«

Mara nickte. Der Professor öffnete die Beifahrertür, löste seinen Gurt und stieg aus. Mara kletterte hinter ihm aus dem Führerhaus und ging um den Kotflügel des Wagens herum. Kaum zu glauben, aber hier lag ihr Stab, scheinbar unversehrt. Sie hob ihn hoch und spürte sofort die vertraute Kälte.

»Ob das vielleicht so was wie eine Falle ist?«, fragte sie, als sie zum Professor trat und dabei den Stab nicht aus den Augen ließ.

»Keine Ahnung. Aber ich glaube, ehrlich gesagt, dass Ratatösk einfach nur sauer war, dass der Stab wider Erwarten keine eigene Kraft hat und der Delfin auch bereits ausgelaugt ist.«

»Sie meinen, das Mistviech dachte die ganze Zeit über, es wären der Stab und der Delfin, die mir meine Kräfte verleihen?«

Der Professor nickte. »Nun, das wäre doch eine gute Erklärung, warum es hinter beidem so hartnäckig her war, oder?«

Mara versuchte, sich an die Situationen zu erinnern, in denen ihnen Ratatösk begegnet war, und es war tatsächlich so, wie der Professor gesagt hatte: Das Puschelmonster war immer nur an dem Stab und dem Delfin interessiert gewesen und nicht an Mara. Gut, ihre Haare mal ausgenommen, aber das war wohl so eine Mischung aus Wut, Boshaftigkeit und Spieltrieb gewesen …

»Ja, da haben Sie vielleicht wirklich recht«, überlegte Mara und kletterte mit dem Stab wieder ins Führerhaus. Dort saß immer noch Willi und schaute auf die Stelle, wo vor einer Minute noch ein Eichhörnchen seinem Truck getrotzt und ihn danach recht eindrucksvoll bedroht hatte.

»Es hat so gemacht …«, wisperte Willi ungläubig und machte die Geste dabei ein paar Mal fahrig nach. »Das Eichhörnchen hat so gemacht. Ich hab’s gesehen. Ich dreh durch.«

»Ach bitte, tun Sie das nicht, Willi. Das ist nicht gut für Ihren und erst recht nicht für unseren Zeitplan«, ließ sich der Professor vernehmen, als er hinter Mara ins Führerhaus stieg. »Wir können Ihnen das gerne alles erklären, wenn Sie wollen. Aber danach müssten wir sie leider erschießen.«

Willis Gesichtszüge entgleisten, als wären hier die Schienen zu Ende. Mara sah den Professor vorwurfsvoll an, und der winkte seufzend ab. »Gut, das war vielleicht jetzt nicht der allergeschmackvollste Scherz, aber ich versichere Ihnen, es war trotzdem einer.«

Es dauerte eine lange Sekunde, bis sich Willi ein »Witzig« abrang.

»Danke«, antwortete der Professor der Höflichkeit halber.

»Ähm, wollen wir vielleicht weiterfahren?«, schlug Mara etwas hilflos vor. »Wir könnten uns ja während der Fahrt auch noch weiterwundern … oder so.«

»Von wegen!«, rief Willi jetzt ganz aufgebracht. »Entweder ihr erzählt mir jetzt, was hier los ist, oder ihr steigt sofort aus! Irgendwas läuft hier ganz komisch, und ich kann es gar nicht leiden, wenn mich jemand verscheißert, und warum schaut mich der eine Rabe so komisch an?«

»gleymið«, sagte Munin, und Willi wurde still.

Mara und der Feuerbringer

Подняться наверх