Читать книгу Sklavenhölle - Tomàs de Torres - Страница 10

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DIE FAHRT DAUERTE NUR EIN PAAR MINUTEN. Zum Ausgleich gab sie ein gutes Trinkgeld, das der griesgrämige Chauffeur jedoch nicht zu bemerken schien. Kaum hatte sie die Tür zugeschlagen, brauste er mit quietschenden Reifen davon.

Sie blickte sich um.

Sie befand sich in der sogenannten »Midtown South«: meist alt aussehende, vier- bis fünfstöckige Häuser in Braun oder Grau, teilweise noch mit Feuerleitern, wie in alten Filmen. Unten kleine Geschäfte, darüber Wohnungen oder Büros. Haus Nummer 44 stach heraus: ein etwa 15-stöckiger Koloss aus graubraunem Stein, der aussah, als hätte er seinen 100. Geburtstag bereits hinter sich. Ein wuchtiges Tor im Jugendstil, daneben eine Reihe schmaler Läden. Eine Handvoll Passanten.

Elizabeth packte ihre Handtasche, als suche sie einen Halt, straffte sich und trat durch das Portal, in das eine moderne Glastür eingelassen war. Dahinter befand sich ein Lift, ein Treppenaufgang sowie eine Reihe von Klingelknöpfen mit dazugehörigen Briefkastenschlitzen. Sie holte ihren Schlüssel heraus und drückte den Rufknopf des Aufzugs.

Der Flur der 14. Etage war leer, Apartment 14 C ging nach hinten hinaus. Elizabeths Schlüssel glitt wie von selbst ins Schloss und sperrte fast geräuschlos. Die Tür schwang auf.

»Hallo?«, rief sie leise und bereit zu einer raschen Flucht.

Keine Antwort. Auf Zehenspitzen trat sie ein und schloss die Tür hinter sich, so lautlos wie möglich, als ob sie eine Kirche beträte – oder eine Gruft.

Das Apartment bestand aus einem Flur, von dem rechts Bad und Küche abzweigten, sowie aus einem großen, kombinierten Wohn- und Schlafzimmer mit Panoramablick auf die Skyline von Manhattan. Es verfügte über eine Klimaanlage, und Elizabeth roch einen Hauch von Farbe – es musste vor Kurzem renoviert worden sein. Die Einrichtung bestand aus einem breiten Bett, einem Schreibtisch mit Computer vor dem Fenster, einem Einbauschrank an der gegenüberliegenden Wand, einem Bücherboard über dem Bett und einem großen Flachbildfernseher. Alles war in Weiß gehalten und sah topmodern und vor allem teuer aus. Das Bett schien über dem Boden zu schweben; erst als Elizabeth sich bückte, bemerkte sie den scheibenförmigen Fuß, auf dem es ruhte. Der Fernsehapparat stand einen Meter vor der Wand, eingelassen in eine kreisförmige, metallisch-weiße Halterung. Die einzigen Farbflecken bildeten ein dunkelrotes Kopfkissen auf dem faltenfreien Bettbezug sowie die blauen Rücken der Bücher: eine Klassiker-Edition von Balzac bis Oscar Wilde, darunter Autoren, von denen Elizabeth noch niemals etwas gehört hatte. Zumindest konnte sie sich nicht an sie erinnern.

Steril. Das war das Wort, das ihr als erstes in den Sinn kam, als sie mit der Betrachtung des Raums fertig war. Nichts lag herum. Die TV-Fernbedienung steckte in einem dafür vorgesehenen Einschub an der Halterung des Geräts, auf dem Schreibtisch befanden sich nur Maus mit Mousepad, Tastatur und Bildschirm. Der Computer – ebenfalls in Weiß – stand darunter. Keine Zeitschriften, keine hingeworfenen Kleidungsstücke, nicht einmal Block und Bleistift.

Leer wie … wie mein Gehirn!, dachte sie. Bin ich so ein ordentlicher Mensch?

Sie schüttelte den Kopf. Irgendwie konnte sie sich das nicht vorstellen. Niemand konnte so ordentlich sein.

Sie ging in die Küche und schaltete das Licht ein. Rechts eine hochmoderne Küchenzeile, wie sie es mittlerweile nicht mehr anders erwartet hatte, auf der anderen Seite ein weißer Tisch mit vier ebensolchen Stühlen. Auch hier lag nichts herum, nicht einmal ein Schwamm oder ein Geschirrtuch. Probehalber öffnete sie einige Türen des Hängeschranks: Geschirr, Schwämme, Putzmittel, Abfallbeutel – alles da. Ebenso diverse Büchsengerichte.

Ihr fiel etwas ein. Sie eilte zurück ins Wohnzimmer, warf die Handtasche auf das Bett und riss eine der Türen des Einbauschranks auf.

Mindestens ein Dutzend Kleider und Kostüme hingen fein säuberlich nebeneinander. Im nächsten Abteil fand Elizabeth Unterwäsche, dann Hosen, Röcke, Blusen … Sie zog sich bis auf Slip und BH aus und probierte einiges an. Alles passte wie maßgeschneidert, aber es war entweder in Schwarz oder in bunten, manchmal geradezu grellen Farben. Es gefiel ihr nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, all diese Kleidung selbst ausgesucht zu haben. Als ob …

Ihr Blick glitt zu dem Bücherbord.

Als ob jemand der Ansicht gewesen wäre, hier gehörten Bücher hin, und dann einfach einen Meter repräsentativer Klassiker geordert hätte.

»Jemand« – wer auch immer. Keinesfalls sie selbst.

Nein, diese Wohnung beantwortete keine von Elizabeths Fragen, sondern warf nur neue auf.

Sie hängte die Kleider zurück in den Schrank. Als ihre Hand an der Tasche eines Blazers entlangstreifte, stutzte sie. Irgendein sperriger Gegenstand befand sich darin. Sie zog ihn heraus.

Er sah aus wie ein Hundehalsband aus schwarzem Leder, beinahe vier Zentimeter breit und mit glänzenden, rautenförmigen Nieten besetzt. Im Nacken befand sich ein kleines, aber stabiles Schloss, und vorn hing ein dreieckiges Metallschild, ähnlich einer Hundemarke, in Schwarz mit einer silbernen Gravur.

»Charlie«, las Elizabeth.

Nur ein einziges Wort, doch es löste einen Sturm von Gefühlen in ihr aus. Nicht wirklichen Erinnerungen, lediglich verschwommenen Eindrücken, die etwas wie tiefe Ruhe und Zufriedenheit, aber auch Zuneigung, vielleicht sogar Liebe widerspiegelten.

»Charlie …«

Sie schloss die rechte Hand um die Hundemarke. Sie fühlte sich warm und vertraut an.

Der Blitz einer Erkenntnis durchfuhr sie.

»Charlie – das bin ich! Mein Name ist nicht Elizabeth!«

Ohne das Halsband wegzulegen begann sie, mit der freien Hand ihre Kleidung abzustreifen, einschließlich Schuhen und Strümpfen, bis sie nackt dastand. In dem auf der Innenseite der Schranktür angebrachten Spiegel sah sie ihr gerötetes Gesicht und das hektische Heben und Senken ihrer verstriemten Brüste. Die karmesinroten Warzen hatten sich aufgerichtet, und als Elizabeth – nein, Charlie – in einer fast automatischen Bewegung das Halsband hob und das kühle Leder ihren Nacken berührte, richteten sich die Härchen an ihren Armen und Schenkeln auf.

Sie legte sich das Halsband um und ließ den Bügel des Nackenschlosses einschnappen. Dass sie keinen Schlüssel besaß, wusste sie, woher auch immer, doch es störte sie nicht.

Das Halsband saß perfekt. Charlie konnte gerade noch den kleinen Finger zwischen Hals und Leder schieben. Dennoch war es nicht unbequem, im Gegenteil: Es fühlte sich vertraut an und vermittelte ein Gefühl von … Geborgenheit.

Das Halsband mit der Hundemarke gehörte ihr, kein Zweifel. Vielleicht als einziger von allen Gegenständen in diesem leblosen Apartment.

Abermals musterte Charlie ihren nackten Körper im Spiegel.

Etwas fehlt …

Einem Impuls folgend, griff sie in die Blazertasche, in der das Halsband gesteckt hatte. Ihre Finger tasteten umher – und stießen an ein kleines Objekt. Sie holte es heraus und sog überrascht die Luft ein.

Ein schwerer Ring aus schwarzem Eisen, auf dem eine auffällige Scheibe von mehr als zwei Zentimetern Durchmesser saß. Sie schien aus Silber zu bestehen und wies als einzigen Schmuck eine langgestreckte, liegende Acht auf.

Das Unendlichkeitssymbol, schoss es Charlie durch den Kopf. Doch im Zusammenhang mit dem Eisenring bedeutete es noch etwas anderes, wie sie plötzlich wieder wusste: das Symbol einer ewigen, unauflöslichen Bindung. Abermals hatte sie keine Ahnung, woher sie dieses Wissen bezog.

Ohne zu zögern steckte sie den Ring an den Ringfinger der rechten Hand. Natürlich passte er perfekt.

Sie schloss die Schranktüren und sah sich um. Dieses Apartment, aber auch der Führerschein in ihrer Handtasche, die Sozialversicherungskarte, sogar der Vertrag mit S & M Dreams Inc. – alles war auf einen falschen Namen ausgestellt. Nicht mehr als Blendwerk, Fassade. So wie die falschen Fassaden von Filmkulissen. Oder wie die nachgebaute Kerkerzelle bei slavehell.com.

Aber was verbirgt sich dahinter?

Solange sie nicht zumindest einen Teil ihres Gedächtnisses wiedererlangte, konnte sie diese drängendste aller Fragen nicht beantworten.

Immer noch nackt ging Charlie in das an die Küche angrenzende Bad. Es war ebenso modern und teuer eingerichtet wie die anderen Räume. Sie benutzte die Toilette, doch dabei beschlich sie ein seltsames Gefühl, beinahe so, als würde sie etwas Verbotenes tun. Ihre Hand glitt zu dem Halsband, das sie nicht mehr abnehmen konnte. Der Funke einer Erinnerung glomm in ihr auf.

Solange ich das Halsband trage …

Es gab viele Dinge, die ihr verboten waren, solange sie das Halsband trug – aber welche?

Sie verließ das Bad. Ihr Blick fiel auf das Telefon, das an der Wand neben der Tür hing. Als sie das Apartment betreten hatte, war sie zu aufgeregt gewesen, um es zu bemerken.

Sie streckte den Arm nach dem Hörer aus, doch dann ließ sie ihn wieder sinken. Wen sollte sie anrufen? Welche Nummer sollte sie wählen?

Zurück im Wohnzimmer ließ sie sich auf das Bett fallen. Verzweiflung drohte sie zu überwältigen angesichts der Leere in ihrem Gehirn. Ohne einen Anstoß von außen würde sie nicht in der Lage sein, sich zu erinnern. Ein vertrauter Geruch vielleicht, ein Foto oder ganz allgemein irgendein Gegenstand, der Assoziationen hervorrief …

Sie wandte den Kopf zum Fenster. Die Sonne stand mittlerweile so tief, dass der Schatten des Computer-Bildschirms quer durch das Zimmer auf die Schrankwand geworfen wurde.

Abrupt setzte sie sich auf.

Der Computer!

Er musste zumindest einige Antworten für sie bereithalten!

Sklavenhölle

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