Читать книгу Sklavenhölle - Tomàs de Torres - Страница 9
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WÄHREND DER FAHRT NACH UNTEN versuchte sie, das Gehörte zu verarbeiten. Man sei mit ihrer »Performance« zufrieden gewesen? Was war damit gemeint? Und was bedeutete das Angebot, als »Residentin« einzuziehen, wenn auch erst einmal nur auf Probe? Und schließlich: Auf irgendeiner Bühne habe eine Anfängerin das »Safewort« gesagt und damit die Show geschmissen?
Der Begriff »Safewort« weckte eine schwache Erinnerung, doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hielt der Lift an. Sie sprang hinaus und konnte dabei gerade noch einem Mann im grauen Anzug ausweichen, der ihr einen bösen Blick zuwarf.
Sie fand sich in einer weiten, mit Marmor ausgelegten Halle wieder, in der sich mehr als ein Dutzend Menschen mehr oder weniger verliefen. Im Hintergrund eine Glasfront, durch die eine belebte Straße zu sehen war. Gedämpfte Verkehrsgeräusche drangen herein.
Sie konnte ihre Ungeduld nicht länger beherrschen. Im Schatten eines Pfeilers riss sie sich die Handtasche von der Schulter und öffnete sie so hastig, dass beinahe der ganze Inhalt herausgefallen wäre. Als ihre schweißnassen Finger über ein Plastikkärtchen strichen, zog sie es heraus.
»New York State« stand ganz oben, und darunter »Enhanced Driver License«. Ein Führerschein des Staates New York! Und das Foto zeigte die Frau aus dem Badezimmerspiegel. Die schwarzen Haare waren etwas kürzer, aber der Schnitt war identisch – das Foto konnte nur wenige Wochen alt sein.
Laut und mit zitternden Lippen las sie den Namen auf dem Dokument, wobei sie jede Silbe einzeln betonte.
»Elizabeth Merrit.«
Der Name sagte ihr absolut nichts.
Fassungslos starrte sie ihr Bild an. War es wirklich möglich, dass man seinen eigenen Namen nicht erkannte, wenn man ihn hörte oder las?
Dennoch: Elizabeth Merrit, das bin ich! Wenigstens habe ich jetzt einen Namen!
»Kann ich Ihnen helfen?«
Elizabeth erschrak so sehr, dass ihr der Führerschein aus der Hand glitt. Sie ging in die Knie, und als sie ihn von dem kühlen Marmorboden aufhob, fiel ihr Blick auf ein Paar schwarzer Stiefel, darüber eine schwarze Hose mit Bügelfalten.
Plötzlich fühlte sich ihre Kehle staubtrocken an und sie glaubte, ihr Herzschlag würde aussetzen. Dann hob sie den Blick – und atmete auf. Der Mann trug ein dunkelblaues Uniformhemd mit dem Abzeichen eines Wachdienstes und sah freundlich-fragend auf sie herab.
Mit einer hölzernen Bewegung richtete sie sich auf. Sie schüttelte den Kopf und schob den Führerschein zurück in die Handtasche. »Wollte nur … nur etwas nachsehen. Danke!«
Die Absätze ihrer Pumps hämmerten über den Marmor, als sie in Richtung der in die Glasfront eingelassenen Drehtür hastete. Sie wagte nicht zurückzublicken.
»Elizabeth«, murmelte sie, als hätte sie Angst, den Namen gleich wieder zu vergessen. »Elizabeth Merrit.« Der Name klang nicht schlecht und hatte eigentlich nur einen einzigen Fehler: Er klang nicht echt. Zumindest nicht in ihren Ohren.
Sie schob sich durch die Drehtür und blieb abrupt stehen. Die nachmittägliche Hitze verschlug ihr beinahe den Atem, dazu kamen der Straßenstaub und der Verkehrslärm.
New York – das muss New York sein!
Sie musterte die vorbeiströmenden Autos. Richtig, die meisten trugen Nummernschilder mit dem Schriftzug »Empire State«.
Was nun?
Sie brauchte einen Platz, an dem sie in Ruhe den Inhalt der Handtasche untersuchen konnte. Die Vertragskopie, die ihr Yolanda ausgehändigt hatte! Darauf stand bestimmt ihre Adresse!
Mit zunehmender Verzweiflung irrte Elizabeth durch die Straßen, bis sich eine Baumreihe in ihr Blickfeld schob. Sie eilte hinüber. »Madison Square Park«, las sie.
Sie betrat den Park.
Er war gut besucht. Paare und Familien mit Kindern umlagerten einen gigantischen Frauenkopf aus weißem Stein, schliefen oder hielten Picknicks ab. Hunde zerrten an den Leinen ihrer Herrchen oder Frauchen. Ein Gitarrist mit einem Rucksack forderte die Passanten mit dünner Stimme auf: »Bésame mucho!« – »Küss mich wild!«
Elizabeth fand eine freie Bank an einem runden Wasserbecken, in dem sich die nadelförmige Spitze des Empire State Buildings spiegelte. Sie öffnete die Handtasche, langsam diesmal. Plötzlich hatte sie Angst vor dem, was sie über sich selbst erfahren würde.
Neben dem üblichen Inhalt wie Papiertaschentüchern, Spiegel, Kamm und Lippenstift fand sie Wohnungs- und Autoschlüssel sowie ein Brieftäschchen mit 78 Dollar und 25 Cent Bargeld und einer Kreditkarte von American Express, ebenso wie eine Sozialversicherungskarte, beides ausgestellt auf ihren Namen.
Sie durchkramte die Tasche ein zweites Mal, von einer nagenden Unruhe getrieben, bis sie sich bewusst wurde, was fehlte: ein Mobiltelefon.
Ihr Blick fiel auf den Wohnungsschlüssel. Natürlich stand da keine Adresse drauf, nur etwas, das wie eine Apartmentnummer aussah: 14 C. Aber auf dem Führerschein musste …
Sie zog den Führerschein erneut heraus und las laut:
»44 West 28th Street, Midtown Manhattan NY 10001.«
Und darunter stand ihr Geburtsdatum: 12. Februar 1991.
Beides weckte keine Erinnerungen, aber das hatte sie mittlerweile auch nicht mehr erwartet. Sie entfaltete die Vertragskopie und verglich die Daten: Name und Adresse stimmten überein.
Der Vertrag!
Bereits nach der Lektüre der ersten Sätze vergaß sie alles um sich herum.
Der mehrseitige Vertrag war abgeschlossen zwischen ihr und einer Firma namens S & M Dreams Inc. mit Sitz in New York City. Aus ihm ging hervor, dass sie sich für die Website slavehell.com – »Sklavenhölle« – beworben hatte, die offensichtlich von dieser Firma betrieben wurde. Elizabeth Merrit willigte ein, für die Dauer von sieben Tagen angekettet in einer verliesartigen Zelle gehalten zu werden. Einmal pro Tag würde sie zu einer mehrstündigen »Show« herausgeholt, in deren Verlauf sie u. a. geschlagen und vergewaltigt würde. Ihr wurde ausdrücklich das Recht zugestanden, durch Aussprechen eines mündlich zu vereinbarenden Safeworts oder, falls sie geknebelt wäre, einer entsprechenden Geste die Show abzubrechen, wenn es für sie unerträglich werden sollte. S & M Dreams Inc. seinerseits behielt sich sämtliche Verwertungsrechte vor, namentlich das Recht, die Show via Livestream im Internet zu übertragen, Aufzeichnungen und Standbilder anzufertigen etc. Das Honorar wurde auf 4000 US-Dollar festgesetzt. Unterzeichnet war der Vertrag von Yolanda Wright und, beinahe kalligrafisch schön, »E. Merrit«.
Beigefügt war ein ausgefülltes und ebenfalls von »E. Merrit« unterschriebenes Formular, auf dem die Anforderungen detailliert festgehalten waren: Die Bewerberin müsse nackt und bereit sein, ihr Gesicht zu zeigen sowie »Kontakt mit dem anderen Geschlecht« zu haben. Des Weiteren würden folgende »BDSM-Spielzeuge« verwendet: Klammern, Rohrstock, Peitsche, Knebel, Stricke, Ketten, Handschellen, Dildos und Vibratoren.
Darunter hatte sie persönliche Daten wie Größe – auch BH-Größe – und Gewicht ausgefüllt und versichert, dass ihr Körper keinerlei entstellende Narben aufwies. Es folgte eine Reihe von Stichworten wie »Hauben«, »Brustspiele«, »vaginale Spielzeuge«, »anale Spielzeuge« und »Kontakt mit dem gleichen Geschlecht«, hinter denen jeweils ein handschriftliches »ok« vermerkt war, offensichtlich von ihr selbst. Schließlich wurde nach Herz- und Kreislaufproblemen gefragt, nach Asthma, Schulter- oder anderen Gelenkverletzungen, Brustimplantaten, Latexallergien sowie Knochenbrüchen und chirurgischen Eingriffen innerhalb der letzten beiden Jahre.
Elizabeth ließ den Vertrag sinken und holte tief Atem. Mit einem Mal fügten sich alle Puzzleteile zu einem einheitlichen Bild. Deshalb die Kameras, die vermeintlich seltsamen Reaktionen der anderen Frauen (»Hi!« hatte die Weißblonde sie begrüßt, wie eine Kollegin), die veränderte Haltung des Zyklopen, nachdem er sie aus ihrer Gefangenschaft befreit hatte, und nicht zuletzt die nüchtern-geschäftliche Atmosphäre in Yolandas Büro.
S & M Dreams Inc.?
Der Name hatte eine Bedeutung, das spürte Elizabeth. Im Gegensatz zu ihrem eigenen Namen umgab ihn der Hauch einer Erinnerung. Doch als sie beinahe krampfhaft darüber nachdachte, kehrten abermals die Kopfschmerzen zurück.
Mit einem Seufzer steckte sie den Vertrag in die Handtasche zurück.
Eine Frage beantwortet er leider nicht, dachte sie – nämlich wodurch ich mein Gedächtnis verloren habe. Wenn ich nur wüsste, wie das passiert ist! Vielleicht wäre das ein Ansatzpunkt für eine Erinnerung …
Mit einem energischen Ruck stand sie auf. Immerhin wusste sie erheblich mehr als vor einer Viertelstunde. Sie besaß nun einen Namen – und eine Wohnadresse! Der Autoschlüssel deutete an, dass ihr Wagen irgendwo in dieser Gegend abgestellt war, vermutlich in einer Tiefgarage oder einem Parkhaus, aber da keine Autonummer darauf stand, hatte sie keine Chance, ihn zu finden.
Doch das brauchte sie auch nicht.
Sie verließ den Park, stellte sich an den Straßenrand, und nach nicht einmal einer Minute kam das erste Taxi in Sicht. Sie winkte es herbei.
»44 West 28«, sagte sie zu dem Fahrer.