Читать книгу Sklavenhölle - Tomàs de Torres - Страница 8
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SO VERGINGEN ZWEI WEITERE TAGE. Zweimal kroch sie durch den Käfiggang in das, was sie bei sich die »Folter- und Lustkammer« nannte, zweimal verbrachte sie dort mehrere schmerz- und lusterfüllte Stunden, und zweimal geleitete sie einer der Wärter zurück in ihre winzige, stinkende Zelle, wo er ihr wieder die Ketten anlegte. Niemals wurde mehr als das Nötigste gesprochen.
Als am dritten Tag der Gong ertönte, fuhr sie zusammen und kroch hastig durch das schmutzige Stroh in Richtung der vergitterten Öffnung. Wie ein wohldressiertes Tier hatte sie gelernt: Ungehorsam oder auch nur Trägheit bedeuteten Schmerz. Und wie bei einem wohldressierten Tier hatten sich ihre Reflexe entsprechend angepasst, beinahe automatisch, ohne ihr Zutun.
Doch diesmal glitt das Gitter nicht nach oben, sondern die Tür zu ihren Füßen öffnete sich.
»Raus!«, kommandierte die Stimme des Zyklopen.
Die Gefangene nahm sich nicht die Zeit, sich umzudrehen, sondern robbte, so schnell sie konnte, rückwärts in Richtung Tür. Ihr Kopf lag immer noch im Stroh der Zelle, als der Mann ihr rechtes Fußgelenk umfasste. Sie stieß einen leisen Schrei aus, doch dann vernahm sie ein Klicken: die eiserne Fußschelle wurde gelöst. Die andere folgte, dann die Handfesseln. Mit einem Seufzer richtete sie sich auf und streckte sich. Als sie es wagte, den Blick zu dem Zyklopen zu heben, erschrak sie beinahe: der Mann mit dem vergrößerten linken Auge lächelte sie an! Und es war nicht etwa ein gehässiges oder verächtliches, sondern ein freundliches, beinahe warmes Lächeln. Zum ersten Mal konnte sie die Farbe seiner Iris erkennen, die sonst stets im tiefen Schatten der Brauen gelegen hatten: ein klares Swimmingpool-Blau.
Mit einem Mal erschien er ihr beinahe menschlich.
»Du hast es geschafft!«, sagte er und schlug ihr auf die Schulter wie einer alten Bekannten oder einer Kollegin. Er nahm ihr den schweren Halsreif ab, dann warf er einen kritischen Blick in die Zelle und rümpfte die Nase. »Mann, ich möchte da nicht eine Woche lang eingesperrt sein! Na, zum Glück muss ich die Sauerei nicht aufputzen. Komm mit mir.«
Während sie ihm durch einen kahlen, von Neonröhren erleuchteten Gang folgte, auf dessen kaltem Betonboden ihre nackten Füße Schmutzspuren hinterließen, schossen ihr tausend Fragen durch den Kopf. Doch sie blieb stumm, als hätte sie das Sprechen verlernt, auch als er eine Tür zur Linken öffnete, aus der Helligkeit und Glanz drang. Gemeinsam betraten sie ein riesiges, aber fensterloses Badezimmer – schon beinahe ein Spa.
»Lass dir Zeit«, sagte er. Er sah auf seine Armbanduhr. »Es ist jetzt Viertel nach eins, Yolanda ist bis fünf im Büro. Wenn du fertig bist, einfach läuten!« Er deutete auf einen Knopf neben der Tür, nickte ihr freundlich zu und ging hinaus. Die Tür fiel ins Schloss.
Die Gefangene lauschte, doch sie vernahm nur das Geräusch sich entfernender Schritte. Kein Schlüssel war umgedreht, kein Riegel vorgeschoben worden.
Bin ich jetzt frei?
Sie presste die Fingerspitzen beider Hände gegen ihre verschwitzte Stirn.
Wenn ich mich nur erinnern könnte!
Doch es schien, als hätte ihr Leben erst vor drei Tagen begonnen, in jener winzigen Zelle.
Sie sah sich um. Das ganz in Cremeweiß gehaltene Bad maß mindestens 40 Quadratmeter und war luxuriös ausgestattet: ein runder Whirlpool, zu dem eine dreistufige Treppe hinaufführte; eine geräumige gläserne Duschkabine; eine Massagebank, auf der ein Kleiderbündel lag, sauber gefaltet; schließlich Bidet und Toilette.
Sie war schon halb auf dem Weg zur Toilette, als ihr Blick auf den breiten Spiegel fiel, der über zwei Waschbecken prangte. Langsam, beinahe ängstlich, trat sie näher.
Eine Frau Anfang der 20 blickte sie an, mit mittellangen schwarzen Haaren, modisch-unregelmäßig geschnitten. Spuren eines Mittelscheitels waren kaum noch zu erkennen, das Haar war verschmutzt und strähnig. Das Gesicht war länglich und, nach einer gründlichen Säuberung, wahrscheinlich hübsch zu nennen, mit einer Stupsnase und einem nicht zu breiten Mund. Falls sie Make-up getragen hatte, war davon keine Spur mehr zu sehen. In den blaugrünen Augen lag ein unsicherer Ausdruck, aber irgendwie mochte sie nicht glauben, dass diese Unsicherheit in ihrem Charakter begründet lag. Sie hatte das Gefühl, eine Frau zu sein, die wusste, was sie wollte und wie sie es erreichen konnte – unter normalen Umständen.
Doch der Anblick ihres Selbst ließ ihre Erinnerung nicht zurückkehren, wie sie insgeheim gehofft hatte.
Ihr Blick glitt hinab zu ihren Brüsten. Sie waren fest, aber nicht zu groß, und die Spuren des Rohrstocks waren bereits am Verblassen. Ihre Taille war schmal und der Bauch flach. Der Schritt war immer noch haarlos; probehalber strich sie mit einem Finger darüber: nicht einmal Spuren von Stoppeln. Das Schamhaar musste dauerhaft entfernt worden sein. Intimschmuck oder Piercing-Löcher gab es keine. Alles in allem ein Körper, mit dem sie nicht unzufrieden sein musste.
Sie duschte zunächst, um den gröbsten Dreck zu entfernen, und wusch zweimal ihre Haare. Danach stieg sie in den Whirlpool und genoss das warme Wasser, das ihre Poren öffnete und auch die hartnäckigsten Schmutzpartikel löste. Mehrmals ließ sie heißes Wasser nachlaufen, bis sie sich endlich im wahrsten Sinne des Wortes wie ein neuer Mensch fühlte. Nun fehlte lediglich die Rückkehr ihrer Erinnerungen.
Irgendetwas muss geschehen sein, wodurch ich mein Gedächtnis verloren habe. Vor drei Tagen …
Doch als sie sich zu erinnern versuchte, waren mit einem Mal die Kopfschmerzen wieder da.
Die Worte des Zyklopen kamen ihr in den Sinn.
Yolanda ist im Büro, hat er gesagt – wer auch immer Yolanda ist. Sie wird mir bestimmt alles sagen!
Sie zog die bereitliegende Kleidung an: ein weißer Baumwoll-Slip, Tennissocken, ein schwarzer, knielanger Faltenrock, weißer BH und eine Bluse mit Blumenmuster auf weißem Grund. Dazu ein Paar schwarzer Pumps. Sommerkleidung. Alles passte wie angegossen, aber es entsprach nicht ihrem Geschmack. Die Bluse war zu bunt, und dann ausgerechnet ein schwarzer Rock und schwarze Schuhe! Es war, als hätte ein anderer die Kleidung für sie ausgesucht – jemand, der ihre Größen kannte, aber nicht ihre Vorlieben – oder der sich nicht um ihre Vorlieben scherte.
Noch ein Rätsel …
Sie ging zur Tür, zögerte einen Augenblick und drückte dann den Knopf, den ihr der Wärter gezeigt hatte. Sie hatte die Hand noch nicht zurückgezogen, als die Tür bereits aufschwang. Der Mann mit dem vergrößerten Auge musste schon auf sie gewartet haben. Bei ihrem Anblick hoben sich die Büsche seiner Brauen.
»Na, wenn das kein Unterschied ist! Aber nackt gefällst du mir trotzdem besser.« Er lachte, und wieder war es ein durchaus freundliches Lachen.
Er führte sie um zwei Ecken zu einem Aufzug, und gemeinsam fuhren sie von der 42. in die 57. Etage. Als sich die Tür öffnete, wies der Wärter in den Flur. »Du kennst dich ja aus. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder!«
Sie stieg aus und sah sich ratlos um, während hinter ihr die Tür des Lifts zuglitt. Sie stand in einem menschenleeren Flur mit Teppichboden und furnierten Wänden.
Ratlos ging sie von einer Tür zur nächsten. Neben jeder hing ein Schild mit einem oder mehreren Namen und einer Zimmernummer, wie bei einer Behörde. Wo der Flur einen scharfen Knick nach rechts machte und sich in der Unendlichkeit zu verlieren schien, las sie den Namen »Yolanda Wright«. Sie zupfte Rock und Bluse zurecht und klopfte.
Anstelle einer Antwort ertönte ein Summen und ein Klicken. Sie schob die Tür auf und betrat ein großes, elegant eingerichtetes Büro, dessen komplette Rückwand von einem Panoramafenster eingenommen wurde: Dutzende von Wolkenkratzern ragten wie wahllos verstreute Stalagmiten in einen blauen Nachmittagshimmel, dazwischen verlor sich eine langgestreckte Wasserfläche.
Der Raum wurde beherrscht durch einen wuchtigen Schreibtisch, hinter dem eine Frau von etwa 40 Jahren in einem breiten Ledersessel thronte. Dunkelbraune Locken fielen bis auf die Schultern ihres blauen Business-Kostüms.
Yolanda Wright blickte von einem breiten Computerbildschirm auf. »Hi«, sagte sie, ohne die Hände von der Tastatur zu nehmen. »Bin gleich so weit.« Sie tippte weiter.
»Hi«, antwortete die Gefangene, die nun ganz offensichtlich nicht mehr gefangen war. Ihre Blicke flogen durch den Raum. Rechts stand ein kleiner Kaffeetisch mit drei Stühlen, furnierte Einbauschränke nahmen beide Seitenwände ein. Das Büro hätte ebenso gut zu einem Anwalt gepasst wie zu einem Banker oder dem Aufsichtsratsmitglied einer Aktiengesellschaft.
»So!« Yolanda Wright schob mit einer energischen Bewegung die Tastatur von sich, stand auf und ging zur linken Schrankwand. Sie öffnete zielsicher eine Schublade und entnahm ihr eine braune Damenhandtasche mit Schulterriemen, die sie auf den Schreibtisch legte. »Das wäre das eine.« Sie setzte sich wieder, nahm eine bereitliegende Mappe zur Hand und öffnete sie.
Die Gefangene trat näher, den Blick auf die Handtasche geheftet. Ihre Halsschlagader pochte im Rhythmus ihres Herzens. Die Tasche musste die Antworten auf die wichtigsten Fragen enthalten!
Sie öffnete den Mund, doch dann schloss sie ihn wieder. Eine unbestimmte Angst hielt sie davon ab, das Ausmaß ihres Unwissens zu offenbaren.
Yolanda entnahm der dünnen Mappe mehrere Gegenstände und breitete sie vor sich aus. Sie überreichte ihrer Besucherin ein gefaltetes Papier sowie eine CD oder DVD in einer Plastikhülle.
»Deine Vertragskopie«, sagte sie, »und eine DVD zur Erinnerung. Und natürlich das Wichtigste: der Scheck. Du hast ihn dir verdient.«
Mit zitternden Fingern nahm die Gefangene den Scheck entgegen.
4000 Dollar!
Yolanda lehnte sich zurück und musterte sie. Ihre Züge waren streng wie jene einer Geschäftsfrau, die sich fünf oder sechs Tage pro Woche in einer Männerwelt behaupten musste, doch als sie nun lächelte, lockerten sie sich.
»Wir waren sehr zufrieden mit deiner Performance. Du kannst wiederkommen, wann immer du willst. Wir brauchen Profis, die Amateure sind zu unzuverlässig. Du könntest sogar als Residentin hier einziehen, zunächst für ein oder zwei Monate. Das Gehalt ist sehr gut …« Sie sah sie fragend an. »Überleg’s dir. Meine Telefonnummer findest du auf dem Vertrag.«
»Mal sehen …«
Ohne Yolanda ins Gesicht zu blicken, verstaute die ehemalige Gefangene alles in der Handtasche.
Frag sie!, drängte sie sich selbst.
Sie sah auf.
»Ist noch was?«, sagte Yolanda.
Das Telefon läutete, und Yolanda nahm ab. »Ja?« Abrupt nahmen ihre Züge die alte Härte wieder an. »Bin gleich unten!«
Sie stand auf. »Gerade noch habe ich von Amateuren gesprochen … Auf Bühne 6 hat soeben eine Anfängerin das Safewort gesagt und damit die Show geschmissen. Ich muss hinunter. War noch was?«
Die ehemalige Gefangene schüttelte den Kopf. Yolanda fasste sie am Arm. »Wir können zusammen hinunterfahren.«
Gemeinsam verließen sie das Büro und gingen durch den abzweigenden Gang zu einem anderen Aufzug, der bereits wartete. Sie stiegen ein, und Yolanda drückte nacheinander »44« und »G«. Bevor sie die Kabine in der 44. Etage verließ, wandte sie sich noch einmal an ihre Begleiterin.
»Wie gesagt: Du kannst jederzeit wiederkommen! Von mir aus schon morgen.«
Die ehemalige Gefangene brachte ein Lächeln zustande. »Erst brauche ich ein paar Tage Erholung.«
Yolanda lachte und hob die Hand zum Gruß. Die Tür schloss sich hinter ihr, der Aufzug setzte sich wieder in Bewegung.