Читать книгу Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 12

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Markus Bruckner schaute seine Besucherin verschwörerisch an.

»Gell’, Frau Kerner, es ist Ihnen klar, daß das alles unter uns bleiben muß«, sagte er. »Über den wirklichen Grund Ihres Aufenthalts darf kein Wort nach außen dringen.«

Die blonde Mittzwanzigerin, die in einem der bequemen Sessel im Büro des Bürgermeisters von St. Johann saß, schlug die Knie übereinander und strich den Rock glatt. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm und eine cremefarbene Bluse. Ein goldenes Kettchen war das einzige Schmuckstück.

»Selbstverständlich, Herr Bruckner«, erwiderte Elke Kerner. »Von mir erfährt niemand etwas. Offiziell mache ich hier ein paar Tage Urlaub. Es ist ja auch ein schöner Ort, Ihr Sankt Johann.«

»Nicht wahr!«

Markus Bruckner war ans Fenster getreten und sah hinaus. Gerade hielt vor dem gegenüberliegenden Hotel ein Reisebus und eine Schar Touristen stieg aus. Der Bürgermeister drehte sich wieder um.

»Und wir werden dafür sorgen, daß das auch in aller Welt bekannt wird«, sprach er weiter. »Finden Sie mir nur einen geeigneten Standort für das Hotel.«

Elke Kerner trank einen Schluck aus der Kaffeetasse, die vor ihr auf dem Tisch stand und legte dann die Fingerspitzen aneinander.

»Hm, sechshundert Betten, ist das nicht ein bißchen zu gewagt für Ihren kleinen Ort«, gab sie zu bedenken. Immerhin fehlt es hier ja noch an attraktiven Freizeitmöglichkeiten.«

»Das kommt alles noch«, winkte der Bürgermeister ab. »Bis jetzt kommen die Leut’ wegen der guten Wandermöglichkeiten, die wir hier haben. Sie soll’n mal sehen, was erst hier los ist, wenn das Hotel steht, mit allen erdenklichen Attraktionen. Ich hab’ schon mit dem Reisinger-Sepp gesprochen, das ist der Wirt von dem Hotel, in dem Sie wohnen, der Sepp zieht mit. Das wird vom Allerfeinsten. Schwimmbad, Sauna, Solarium. Einen Golfplatz werden wir anlegen, und eine große Diskothek. Tanz und gute Laune bis in den frühen Morgen – das ist’s, was die Leut’ wollen. Schauen S’ nur einmal, was da auf Mallorca los ist, mit den ganzen Urlaubern. Warum soll das hier net auch geh’n.«

»Also, ob das, was da in Spanien geschieht, hier auch funktioniert, wage ich zu bezweifeln«, versuchte die Frau den Enthusiasmus des Bürgermeisters von Sankt Johann zu bremsen. »Ganz zu schweigen davon, ob so etwas überhaupt erwünschenswert ist. Was ich mit attraktiven Freizeitmöglichkeiten meine, bezieht sich vielmehr auf das hiesige Angebot für Wintersportler. Es fehlen Skipisten, Seilbahn und all die anderen Sachen, die einen Wintersportort für Touristen erst anziehend machen.«

Markus Bruckner schüttelte den Kopf.

»Ich versteh’ ihre Einwände, Frau Kerner. Dennoch, eines zieht das andere nach. Wenn das Hotel erstmal steht, dann finden sich genügend Investoren, um die Skipiste und Seilbahn zu bauen. Wenn Sie sich alles anschauen, werden Sie mir recht geben. Die beiden Gipfel, der Himmelsspitz und die Wintermaid, laden geradezu ein, dort Pisten anzulegen.«

Elke Kerner erhob sich und reichte Markus die Hand.

»Gut, Herr Bruckner, dann machen wir es so, wie verabredet. Ich schaue mir die Gegend an, und in etwa einer Woche erhalten Sie ein ausführliches Exposé, in dem ich meine Vorschläge und Anregungen darlege.«

»Ist recht, Frau Kerner.«

Er legte einen Finger an den Mund.

»Und zu niemandem ein Wort.«

»Selbstverständlich nicht. Sie können sich darauf verlassen.«

*

Ein wenig nachdenklich schlenderte die junge Frau über die Straße. Irgendwie schien dieser ganze Auftrag zu vage und ominös. Allein diese ganze Geheimhaltung! Elke schmunzelte – sie war doch keine Spionin.

Oder doch? Beinahe kam sie sich so vor. Im Auftrag des Bürgermeisters sollte sie herausfinden, an welcher Stelle ein geeigneter Platz für den Bau eines Riesenhotels war. Davon durfte niemand etwas erfahren. Warum, fragte die Frau sich. Gäbe es vielleicht Widerstand gegen ein solches Projekt? Der Gemeinderat würde hinter der Sache stehen, sagte zumindest der Bürgermeister. Aber was war mit den anderen Leuten hier? Würden die Markus Bruckner und seinen ehrgeizigen Plänen Steine in den Weg legen?

Elke Kerner blieb einen Moment stehen und schaute sich um. Ein schöner, beschaulicher Ort, dieses Sankt Johann, dachte sie. Nicht so groß, daß man als Fremder den Überblick verlieren konnte, aber auch nicht zu klein. Ihr Blick fiel bewundernd auf die Kirche, die auf einem kleinen Hügel beinahe in der Ortsmitte erbaut war. Das schneeweiße Gemäuer überragte alle anderen Gebäude. Elke nahm sich vor, die Kirche bei Gelegenheit zu besichtigen.

Sie setzte ihren Weg zum Hotel fort und vernahm plötzlich einen lauten Pfiff. Entgegen ihrer Gewohnheit drehte sie sich um und schaute in das grinsende Gesicht eines jungen Burschen.

»Teifi, Teifi«, sagte er. »Wie kommt so ein hübsch’s Madel in unser klein’s Dorf?«

»Sie werden es nicht glauben«, antwortete sie. »Mit dem Auto.«

Damit ging sie weiter. Innerlich lachte sie. Es war nicht das erste Mal, daß ihr so etwas passierte. Die attraktive Frau war es gewohnt, die Blicke der Männer auf sich zu ziehen.

Als sie das Hotel betrat, stand der Bursch’ immer noch auf der Straße und schaute ihr hinterher.

So ein Madel, so ein blitzsauber’s! schoß es dem Fornbacher Martin durch den Kopf. Und so schlagfertig. Hoffentlich war’s am Samstag beim Tanz dabei. Dann wird’s schon ihr blaues Wunder erleben!

Langsam drehte er sich um und ging weiter. Dabei rieb er sich voller Vorfreude die Hände.

*

In der Hotelhalle herrschte ein dichtes Gedränge. Die gerade angekommenen Gäste belegten ihre Zimmer. Überall standen Koffer und Reisetaschen herum, während es von Stimmen summte und brummte, wie in einem Bienenhaus. Sepp Reisinger stand hinter der Rezeption und gab die Zimmerschlüssel aus.

Elke Kerner, die hinter einem Pulk Gäste stand, bekam plötzlich einen Stoß in den Rücken, als die Eingangstür aufschwang. Ein junger Mann drängte herein, in beiden Händen Koffer.

»Verzeihen Sie, bitte«, entschuldigte er sich. »Ich konnte wirklich nicht sehen, daß jemand so dicht an der Tür steht.«

Elke schaute ihn an. Er lächelte charmant zurück.

»Es ist ja nichts passiert«, sagte sie.

Der neue Gast hatte seine Koffer abgestellt. Er machte eine Verbeugung.

»Carsten Henning«, stellte er sich vor.

Elke nickt und nannte ihren Namen, dann wandte sie sich wieder der Rezeption zu, an der es merklich ruhiger wurde. Die meisten Gäste hatten ihre Zimmerschlüssel und strebten die Treppe hinauf.

»Ach, Frau Kerner«, sagte Sepp. »Sie möchten bestimmt auch Ihren Schlüssel.«

Er reichte ihn über den kleinen Tresen.

Elke bedankte sich und nickte dem jungen Mann noch einmal zu. Der schaute ihr lange hinterher.

»Sie sind Herr Henning?« fragte der Wirt. »Herzlich willkommen.«

»Ja, ich habe ein Zimmer reserviert. Für eine Woche.«

»Ja, hier steht’s. Einzelzimmer mit Dusche. So bitt’schön.«

Er nahm den Schlüssel vom Brett und gab ihn Carsten Henning.

»Vom Hotel ›Stadt Hamburg‹, in Hamburg, gebucht«, stellte Sepp Reisinger mit einem Blick auf seine Unterlagen fest. »Arbeiten Sie gar dort?«

»Ich bin der Geschäftsführer des ›Stadt Hamburg‹.«

Sepps Miene erhellte sich.

»Dann sind wir ja Kollegen. Da müssen wir uns mal am Abend unterhalten. Bei einem Glas Wein vielleicht?«

»Gerne. Aber jetzt bin ich ein wenig müde. Die Fahrt von Norddeutschland hier herunter, war doch recht anstrengend.«

»Natürlich, Herr Henning, einen schönen Aufenthalt in Sankt Johann.«

»Danke«, antwortete Carsten von der Treppe her. »Was ich bis jetzt gesehen habe, war schon sehr vielversprechend.«

Sepp Reisinger schaute ihm nachdenklich hinterher.

Wie mochten die Worte gemeint sein? Der Löwenwirt hatte sehr wohl den Blick bemerkt, den sein neuer Gast der Frau Kerner hinterher geworfen hatte…

Wie auch immer. Sepp freute sich, einen Fachmann im Haus zu haben, mit dem er sich einmal austauschen konnte. Wer weiß, vielleicht konnte der Herr Henning ihm noch ein paar Tips geben. Immerhin war das ›Stadt Hamburg‹ ein erstklassiges Hotel, das einen weltweiten Ruf genoß. Es war geradezu ein Glücksfall, daß der Geschäftsführer dieses Hauses ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt – wo das neue Hotel für St. Johann geplant wurde – hier Urlaub machte.

Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, setzte sich Sepp Reisinger in sein Büro und gab sich den Träumen hin, die er zusammen mit dem Bürgermeister ausgeheckt hatte – St. Johann zu einem touristischen Zentrum zu machen.

Herrliche Zeiten werden kommen, dachte er dabei.

*

Carsten Henning nickte zufrieden, als er das Zimmer betreten hatte. Es war groß und hell, die Einrichtung modern. Außer dem Bett und Kleiderschrank gab es eine Leseecke mit Tisch und Sessel, sowie einen Schreibtisch, der am Fenster stand. Fernsehgerät und Telefon boten zusätzlichen Komfort.

Der junge Mann machte sich daran, seine beiden Koffer auszuräumen. Dabei schüttelte der den Kopf. Das war ja viel zu viel Gepäck, das er da für eine Woche Urlaub eingepackt hatte. Wie oft hatte er mit Petra deswegen eine Auseinandersetzung gehabt, weil sie für drei Tage auf Sylt Taschen und Koffer mitnahm, als wolle sie eine Weltreise antreten. Darüber würde er sich jetzt aber nicht mehr aufregen müssen…

Carsten hielt in seiner Tätigkeit inne und setzte sich auf den Rand des Bettes. Petra Hagen, zweite Tochter einer angesehenen Hamburger Kaufmannsfamilie, sie war seine große Liebe gewesen. Doch das schien alles so lange her. Carsten dachte nur noch selten an die junge, dunkelhaarige Frau, mit der er bis vor ein paar Wochen noch verlobt war. Hatte er sie wirklich schon vergessen, oder war es mehr ein Schutz, den er sich selbst auferlegte, um nicht in Kummer und Verzweiflung zu versinken?

Er hatte Petra geliebt, aus tiefstem Herzen, und war doch bitter enttäuscht worden. Als er sie in den Armen seines besten Freundes überraschte, brach für ihn eine Welt zusammen. Jeder Versuch seines Schwiegervaters in spe, den Riß zu kitten und zu retten, was zu retten ist, scheiterte an Carstens Widerstand. Er hatte seiner Verlobten vertraut, und dieses Vertrauen war gründlich mißbraucht worden. Für ihn gab es keinen Weg zurück, mochte Petra ihr Handeln noch so sehr bereuen, wie sie ihm immer wieder versuchte, am Telefon zu erkären. Ein-, zweimal hörte er zu, ohne ein Wort zu erwidern, die nächsten Male legte er den Hörer auf die Gabel, wenn er ihre Stimme vernahm.

Für eine Weile zog er sich in sein Schneckenhaus zurück, doch seine Tätigkeit als Geschäftsführer eines Hotels von Weltruf, ließ es nicht zu, daß er sich vergrub. Er mußte repräsentieren, Gäste empfangen, Geschäftsessen absolvieren.

Carsten beschloß, daß es das beste sei, sich für eine kurze Zeit zurückzuziehen und auszuspannen. Am liebsten irgendwo weit fort. Einen Kochcommis, der in St. Johann zu Hause war, hatte es in den hohen Norden verschlagen, und obwohl er sich in Hamburg wohlfühlte, sprach er doch immer wieder davon, wie schön es in seiner Heimat sei. So kam Carsten auf die Idee, seinen Urlaub in dem kleinen Ort in den Alpen zu verbringen. Und was er auf der Fahrt hierher und seit seiner Ankunft sah, hatte ihm schon sehr gefallen.

Damit meinte er aber nicht die junge Frau, der er die Tür so unsanft in den Rücken gestoßen hatte. Sie sah toll aus, ohne Zweifel, aber das Kapitel Frauen hatte sich für die nächste Zeit erledigt. So bald würde er sein Herz nicht wieder verschenken, das stand für Carsten Henning fest.

*

Sebastian Trenker wanderte die Hohe Riest hinauf, einem Waldstück, das unterhalb der Zwillingsgipfel, Himmelsspitz und Wintermaid, lag. Es war ein heller, sonniger Morgen, den der Pfarrer unbedingt für diese Wanderung nutzen wollte. Seit einer guten Stunde war er schon unterwegs, und er hatte beschlossen, seine erste Rast bei der Berghütte zu machen, die er bald erreichen mußte. Dabei freute er sich auf ein ausgiebiges Frühstück mit Kaffee, Brot und Speck.

Nach einer Biegung hatte er sein Ziel erreicht. Vor dem Hintergrund der imposanten Berge stand die Holzhütte, die Wanderern Schutz vor Unwetter, oder auch ein Lager für die Nacht bot. Unmittelbar davor war ein kleines Wiesenstück. Dort machte der Geistliche es sich bequem. Schnell war der Rucksack aufgeschnürt. In der Thermoskanne duftete der heiße Kaffeee, und dem Papier, in das der Speck eingewickelt war, entströmte ein appetitliches Aroma nach Rauch. Mit einem Taschenmesser schnitt Sebastian ein gutes Stück davon ab, ebenso von dem krossen Brot, das seine Haushälterin gebacken hatte. Langsam und genußvoll ließ er es sich schmecken. Dabei schaute er auf das herrliche Panorama der Berge und der bewaldeten Höhen.

Er hatte gerade sein Mahl beendet, als ein merkwürdiger Laut ihn aufhorchen ließ. War da wirklich etwas, oder hatte er sich getäuscht?

Nein, da war es wieder. Es klang wie ein unterdrücktes Stöhnen. Sebastian war nicht sicher, aber er glaubte, daß das Geräusch aus der Hütte käme.

Ein wildes Tier vielleicht? Unmöglich war das nicht. Die Hütte hatte zwar eine Tür, aber ein Fuchs oder Marder konnte sich schon mal durch irgend ein Loch dort hinein verirren und dann den Weg hinaus nicht wiederfinden.

Pfarrer Trenker näherte sich vorsichtig der Hüttentür. Den Gedanken an ein wildes Tier verwarf er jedoch. Solche Geräusche verursachte nur ein Mensch.

Ein Mensch, der Hilfe brauchte.

»Hallo, ist da jemand?« rief er durch die offene Tür.

Die Berghütte bestand aus einem größeren Raum, in dem roh gezimmerte Tische und Stühle standen, und mehreren Nebenkammern, in denen Strohbetten auf müde Wanderer warteten. Von dort kamen die seltsamen Laute.

Sebastian stieß die Tür zu der Kammer auf und trat ein. Auf dem Strohbett lag ein Mann in merkwürdig verkrümmter Haltung. Der Pfarrer näherte sich ihm.

»Grüß’ Gott, sind Sie verletzt? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Der Mann richtete sich mühsam von seinem Lager auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er mochte so um die sechzig Jahre alt sein und machte einen recht heruntergekommenen Eindruck. Er war nicht rasiert und roch er sehr streng, wie Pfarrer Trenker mit einem Nasenrümpfen feststellte.

»Mein Bein«, antwortete er und zeigte auf seine zerrissene Hose. »Ich hab’s mir bei der Kletterei aufgeschlagen.«

»Lassen S’ mal sehen.«

Trotz des Geruchs, der von dem Mann ausging, setzte Sebastian sich an seine Seite und hob vorsichtig die Hosenfetzen von dem Bein ab.

»Du lieber Himmel!« entfuhr es ihm.

Die Wunde sah fürchterlich aus. Blutverkrustet und angeschwollen. Die Haut ringsherum hatte eine bläuliche Färbung angenommen.

»Ich habe zwar ein Erste-Hilfe-Päckchen dabei«, sagte Sebastian. »Aber das hier muß ein Arzt behandeln. Bestimmt tut es sehr weh. Wir müssen schnellstens ins Tal hinunter.«

Er schaute sich um. Neben dem Lager des Mannes lagen zwei Plastiktüten, in denen sich wohl die ganze Habe des Obdachlosen – um solch einen handelte es sich bei dem Mann – befand.

»Haben S’ denn schon ’was gefrühstückt?« erkundigte er sich, weil er nicht den Eindruck hatte, daß der Verletzte etwas zm Essen bei sich hatte.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Seit zwei Tagen lieg‘ ich hier«, antwortete er. »Gestern mittag hab’ ich die beiden letzten Semmeln gegessen.«

»Na, dann müssen S’ ja einen richtigen Hunger haben.«

»Und wie!«

Der Geistliche holte den Rucksack herein. Es war nicht nur genug Speck und Brot übrig, in der Thermoskanne gab es auch noch heißen Kaffee. Der Mann schnalzte genießerisch mit der Zunge, als Sebastian ihm davon einschenkte, und der Duft den kleinen Raum durchzog.

»Und Räucherspeck gibt’s auch!«

Der Landstreicher schickte einen Blick zur Decke, als schaue er direkt in den Himmel.

»Ich glaub’, ich bin im Paradies.«

Sebastian schmunzelte und schnitt Speck und Brot ab. Der Mann verschlang es gierig. Dazu trank er den ganzen Kaffee aus, der noch in der Kanne war. Als er fertig war, strich er sich über den Bauch.

»So, jetzt geht’s mir schon wieder besser, herzlichen Dank für dieses fürstliche Mahl«, sagte er und strahlte den Geistlichen dabei an. »Dabei fällt mir ein, daß ich mich noch gar net vorgestellt habe.«

Er deutete im Sitzen eine Verbeugung an.

»Ich bin der Karl Moislinger.«

»Angenehm, Sebastian Trenker«, stellte der Pfarrer sich vor. »Wie sieht’s denn aus, Herr Moislinger, glauben Sie, daß wir zwei es schaffen, heil ins Tal zu kommen, wenn ich Sie stütze.«

Karl machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Das schon«, antwortete er. »Allerdings, das mit dem Arzt, das können S’ vergessen. Ich bin nämlich in keiner Krankenkasse, müssen S’ wissen.«

»Darüber machen S’ sich mal keine Gedanken«, winkte Sebastian ab. »Das findet sich schon. Erstmal müssen wir schauen, daß wir Sie heil nach unten bekommen.«

*

Das war leichter gesagt, als getan. Das kranke Bein mußte fürchterlich weh tun. Immer wieder wurde der Abstieg durch Pausen verzögert, die sie einlegen mußten. Schließlich schafften sie es doch. Und sie hatten Glück im Unglück. Gerade als sie die Straße erreicht hatten, kam ein Traktor mit Anhänger angefahren. Sebastian hielt den Bauern an.

»Pfüat dich, Enzinger, sei so gut und nimm uns beide auf dem Anhänger mit. Der Mann hier hat ein verletztes Bein, das sich der Doktor Wiesinger unbedingt ansehen muß.«

Der Bauer nickte.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer. Freilich können S’ mitfahren. Warten S’, ich helf’ Ihnen.«

Karl Moislinger riß vor Erstaunen den Mund auf.

»Sie sind Pfarrer?« fragte er, als der Traktor langsam anruckelte. »So sehen S’ aber gar net aus!«

Sebastian lachte. Es war nicht das erste Mal, daß jemand, der ihn nicht kannte, erstaunt war und nicht glauben konnte, einen Geistlichen vor sich zu haben. Diese schlanke, durchtrainierte Figur traute man eher einem Sportler zu, als einem Pfarer.

»Es trügt oft der Schein«, gab er zu bedenken.

Kurze Zeit später erreichten sie St. Johann. Der Bauer fuhr bis vor die Praxis und half, den Verwundeten ins Wartezimmer zu bringen.

»Vergelt’s Gott, Enzinger«, bedankte der Seelsorger sich für die Hilfe.

»Hab’ ich gern’ getan«, verabschiedete der Bauer sich, während Toni Wiesinger das Wartezimmer betrat.

»Kommen S’ gleich durch«, bat er Sebastian und Karl in das Sprechzimmer.

Zusammen hoben sie den Kranken auf die Liege, und Toni Wiesinger machte sich an die Arbeit. Karl Moislinger verzog vor Entsetzen das Gesicht, als der Arzt die Utensilien bereitlegte, um die Wunde zu säubern, hielt aber still. Als schließlich der Verband angelegt war, atmete er tief durch.

»So, ich gebe Ihnen jetzt noch eine Tetanusspritze«, sagte Toni Wiesinger, was erneutes Entsetzen hervorrief.

»Bleiben S’ noch einen Moment liegen«, riet der Arzt seinem Patienten, nachdem er die Spritze gesetzt hatte.

Sebastian Trenker saß derweil draußen im Wartezimmer. Außer ihm war sonst niemand anwesend. Toni Wiesinger kam aus dem Behandlungsraum und setzte sich zu ihm.

»Wo haben S’ denn den gefunden?« erkundigte er sich.

Der Geistliche erzählte unter welchen Umständen er auf Karl Moislinger gestoßen war.

»Was übrigens Ihr Honorar angeht, das werd’ ich wohl bezahlen. Der Mann ist ja net krankenversichert«, erklärte er.

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Das geht schon in Ordnung so«, erwiderte er. »Aber etwas anderes macht mir Sorge. Der Herr Moislinger bräuchte strengste Bettruhe. Das Bein muß geschont werden. Bei dem Sturz hat er sich den Knochen aufgeschlagen. Es ist zwar nix gebrochen, aber es ist auch Schmutz in die Wunde gekommen, und es besteht die Gefahr einer Blutvergiftung. Am besten wär’s, wenn ich ihn in ein Krankenhaus einweisen könnt’. Aber das geht ja net, wegen der Kosten.«

Sebastian dachte nach.

»Wenn ich ihn mit hinüber ins Pfarrhaus nehme?« fragte er.

»Würde das ausreichend sein?«

»Ich glaub’ schon«, nickte der Arzt. »Dann könnt’ ich jeden Tag nach ihm schau’n. Er braucht auch täglich eine Trombosespritze, und die Wunde muß gereinigt werden. Wenn S’ genügend Platz haben, Hochwürden, dann wäre das geradezu ideal.«

Sebastian Trenker strich sich nachdenklich über das Kinn.

»Am Platz soll’s net liegen«, meinte er. »Ich muß nur noch überlegen, wie ich es der Frau Tappert beibringe…«

*

Sophie Tappert nutzte die Stunden, in denen der Pfarrer auf Bergtour war, für den großen Hausputz. Eigentlich wäre es ihr lieber gewesen, Hochwürden verzichtete auf derlei sportliche Betätigungen – im Geiste sah sie ihn schon irgendwo abgestürzt in einer Schlucht liegen –, aber da konnte sie mit Engelszungen reden, Pfarrer Trenker würde sich von seiner Leidenschaft doch nicht abbringen lassen.

Jetzt, wo wieder alles blitzte und blinkte, gönnte sich die Perle des Pfarrhaushaltes eine Ruhepause. Sophie Tappert hatte sich mit einer Tasse Kaffee in die Küche gesetzt und wollte gerade die Zeitung aufschlagen, als sie die Haustür hörte.

Nanu, dachte sie, war der Herr Pfarrer schon wieder von seiner Tour zurück? Das wunderte die Haushälterin. Max Trenker, Hochwürdens Bruder, konnte es nicht sein, denn der hatte erst vor einer halben Stunde angerufen und mitgeteilt, daß er nicht zum Mittagessen käme. Was nur selten geschah – Max, der in St. Johann für Recht und Ordnung sorgte, war den Kochkünsten Sophie Tapperts regelrecht verfallen und er verstand es immer wieder, rechtzeitig zu den Mahlzeiten im Pfarrhaus aufzutauchen. Heute jedoch mußte er als Zeuge in einer Gerichtsverhandlung aussagen, die in der Kreisstadt stattfand, so daß er mit einigen belegten Broten zum Mittag vorlieb nehmen mußte.

Frau Tappert faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. Dann stand sie auf und öffnete die Tür zum Flur. Es war tatsächlich Pfarrer Trenker, der da hereinkam, aber er war nicht allein. Zusammen mit Dr. Wiesinger trug der Geistliche einen Mann auf einer Krankentrage herein.

»Um Gottes willen«, rief die Haushälterin und eilte ihnen entgegen. »Was ist denn passiert?«

»Nicht so schlimm«, winkte der Arzt ab. »Herr Moislinger hat sich verletzt und jetzt braucht er ein paar Tag’ Ruhe.«

Sophies Augen weiteten sich ungläubig.

»Was? Etwa hier bei uns?«

Sie sah den Pfarrer an. Das konnte Hochwürden unmöglich ernst meinen. Dieser Mensch hier im Haus? Da sah man doch gleich, woher der kam. Und wie der roch!

Sebastian deutete den Blick seiner Perle richtig.

»Ich dacht’, wir haben doch oben die Kammer frei«, wagte er zu sagen. »Ein Bett steht auch drin… Es ist ja net für lang’.«

Sophie Tappert schüttelte innerlich den Kopf. Wir sind doch kein Hotel, sagte sie sich, und ein Krankenhaus gleich gar net!

Aber bitte, Hochwürden mußte ja wissen, was er tat, sie war ja nur die Haushälterin.

Der Mann auf der Trage hatte bisher noch gar nichts gesagt, doch jetzt richtete er sich auf und schaute Sophie mit treuen Augen an.

»Es ist mir außerordentlich peinlich, Ihnen so viele Umstände zu machen, gnädige Frau«, sagte er. »Aber den Mächten des Schicksals sind wir armseligen Menschen hilflos ausgeliefert. Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle, ich bin der Moislinger-Karl.«

»Vielleicht sollten wir Herrn Moislinger erstmal ins Bett verfrachten«, mischte sich Toni Wiesinger ein. »Die Trage wird nämlich net leichter.«

»Da haben S’ recht, Doktor«, nickte Sebastian.

Vorsichtig balancierten sie den Verletzten nach oben in den ersten Stock des Pfarrhauses. Dort oben, am Ende des langen Flures gab es einen kleinen Raum, der, wenn es erforderlich war, als Gästezimmer diente.

Die Haushälterin war vorausgeeilt und hatte schon das Bett bezogen, als die beiden Männer die Trage hereinschafften.

»So, Frau Tappert, jetzt sein S’ so gut und bringen S’ dem Herrn Moislinger eine Schüssel Wasser, Seife und Handtücher«, bat Sebastian.

Er wandte sich an den neuen Mitbewohner des Pfarrhauses.

»Ich hoff’, Sie fühlen sich recht wohl bei uns. Nachher bringt Frau Tappert Ihnen eine gute Suppe. Die wird Sie wieder kräftigen.«

»Dank’ schön, Herr Pfarrer«, sagte Karl Moislinger. »Ich weiß gar net, wie ich das wieder gutmachen kann.«

Sophie Tappert verdrehte die Augen – ausgerechnet die gute Rindssuppe mit den Leberknödeln darin. Naja, dachte sie im Hinuntergehen, es ist ja Christenpflicht, einem in Not geratenen Menschen zu helfen, aber muß der Kerl auch noch hier im Pfarrhaus übernachten? Wer wußte, was der noch alles im Schilde führte? Jeden Tag las man doch in der Zeitung, was für ein Gesindel sich überall herumtrieb!

Auf jeden Fall werd’ ich meine Kammer zusperren, wenn ich schlafen geh’, dachte sie und machte sich mit grimmiger Miene daran, die Wünsche des Pfarrers zu erfüllen. Und, auf jeden Fall mußte Max Erkundigungen über den Dahergelaufenen einziehen. Wer weiß, vielleicht wurde er sogar irgendwo gesucht?

Noch nie hatte Sophie Tappert den Abend so herbeigesehnt, und damit Max’ Rückkehr aus der Stadt.

*

Elke Kerner wanderte zielstrebig den Hang hinauf. Unter ihr breitete sich das weite Tal aus, an dessen Rand das Dorf lag. Die junge Landschaftsarchitektin schaute mit akkribischem Blick und sprach immer wieder ihre Eindrücke in ein Diktiergerät, das sie in der Hand hielt. So hielt sie in Stichworten fest, was sie für wichtig und erwähnenswert für das Fremdenverkehrs-Gutachten hielt, das sie erstellen sollte.

Was sie in erster Linie sah, war ein wunderschönes Panorama aus majestätischen Bergen, malerischen Wäldern und saftigen Wiesen voller bunter Blumen und wilder Kräuter. Irgendwo weidete eine Herde Kühe, Rot- und Federwild zeigte sich bisweilen, und darüber spannte sich ein wolkenloser blauer Himmel.

Elke nahm einen Fotoapparat aus der Tasche, die sie um die Schulter trug, und machte ein paar Bilder. Dieser Anblick lohnte, festgehalten zu werden.

Wenig später riß sie sich aus ihren romantischen Betrachtungen. Schließlich war sie hier, um zu arbeiten, und ihr Auftrag war es, herauszufinden, wo der beste Standort für ein Hotel war. Nicht direkt im Dorf, aber auch nicht zu weit davon entfernt. Die rechte Seite des Talkessels konnte durchaus in Frage kommen. Dort war ein breiter Weg hinauf zu den Wanderpfaden, die zu den Zwillingsgipfeln führten. Elke hatte sich diesen Abschnitt zuerst angesehen. Er schien ihr für den Bau der Seilbahn, die auf den Gletscher fahren sollte, am geeignetsten.

Die geplante Größe des Hotels machte ihr einiges Kopfzerbrechen. Sie fragte sich, ob sich wirklich genügend Investoren dafür finden ließen. Immerhin mußten etliche Geldgeber bereit sein, auch die Bergbahn zu finanzieren. Alles in allem würde es einige Millionen kosten, die ehrgeizigen Pläne des Bürgermeisters durchzusetzen. Elke hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was alleine die ganzen Bauanträge und Genehmigungen an finanziellen Mitteln erforderten. Ganz zu schweigen von den sonstigen Hindernissen, die sich einem solchen Projekt gegenüber aufbauen konnten: Umweltschutz, Bürgerinitiativen oder politisches Kalkühl.

Die junge Frau zuckte mit der Schulter. Das alles mußte sie ja nicht interessieren. Sie sollte lediglich den Boden bereiten.

Allerdings konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, daß mit dem bau eines solchen Touristenzentrums ein nicht wieder gutzumachender Fehler begangen wurde. Hier, so hatte Elke den Eindruck, war die Natur noch intakt, und die Menschen schienen mit sich und dem was sie hatten zufrieden zu sein. Alles machte einen gesunden und urtümlichen Eindruck. War es wirklich notwendig, das zu zerstören? Einer Bettenburg würde die nächste folgen, der Bau der Seilbahn und der Skipisten wären ein Eingriff und Raubbau an der Umwelt. Schwere ökologische Schäden wären die Folgen.

Konnte man das wirklich verantworten?

Wie hatte Markus Bruckner gefragt?

»Wenn das auf Mallorca funktioniert, warum soll das net auch bei uns geh’n?«

Elke Kerner grauste es bei dem Gedanken, und immer mehr kam sie zu dem Entschluß, das geforderte Gutachten gewissenhafter abzufassen, als alle anderen Arbeiten jemals zuvor.

Sie schaute auf die Uhr und war erstaunt, daß es beinahe Mittag war. Gleich nach dem Frühstück hatte sie sich aufgemacht, vor gut vier Stunden. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verging. Langsam wollte sie nun den Rückweg antreten. Den Nachmittag würde sie wohl in ihrem Hotelzimmer verbringen. Sie wollte so schnell wie möglich mit ihrer Arbeit fertig werden und noch ein paar Tage wirklich Urlaub machen, wenn ihr Büro es zuließ. Aber ein-, zweimal würde sie noch Streifzüge in die weitere Umgebung unternehmen müssen.

Elke kletterte gerade einen schmalen Pfad hinunter, der zur Dorfstraße führte, als sie in einiger Entfernung eine Gestalt bemerkte, die ihr bekannt vorkam.

War das nicht der junge Mann, der gestern so ungeschickt mit seinen Koffern…? Richtig, sie hatte sich nicht getäuscht. Carsten Henning kletterte den Pfad hinauf, den sie hinunter wollte. Nach ein paar Minuten trafen sie auf einander.

*

Carsten hatte nach der langen Autofahrt von Hamburg nach St. Johann ausgiebig und wohlig geschlafen. Seine innere Uhr, die ihn regelmäßig um Sechs in der Frühe weckte, wenn er im Dienst war, hatte sich auf wundersame Weise auf Acht eingestellt. Da war er nämlich aufgewacht und hatte ziemlich verwirrt auf den Reisewecker geschaut, der auf dem Nachtkästchen an seinem Bett stand. Es war kaum zu glauben. Nach einem kleinen Abendessen war er sehr früh zu Bett gegangen und hatte zehn Stunden geschlafen. Das war schon eine Ewigkeit nicht mehr vorgekommen.

Ausgeruht und voller Energie stellte er sich unter die Dusche, rasierte sich hinterher und zog leichte, legere Kleidung an. Fröhlich pfeifend ging er zum Frühstück hinunter, das im Klubraum serviert wurde. Außer von einem Büffet konnte man verschiedene Eierspeisen und kleine Frühstücksgerichte von der Karte bestellen. Carsten entschied sich für zwei Spiegeleier mit Speck.

Die Mitglieder der Reisegruppe hatten ihr Frühstück bereits hinter sich, so daß es in dem Raum sehr ruhig war. Ein Umstand, der Carsten durchaus gefiel. So konnte er gemütlich in der Zeitung blättern und sich das Essen schmecken lassen.

Nach dem Frühstück, das sich lange hinzog, ließ sich Carsten an der Rezeption eine Wanderkarte für die Umgebung von St. Johann geben. Das junge Madel, das hier Dienst hatte, erklärte ihm bereitwillig diese und jene Besonderheit, und wies auch auf die malerischen gelegenen Sennenwirtschaften hin, deren Besuch sich unbedingt lohne.

Carsten sah auf die Uhr. Für solch eine weite Wanderung war es heute vielleicht schon zu spät. Nachdem er so ausgiebig und gemächlich gefrühstückt hatte, war es beinahe elf Uhr. Er beschloß zunächst den Ort selber und seine nähere Umgebung zu erkunden. Die weiße Kirche, schräg gegenüber interessierte ihn besonders. Dorthin würde er zuerst gehen.

*

»Freilich ist’s geöffnet. Schauen S’ nur herein«, sagte Alois Kammeier. »Der Herr Pfarrer freut sich über jeden Besucher.«

»Sehr freundlich«, bedankte sich Carsten Henning bei dem Mesner von St. Johann.

Er betrat das kühle Kirchenschiff und schritt langsam den Kreuzgang hinunter. Dabei staunte er über die reiche Verzierung aus roten und blauen Farben und das viele Blattgold, mit dem Figuren und Bilder beschlagen waren. Rechts unter dem Säulengang hing ein Ölgemälde, das den Heiland darstellte, im Gebet versunken. Daneben stand, auf einem Holzsockel, eine Madonnenstatue.

Der Hamburger war wirklich beeindruckt. Natürlich gab es in seiner Heimat auch schöne Kirchen, doch diese hier, schien etwas Besonderes zu sein. Die Atmosphäre hatte etwas Unvergleichliches.

Alois Kammeier wechselte die heruntergebrannten Kerzen am Altar aus. Als er bemerkte, daß der Besucher sich wohl für die Madonnenstatue interessierte, kam er herüber.

»Gefällt’s Ihnen?« fragte er.

»Ja. Wirklich, eine wunderschöne Arbeit«, nickte Carsten.

Sein Blick fiel auf den Sockel, der leicht beschädigt schien. Der Mesner seufzte.

»Ach, das war schon eine aufregende G’schicht’.«

Dann erzählte er von den Kirchenräubern, die St. Johann vor einiger Zeit heimgesucht hatten und die wertvolle Statue raubten. Dank der tüchtigen Arbeit der Polizei wurden die Diebe gefaßt, und die Madonna sichergestellt, bevor die Ganoven sie ins Ausland schaffen konnten.

»Unglaublich«, lautete der Kommentar des Hamburgers. »Daß so etwas hier geschehen konnte!«

Alois Kammeier hatte Zeit und war in Gesprächslaune, und so kam Carsten Henning in den Genuß einer ausgiebigen Erklärung über die Kirche St. Johann, und den Ort und seinen Menschen. Eine Viertelstunde später wußte er über die wichtigsten Dinge Bescheid. Bevor er die Kirche verließ, bedankte Carsten sich bei dem Mesner und ließ ein paar Geldstücke in den Opferstock gleiten.

Draußen schaute er auf die Wanderkarte. Die Straßen waren rot, die Wanderwege grün eingezeichnet. Einer führte gleich von der Dorfstraße zu den bewaldeten Höhen hinauf. Carsten entschied sich, dorthin einen kleinen Spaziergang zu machen. Für den nachmittag hatte er sich vorgenommen, auf der Terrasse des Hotels in einem Sonnenstuhl zu liegen und ein wenig zu lesen. Für den Abend hatte Sepp Reisinger ihn eingeladen.

Er fand den Wanderpfad und stieg langsam hinauf. Der Weg war mehr oder weniger befestigt, allerdings gab es keine Begrenzung zum Tal hinunter, so daß man schon acht geben mußte, nicht auszurutschen.

Carsten sah nach oben. Jemand kam ihm entgegen. Er erkannte die junge Frau Kerner. Sie lächelte ihm zu, als sie nur noch wenige Schritte entfernt war.

»Guten Tag«, grüßte er.

»Hier sagt man, Grüß Gott«, antwortete sie mit einem charmenten Lächeln.

»Ach, ja natürlich«, lachte Carsten zurück.

Beide waren stehengeblieben.

»Wissen Sie, ich komme aus Hamburg. Bei uns sagt man eigentlich ›Moin, Moin‹«, erklärte er.

»Ja, davon habe ich schon gehört.«

Elke Kerner musterte den jungen Mann verstohlen, aber auch intensiver, als am gestern nachmittag. Zwei braune Augen blitzten in einem markantem Gesicht, die dunklen Haare hatten einen modischen kurzen Schnitt. Die schlanke und sportliche Gestalt wirkte trotz der legeren Kleidung elegant und weltmännisch. Der Blick, mit dem er sie ansah, war sympathisch, wie die ganze Erscheinung. Elke spürte plötzlich ihr Herz klopfen, so laut, daß sie meinte, Carsten Henning müsse es auch hören.

»Ein wirklich schöner Ort, um hier Urlaub zu machen«, setzte Carsten das Gespräch fort.

»Da haben Sie recht«, stimmt die junge Frau zu. »Hier scheint die Welt noch in Ordnung zu sein.«

Sie schauten sich an, und es schien, als wären beide verlegen. Elke räusperte sich und machte eine verabschiedende Handbewegung.

»Tja, also dann noch einen schönen Tag«, wünschte sie. »Ich hab’ noch ein wenig Arbeit vor mir.«

»Den wünsche ich Ihnen auch«, antwortete Carsten.

Im selben Moment stolperte Elke über eine, im Gras verborgene Wurzel eines Strauches und drohte hinzufallen. Carsten reagierte blitzschnell und griff zu. Im letzten Augenblick gelang es ihm, den Sturz zu verhindern.

Für ein paar Sekunden hielt er sie in seinen Armen, nahm den Duft ihres Parfums wahr, spürte ihr Haar in seinem Gesicht.

»Das war ziemlich knapp«, bemerkte er.

Elke merkte, wie eine feine Röte in ihr Gesicht stieg.

»Ja, das hätte schief gehen können. Herzlichen Dank für Ihre Hilfe.«

Carsten hielt ihre Hand etwas länger, als es eigentlich notwendig gewesen wäre, und er fühlte etwas, das er nicht mehr gefühlt hatte, seit jenem Tag an dem er Petra und seinen besten Freund…

»Danke, Herr Henning, es geht schon wieder«, sagte Elke und versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen.

»Wie bitte? Ach so, ja natürlich…, entschuldigen Sie…«, stammelte er und ließ die Hand los.

Elke kletterte vorsichtig hinunter. Dabei überlegte sie, was dieser träumerische Ausdruck in seinen Augen bedeuten mochte.

Carsten indes sah ihr hinterher, ratlos über das, was da geschehen war. Hatte er sich wirklich eben in Elke Kerner verliebt?

*

»Herr Doktor, was glauben S’, wann ich wieder aufsteh’n kann?« fragte Karl Moislinger. »Ich halt’s net mehr aus im Bett.«

»Nanu«, wunderte sich Toni Wiesinger. »Gefällt’s Ihnen net hier im Pfarrhaus?«

Der Arzt war wie jeden Tag herübergekommen und hatte sich das Bein angesehen, und dem Patienten die Spritze gegeben. Er war erstaunt darüber, wie schnell die Wunde verheilt war, nach nur drei Tagen.

»Doch, doch, es ist ja der reinste Luxus für unsereinen«, beeilte Karl sich zu versichern.

Er wollte auf keinen Fall als undankbar gelten.

»Aber, wissen S’, Herr Doktor, ich bin an das ungebundene Leben in der Natur gewöhnt. Ich schlaf’ auch viel besser im Freien. Na, und was soll ich sagen – die gnädige Frau Tappert wird auch froh sein, wenn S’ mich wieder los sind.«

Er schaute zur offenen Kammertür und vergewisserte sich, daß die Haushälterin des Pfarrers nicht gerade in diesem Moment herein kam, dann beugte er sich zum Arzt.

»Also, das sag’ ich Ihnen, die hat einen Blick die Frau – es wundert mich, daß ich net tot umfalle.«

»Na, na, so schlimm wird’s schon net sein. Ist doch eine ganz patente Person, die Frau Tappert und eine hervorragende Köchin«, meinte Toni Wiesinger.

Gleichwohl wußte er um die Ängste, die die Haushälterin ausstand, seit Karl Moislinger zu Gast war. Daran änderte sich auch nichts, als Max versicherte, daß der Kranke ein ganz harmloser Landstreicher sei, der nirgendwo von der Polizei gesucht würde.

»Das ist wohl wahr«, stimmte Karl zu. »Der Herr Pfarrer kann sich glücklich schätzen, solch eine Perle gefunden zu haben. Trotzdem möcht’ ich so bald wie möglich von hier fort.«

»Also gut«, entschied der Arzt. »Wenn S’ denn unbedingt wollen – ich denk’ in zwei, drei Tagen können S’ das Bett verlassen.«

Er legte einen neuen Verband an und verabschiedete sich.

»Ich schau’ dann morgen wieder nach Ihnen.«

»Ist recht, und vielen Dank, Herr Doktor«, rief Karl Moislinger ihm hinterher.

Doch er dachte etwas anderes…

… wenn ich in zwei, drei Tagen aufstehen kann, dann kann ich es auch gleich! Was soll ich noch länger hier ’rumliegen? Schön, das Bett ist weich, und das Essen gut und reichhaltig, aber eigentlich ist das Bett zu weich, solch eines hab’ ich sonst net, und das Essen ist zu gut und reichhaltig, soviel und gutes hab’ ich sonst auch net.

Nein, Moislinger, deine Zeit hier ist abgelaufen, bevor du noch verweichlichst. Am besten wird’s sein, wenn du in der Nacht gehst, wenn alle schlafen, dann braucht’s auch keine langen Erklärungen.

Zufrieden mit seinen Gedanken drehte er sich auf die Seite und schlief bald darauf ein. Bis zum Mittagessen war es noch etwas hin.

*

Kurz nach zwölf brachte Sophie Tappert das Tablett mit dem Essen herein. Es gab Rinderbrust in Meerettichsauce und Rote Bete. In einer kleinen Schüssel befand sich Birnenkompott zum Nachtisch.

»Sagen Sie, gnädige Frau, was ich schon seit Tagen fragen wollt’, ich vemisse meine Kleidung. Sie wissen net, rein zufällig…«

Sophies Augen schossen Blitze auf ihn an.

»Hören S’ endlich mit der gnädigen Frau auf«, schimpfte sie. »Die bin ich nämlich net. Und was Ihre ›Kleidung‹ betrifft, wie Sie’s nennen – die hab’ ich in den Müll geworfen.«

»Was?«

Karl fuhr entsetzt auf.

»Meinen guten Anzug? Ich hatte nur den einen!«

»Seien S’ froh, daß Sie ihn los sind«, fuhr Sophie ihm über den Mund. »Es waren eh nur noch Lumpen. Sie bekommen ja einen neuen. Einen, den der Herr Pfarrer getragen hat. Ich hoff’, Sie wissen das zu schätzen.«

Sie ging hinaus und kehrte nach einiger Zeit mit einem Bündel Kleidung zurück. Ein dunkelgrauer Anzug, ein weißes Hemd und ein paar kaum getragene schwarze Halbschuhe. Dazu Karls Leibwäsche, die inzwischen gewaschen war. In einer kleinen Plastiktüte waren seine persönlichen Sachen, die sich in dem alten Anzug befunden hatten. Sophie Tappert verschwieg, daß sie sie mit Gummihandschuhen herausgeholt hatte, bevor sie die Lumpen in den Müll warf.

»Den Schlafanzug können S’ ebenfalls behalten, hat der Herr Pfarrer gesagt.«

Der Moislinger war ganz verwirrt über diese Großzügigkeit.

»Vielen Dank«, sagte er. »Ich weiß gar net, womit ich das verdient hab’.«

»Ich auch net«, erwiderte Sophie Tappert und rauschte aus der Kammer.

*

Carsten Henning zog das Sakko an und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, bevor er zum Essen hinunterging. Sepp Reisinger hatte ihm einen Tisch reserviert.

»Am Samstag abend ist immer viel los«, erklärte der Wirt.

»Net nur das a la Carté Geschäft. Am Wochenend’ ist auch immer Ball auf dem Saal. Wissen S’, wenn die Leut’ die ganze Woch’ über hart arbeiten, dann wollen’s am Samstag ihr Vergnügen. Wenn S’ mögen, Herr Henning, dann kommen S’ nach dem Essen einfach dazu. Da ist immer eine Mordsgaudi, wenn die Musi’ spielt.«

»Mal sehen«, hatte Carsten geantwortet.

Als er jetzt die Treppe hinunterging freute er sich in erster Linie darauf, auf Elke Kerner zu treffen. Zumindest hoffte er es. Gestern abend und heute morgen, beim Frühstück, hatte er sie nicht gesehen, und überrascht festgestellt, wie sehr er dies bedauerte. Die junge Frau mit den blonden Haaren ließ sich nicht mehr aus seinen Gedanken verdrängen. Er hatte sich fest vorgenommen, sich nicht so schnell wieder zu verlieben, und nun befürchtete er, daß es schon längst geschehen sei. Seit dem gestrigen Zusammentreffen, als er sie in seinen Armen gehalten hatte, da schien die Welt sich anders’rum zu drehen.

Als Carsten das Restaurant betrat, suchten seine Augen vergebens die Tische ab. Nirgendwo war das zauberhafte Gesicht zu entdecken. Statt dessen kam Sepp Reisinger und führte ihn persönlich an den reservierten Tisch. Er stand in einer kleinen Nische, und von dort aus konnte man das Lokal übersehen.

Nach einem kurzen Blick in die Karte, wählte er ein Wildgericht und einen Schoppen Rotwein dazu. Zuvor schenkte der Wirt ihm einen alten Portwein als Aperitif ein.

Carsten ließ sich Zeit und aß mit Ruhe und Genuß. Dabei schaute er sich um und betrachtete die Tische, die alle besetzt waren. Nicht nur Touristen speisten hier, auch viele einheimische Gäste ließen sich von den Kochkünsten der Wirtin verwöhnen. Der Hotelkaufmann gab ihnen recht, was Irma Reisinger auf den Tisch brachte, brauchte den Vergleich mit der Küche des renommierten Hauses, in dem er Geschäftsführer war, nicht zu scheuen.

Gleichwohl wurde der Genuß durch die Tatsache, daß Elke Kerner nicht im Restaurant war, ein wenig getrübt.

Carsten verzichtete auf ein Dessert und ließ sich die Rechnung bringen. Als er auf den Flur trat, hörte er vom anderen Ende her die Musiker im Saal spielen. Warum nicht, dachte er. Nicht immer hatte man Gelegenheit, einen zünftigen, bayerischen Abend zu verbringen, schon gar nicht, wenn man aus dem hohen Norden stammte. Er ging den Flur hinunter und blieb abrupt stehen. Aus einer Ecke kamen erstickte Laute. Es war, als würde jemandem der Mund zu gehalten.

Carsten ging weiter. Das Licht spendeten ein paar Wandlampen mit kerzenförmigen Leuchtkörpern, die den Flur nur spärlich erhellten. Viel war also nicht zu sehen. Trotzdem erkannte Carsten zwei Gestalten die sich in der Ecke drängten. Es waren ein Mann und eine Frau…, eine Frau, die ihm bekannt vorkam.

»Lassen Sie mich los!« rief Elke Kerner in diesem Moment.

*

Die junge Landschaftsarchitektin hatte lange überlegt, ob sie zum Tanz gehen sollte. Bis zum frühen Nachmittag war sie mit der Arbeit an dem Gutachten beschäftigt. Dann hatte sie sich ein wenig ausgeruht und war früh zum Abendessen gegangen. Schließlich entschied sie sich und bat um einen Platz im Saal. Sie wurde an einen Tisch gesetzt, an dem ein paar Leute in ihrem Alter saßen, und freundlich aufgenommen. Schon nach kurzer Zeit wr sie in Gespräche verwickelt und wurde des öfteren zum Tanzen aufgefordert.

Ihre gute Laune änderte sich auch nicht, als Martin Fornbacher hereinkam und sich zu ihnen setzte. Elke erkannte den jungen Mann, der ihr am Tag ihrer Ankunft so bewundernd hinterher gepfiffen hatte.

»Möchten S’ tanzen?« fragte Martin auch gleich, nachdem sie kaum fünf Minuten gesessen hatte.

Elke nickte und ließ sich von ihm auf die Tanzfläche führen. Martin griff fest zu, die junge Frau versuchte, etwas auf Distanz zu gehen. Der Bursche wirbelte sie zum Takt einer Polka herum, riß sie wieder in seine Arme und jauchzte dazu aus vollem Herzen. Sogar Elke ließ sich von seiner guten Laune anstecken.

»Komm, Madel, jetzt geh’n wir an die Bar«, rief Martin.

Er bestellte zwei Gläser Sekt.

»Prost, ich bin der Fornbacher-Martin.«

Elke prostete ihm zu und nannte ihren Namen. Dann stürzten sie den Sekt hinunter. Er prickelte und erfrischte herrlich.

»Und was ist mit dem Buß’l?« fragte Martin.

Elke war verwirrt über diese Forderung.

»Wie bitte?«

»Na, wir haben doch g’rad Brüderschaft getrunken«, meinte Martin. »Dazu g’hört doch auch ein Buß’l!«

Die junge Frau machte gute Miene zum bösen Spiel und drückte ihm einen Kuß auf die rechte Wange. Martin zog sie fester an sich.

»Soll das schon alles sein?« fragte er enttäuscht.

»War’s net genug?« antwortete sie scherzend.

Offenbar hatte Martin schon getrunken, bevor er zum Tanzabend gekommen war. Man hatte es ihm nicht angemerkt, doch jetzt sah Elke in seine glasigen Augen.

»Mir reicht‘s net. Noch lange net, Madel«, raunte er in ihr Ohr.

»Hören S’ doch auf, Martin«, bat die junge Frau und wand sich aus seinen Armen.

Sie ging an den Tisch zurück und nahm ihre Handtasche.

»Ich glaub’, ich muß mich etwas erfrischen«, sagte sie zu dem Madel, neben dem sie gesessen hatte, und ging zur Saaltür.

Sie hatte sie kaum geöffnet, als sich jemand an sie drängte und durch die Tür drückte.

Martin Fornbacher!

Er zog sie in eine kaum erhellte Ecke und versuchte, sie zu küssen. Elke wehrte sich gegen diese unerwünschte Liebesbezeugung. Sie wollte laut um Hilfe rufen, aber der Bursche hielt ihr den Mund zu. Es gelang ihr, seine Hand wegzudrücken.

»Lassen Sie mich los!« sagte sie im barschen Ton.

Sie war wirklich wütend auf den angetrunkenen Mann, der sich etwas herausnahm, wozu er absolut kein Recht hatte. Martin schien das alles noch als ein Riesenspaß zu sehen und versuchte wieder, seinen Mund auf ihre Lippen zu pressen. Da wurde er herumgerissen und sah einem zornbebenden Mann in die Augen.

»Lassen Sie die Frau los!«

fuhr Carsten Henning ihn an.

Der Fornbacher-Martin schaute auf die geballte Faust und wurde augenblicklich nüchtern.

»’s ist ja schon gut«, sagte er. »Es sollt’ ja nur a Gaudi sein.«

»Machen Sie Ihre Späße woanders«, antwortete Carsten immer noch wütend. »Los, verschwinden Sie endlich!«

Martin machte eilends, daß er davon kam, während Elke Kerner sich die zerzausten Haare richtete.

»Herr Henning, Sie schickt der Himmel«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie ich mich hätte wehren können.«

»Ist Ihnen etwas geschehen?« fragte er besorgt. »Sind Sie verletzt?«

»Nein, nein«, versicherte sie. »Es war eigentlich mehr der Schreck, der mir ein wenig zusetzte.«

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Jetzt waren Sie schon zweimal mein Retter«, sagte sie. »Ich weiß gar net, wie ich das wiedergutmachen kann.«

»Das war doch selbstverständlich«, wehrte er ab.

»Trotzdem danke ich Ihnen, und jetzt brauche ich etwas frische Luft. Haben Sie Lust, ein Stück mit mir zu gehen?«

»Aber ja, oder glauben Sie, ich lasse Sie nach diesem Vorfall alleine, draußen in der Dunkelheit, laufen?«

Elke hakte sich bei ihm ein, und sie gingen, wie ein vertrautes Paar durch das abendliche St. Johann.

Dabei spürte jeder von ihnen, das eigene Herz vor Aufregung schneller schlagen.

*

Karl Moislinger wartete, bis die Glocken von St. Johann Mitternacht schlugen. Dann erhob er sich aus dem Bett und stellte sich auf. Es klappte ganz gut. Schon am Nachmittag war er mehrmals aufgestanden und hatte ein paar Schritte Laufen geübt. Die Wunde am Bein schmerzte kaum noch.

Er schlüpfte in die neuen Sachen, die die Haushälterin ihm gebracht hatte. Der Anzug paßte tadellos. Schade, daß kein Spiegel in der Kammer war. Karl hätte sich zu gerne einmal darin bewundert. Seine persönlichen Gegenstände steckte er in die Innentaschen der Anzugsjacke, seine andere Habe befand sich immer noch in den beiden Plastiktüten, die neben dem Bett standen. Karl schnappte sie sich und öffnete vorsichtig die Tür. Lauschend spähte er hinaus. Draußen war alles ruhig. Auf dem Flur brannte ein kleines Lämpchen, dessen Schein bis zur Treppe reichte. Vorsichtig setzte der Mann einen Fuß vor den anderen. Der Boden knarrte ein wenig unter seinen Schritten. Als er an der Tür vorbeikam, hinter der Sophie Tappert schlief, knarrte es besonders laut.

Karl Moislinger blieb stehen und hielt unwillkürlich die Luft an. Aus dem Zimmer der Haushälterin drangen leise Schnarchgeräsuche. Beruhigt atmete er weiter und setzte seinen Weg nach unten fort.

Im Erdgeschoß mußte er sich erst einmal orientieren. Karl öffnete eine Tür. Das mußte das Pfarrbüro und Arbeitszimmer des Geistlichen sein. Leise zog er die Tür wieder ins Schloß. Gleich darauf fand er die Küche. Bestimmt würde er hier etwas auftun, das er für seinen weiteren Weg gebrauchen konnte. Licht zu machen, wagte er nicht, der Mondschein mußte ausreichen. Ohne gegen Tisch oder Stuhl zu stoßen, was verräterische Geräusche erzeugt hätte, tastete der Landstreicher sich bis an den Küchenschrank vor. Im unteren Teil fand er Töpfe und Pfannen. Oben rechts stand das Geschirr, in der Mitte befanden sich Vorräte, wie Zucker und Mehl. Enttäuscht schloß Karl Moislinger die Türen wieder. Blieb noch die linke Seite, wenn er dort auch nicht fand, was er suchte…

In der linken Schrankseite fanden sich Kaffee, Kakao- und Puddingpulver, Schokoladentafeln und Gläser mit Backaromen. Der Mann durchstöberte weiter das Fach und schüttelte schließlich den Kopf.

Unter einem Päckchen Vanillepudding lagen zusammengefaltete Hundertmarkscheine.

»’s ist doch unglaublich, wie manche Leute mit ihrem Geld umgehen«, flüsterte Karl Moislinger im Selbstgespräch.

Dieses Problem hatte er nicht – er besaß ja keines.

Karl schloß den Schrank wieder und entdeckte endlich die Tür zur Speisekammer. Erleichtert atmete er auf. Hier fand er endlich, was er gesucht hatte. Sein wertvollster Besitz war ein Taschenmesser. Damit schnitt er eine gute Protion von dem Räucherschinken ab, der an einem Regal hing, ebenso ein Stück Mettwurst. Nachdenklich betrachtete er die zwei Brote.

Ob der Her Pfarrer wohl auch von einem satt würde?

Karl Moislinger ging mal davon aus und legte eines zu der Wurst und dem Schinken. Unter dem Regal lagen Plastiktüten. Er nahm eine und steckte die Sachen hinein. Dann ging er durch die Küche und den Korridor. Die Haustür war verschlossen, aber der Schlüssel steckte. Karl drehte ihn herum und öffnete die Tür. Draußen war keine Menschenseele zu sehen, als er die Haustür hinter sich ins Schloß zog.

»Vergelt’s Gott«, murmelte er und ging den Weg zur Hauptstraße hinunter.

Auf der Straße angekommen, schaute er sich rechts und links um und nahm dann den Weg nach Engelsbach.

*

Für Carsten Henning wurde es eine schlaflose Nacht. Unablässig wälzte er sich in seinem Bett hin und her. Schließlich stand er auf. Es war kurz nach halb zwei, und er hatte noch kein Auge zugetan.

Der Grund für Carstens Schlaflosigkeit hieß Elke Kerner.

Der Hotelkaufmann aus Hamburg saß in dem Sessel am Fenster und ließ den Abend noch einmal Revue passieren.

Elke hatte sich bei ihm eingehakt, und sie waren nach draußen gegangen. Es war ein ungewöhnlich milder Abend. Aus dem Saal des Hotels drang gedämpfte Musik auf die Straße, und auf dem Parkplatz gegenüber hatten sich ein paar Jugendliche aus dem Dorf versammelt. Offenbar war dort ihr Treffpunkt.

Elke und Carsten gingen langsam die Straße hinunter, an den wenigen Geschäften vorbei, die es in St. Johann gab.

»Wie sind Sie gerade darauf gekommen, hier Ihren Urlaub zu verbringen?« fragte die junge Frau.

Carsten erzählte von dem Koch, der von hier stammt und immer wieder von St. Johann schwärmte.

»Ich bin neugierig geworden«, meinte er. »Und da ich gerade ein paar Tage Urlaub brauchte, habe ich mich kurz entschlossen in das Auto gesetzt und bin hierher gefahren.«

Über den Grund für den Urlaub, seine geplatzte Verlobung mit Petra Hagen, sprach er nicht.

»Und Sie?« fragte er. »Was hat Sie hierher verschlagen?«

Elke hatte schon vorher überlegt, was sie antworten sollte, wenn diese Frage aufkam. Die Wahrheit konnte sie ihm unmöglich sagen, das würde ihre Loyalität gegenüber ihrem Auftraggeber nicht zulassen. Allerdings gab es auch keinen Grund, diesen jungen Mann, der ihr sehr sympathisch war, zu belügen.

»Die schöne Gegend hat mich angelockt«, erwiderte sie ausweichend. »Ich wohne in der Nähe von München, meine Anreise war also net ganz so weit, wie die Ihre. Aber, sagen Sie, Ihre Tätigkeit im Hotel – ich stelle sie mir wahnsinnig interessant vor. Bestimmt kommen Sie mit vielen berühmten Menschen zusammen. Ihr Haus gehört ja zu den ersten Adressen.«

Carsten bestätigte es. Es war ein schöner und anstrengender Beruf, den er hatte. Es gab großartige Anlässe für Feiern, und interesssante Gäste aus aller Welt. Aber es konnte auch nervenaufreibend sein.

»Ich habe nicht einen Tag bereut«, bekundete er.

Sie waren beinahe am Ende des Dorfes angekommen. Hier war alles still, lediglich der Wind rauschte in den Bäumen, und irgendwo sang eine Nachtigall.

Elke hatte seinen Arm nicht losgelassen.

»So, wie sie das sagen, klingt es, als wären Sie in Ihren Beruf verliebt«, lachte sie. »Ist es Ihre einzige Liebe?«

Carsten schaute sie einen Moment nachdenklich an.

»Zur Zeit ja«, gab er dann zu.

Elke wurde plötzlich bewußt, wie persönlich diese Frage war.

»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht indiskret sein«, sagte sie. »Es geht mich natürlich überhaupt nichts an…, aber Sie sind mir irgendwie so vertraut, als ob wir uns schon seit Jahren kennen.«

»Ist das wirklich wahr?« freute Carsten sich. »Ich…, ich fühle genau das gleiche…«

Elke hob den Kopf und bot ihm ihren Mund dar. Carsten sah diese wunderschönen Augen, das verlockende Rot ihrer Lippen, und obwohl er sich geschworen hatte, sich nicht wieder so schnell zu verlieben, wußte er, daß es doch geschehen war.

Als sich ihre Lippen berührten, zog sich das Liebesband, das das Schicksal um sie gewoben hatte, ganz eng zusammen.

Und diese Tatsache ließ ihn keinen Schlaf finden. Carsten Henning überlegte hin und her, ob es richtig war, sich seinen Gefühlen hinzugeben, trotz der schlimmen Erfahrung, die er gemacht hatte. Seine Liebe zu Petra Hagen war erloschen. Gestorben an jenem unseligen Abend.

Konnte er überhaupt jemals wieder einer Frau vertrauen?

*

Der junge Mann aus Hamburg ahnte nicht, daß noch jemand in dieser Nacht keine Ruhe fand.

Elke Kerner warf das Gutachten, in dem sie gelesen hatte, achtlos beiseite. Sie lag im Pyjama auf ihrem Bett, auf dem Nachtkästchen daneben standen ein Kännchen Früchtetee und Tasse, sowie ein Tellerchen mit Keksen. Kurz vor Küchenschluß hatte sie sich diese Sachen noch schnell bestellt. Eigentlich wollte sie die schriftliche Stellungnahme heute abend beenden, doch seit sie wieder auf ihrem Zimmer war, konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Es bestand kein Zweifel daran, daß sie Carsten Henning liebte. Doch was würde daraus werden? Vor dem Hotel hatte er sie noch einmal geküßt, aber diese beinahe schüchternen Küsse ließen Zweifel aufkommen. Auch wenn er sagte, daß er ihre Gefühle erwiderte, so spürte Elke doch eine deutliche Distanz, die er zu bewahren schien.

Da mußte etwas sein, das diese Distanz hervorrief!

Doch eine andere Frau? Carsten hatte beteuert, daß es diese nicht gäbe. Aber warum wirkte er dann so merkwürdig, fast, als habe er ein schlechtes Gewissen?

Und wenn sie sich irrte? Wenn da gar nichts war, das ihr Mißtrauen begründete, was würden dann aus ihnen beiden werden? Sollte sie mit ihm nach Hamburg gehen, oder würde er sich eine neue Arbeit in ihrer Nähe suchen? Wenn sie ginge, was würde Reinhard, ihr Bruder, mit dem sie die Firma teilte, sagen?

Fragen über Fragen, und keine Antworten. Außerdem war immer noch nicht das Problem mit dem Hotelbau gelöst.

Seufzend nahm die junge Frau das Gutachten und blätterte es auf. Ihre Ansicht über das ganze Projekt war klar. Sie konnte nur negativ ausfallen. Dennoch wollte sie die Entscheidung nicht alleine fällen. Also mußte ihr Bruder hierher kommen.

Elke schaute auf die Uhr. Zwei vorbei. Dennoch griff sie zum Telefon neben ihrem Bett. Sie wußte aus Erfahrung, daß ihr Bruder, gerade am Wochenende, oft die ganze Nacht über zu Hause arbeitete. Sie wählte die Nummer seines Privatanschlusses. Wenn sie noch länger wartete, würde er schon wieder andere Termine haben und erst wer weiß wann herkommen können, dachte sie dabei.

»Bei Kerner«, hörte sie kurz darauf die Stimme ihrer Schwägerin Marina.

»Hallo, ich bin’s, Elke. Grüß’ dich, Marina. Sag’ der Reinhard arbeitet doch sicher noch, oder?«

Die Frau am anderen Ende der Leitung lachte.

»Du kennst deinen Bruder ganz genau«, antwortete sie. »Aber heut’ abend ist’s eine Ausnahme. Wir hatten Gäste, und die letzten sind gerade gegangen. Wart’, Reinhard steht schon ungeduldig neben mir, ich geb’ den Hörer weiter.«

»Hallo, Schwesterherz«, rief ihr Bruder gleich darauf. »Wie kommst du voran? Ich hoffe, du bist bald fertig dort unten. Ich brauch’ dich hier dringend. Es wartet eine ganze Menge Arbeit auf dich.«

»Da muß ich dich enttäuschen«, erwiderte sie. »Ich komme überhaupt nicht weiter. Am besten wird’s sein, wenn du dir’s hier vor Ort selbst anschaust.«

Sie konnte sich vorstellen, was für ein Gesicht Reinhard jetzt machte, aber sie sah keine andere Möglichkeit, die Sache hier abzuwickeln. Immerhin hing an diesem Auftrag auch immens viel Geld, daß sie für das Fremdenverkehrs-Gutachten verlangen würden. Da mußte alles Hand und Fuß haben.

»Und das bei meinem vollen Terminkalender«, stöhnte ihr Bruder durch das Telefon. »Wart’ einen Moment, ich schau’ nach, wann ich’s einrichten kann.«

Elke hörte, wie er in seinem Kalender blätterte. Sie kannte ihn, ein dickes, in schwarzes Leder gebundenes Buch. Sie selbst besaß einen aus rotbraunem Leder. Sie konnte sich vorstellen, wie er die Seiten umblätterte und dabei überlegte, welche Termine er verschieben könnte.

»Also, frühestens am Freitag«, hörte sie ihn durz darauf. »Ich komm’ ganz früh und fahre gegen Mittag wieder ab. Das muß reichen.«

»Das wird es«, freute Elke sich. »Ich bin froh, daß du es einrichten kannst. Außerdem…, ach nichts.«

»Nanu? Ist da noch etwas, das dich bedrückt?« fragte Reinhard. »Du klingst so merkwürdig.«

»Nicht direkt…«

»Mädchen, sag’ die Wahrheit. Ich kenn’ dich seit mehr als zwanzig Jahren. Du weißt, daß du mir so leicht nichts vormachen kannst. Ich spür’ doch, daß da noch was ist.«

»Schon, aber darüber reden wir, wenn du hier bist.«

»Wirklich dann erst? Nicht eine kleine Andeutung?« Elke schwieg.

»Etwa ein Mann?« platzte es aus ihrem Bruder heraus. »Du hast dich doch nicht etwa verliebt? Marina, stell’ dir vor, Elke hat sich verliebt.«

Was ihre Schwägerin antwortete, hörte sie nicht mehr.

Sie rief: »Blödmann!« ins Telefon, warf den Hörer auf die Gabel und vergrub das Gesicht in ihrem Kopfkissen.

Sie wußte nicht, ob sie weinen oder lachen sollte.

*

»Ein undankbarer Patron!« schimpfte Sophie Tappert beim Frühstück.

»Von wem reden Sie denn?« fragte Sebastian Trenker seine Haushälterin.

»Na, von dem Taugenichts, der fast eine ganze Woch’ bei uns genächtigt hat.«

»Wieso hat? Ist er fort?«

»Jawohl, und ohne ein Dankeschön für all die Mühe, die wir mit ihm hatten, und gestohlen hat er auch noch.«

Die ansonsten schweigsame Frau kam so richtig in Fahrt und schilderte, wie sie dem Moislinger-Karl das Frühstück hatte bringen wollen.

Sophie Tappert klopfte an die Kammertür und trat ein, ohne ein ›Herein‹ abzuwarten. In der rechten Hand hielt sie ein Tablett, auf dem sich das Frühstück für den Kranken befand.

»Guten Mor…«

Guten Morgen hatte sie sagen wollen, doch das Wort erstarb ihr auf den Lippen. Das Bett, in dem Karl Moislinger liegen sollte, war nämlich leer.

Kopfschüttelnd stellte die Haushälterin das Tablett auf den Tisch. Vermutlich war der Obdachlose im Badezimmer. Sie wandte sich zum Gehen um – und blieb wie erstarrt stehen.

Etwas war ihr aufgefallen. Die Plastiktüten, in denen der Moislinger-Karl sein Hab und Gut herumschleppte, die immer neben dem Bett gestanden hatten, waren verschwunden.

Sophie Tappert blickte auf den Stuhl. Dorthin hatte sie Hochwürdens ausgetragenen Anzug hingehängt, zusammen mit dem Hemd und der Leibwäsche. Alles war fort!

Sie ging auf den Flur. Zwei Türen weiter war das Badezimmer. Sophie klopfte an, erhielt aber keine Antwort. Sie lauschte einen Moment und drückte, als sie keine Geräusche vernahm, die Klinke herunter. Wie sie erwartet hatte, war das Bad leer.

»Aus dem Staub gemacht hat er sich, der Herr Moislinger«, schloß sie ihren Bericht.

Das Wort ›Herr‹ betonte sie dabei.

»Ob der Doktor Wiesinger ihm denn schon erlaubt hat, aufzustehen?« wunderte der Pfarrer sich.

»Glauben S’ denn, Hochwürden, daß so einer um Erlaubis fragt?« erwiderte Sophie Tappert. Wir können ja froh sein, daß er ›nur‹ etwas gestohlen, und uns net umgebracht hat.«

»Bitt’schön, Frau Tappert, übertreiben S’ net. Was fehlt denn eigentlich?«

»Ein gutes Stück geräuchten Schinken, eine halbe Mettwurst und ein ganzes Brot!« trumpfte sie auf.

»Nun ja, ich denke, wir werden den Verlust verkraften können«, meinte Sebastian. »Natürlich braucht er eine Wegzehrung. Wenn sonst nichts Schlimmeres geschehen ist.«

Sophie wurde leichenblaß und preßte eine Hand vor den Mund. Eine Geste, die sie immer dann zeigte, wenn sie ihre Fassungslosigkeit ausdrückte.

»Sie sagen da ’was, Hochwürden«, rief sie entsetzt und wandte sich zum Küchenschrank um. »Hoffentlich ist’s noch da!«

»Ja was denn?« wollte der Pfarrer wissen.

Seine Haushälterin antwortete nicht. Sie wühlte in dem oberen, linken Schrankfach.

»Es ist weg!« stöhnte sie dann und drehte sich zu Sebastian um. »Hier hat’s gelegen. Jetzt ist es fort. Gestohlen!«

»Ja, was denn, um alles in der Welt?«

»Das Geld…, das Haushaltsgeld für die nächste Woch’«, sagte sie leise unter Tränen.

Sebastian sah sie kopfschüttelnd an. Dann stand er auf und drückte sie sanft auf den Stuhl. Er reichte ihr die Kaffeetasse.

»Hier trinken Sie erstmal, und dann beruhigen Sie sich«, versuchte er, sie aufzumuntern.

»Einfach gestohlen!«

Sophie kramte aus ihrer Schürze ein Taschentuch hervor und trocknete die Tränen.

»Was mach’ ich denn jetzt nur?« fragte sie. »Das ganze Haushaltsgeld…«

Sebastian räusperte sich.

»Natürlich ist es schlimm, was da vorgefallen ist«, sagte er.

»Dennoch kann ich Ihnen einen kleinen Vorwurf nicht ersparen. Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen das Geld vom Pfarrkonto auf der Bank holen, wenn Sie welches brauchen. Wozu haben Sie denn diese Karte dafür?«

»Ach, Hochwürden, Sie wissen doch, daß ich diesen Maschinen net trau’, all dieser neumodische Kram. Davon versteh’ ich doch nix«, antwortete sie. »Und die Geheimnummer – merken kann ich’s mir net, und aufschreiben darf ich’s a net.«

Sie stand auf und machte ein entschlossenes Gesicht.

»Aber der Bursche wird mich kennenlernen«, drohte sie.

»Eines Tages läuft er mir wieder über den Weg, und dann…«

Sie sprach nicht aus, was sie dann zu tun gedachte, statt dessen ging sie zum Telefon und wählte die Nummer des Polizeipostens von St. Johann.

Sebastian, der ahnte, daß die Haushälterin seinen Bruder anrufen wollte, schmunzelte. Der Max wird sich freuen, so früh aus dem Bett geholt zu werden!

*

Vergeblich hatte Elke Kerner beim Frühstück auf Carsten Henning gewartet. Dabei hatte sie sich so darauf gefreut, mit ihm zusammen an einem Tisch zu sitzen. Enttäuscht ging sie hinauf und klopfte an seine Zimmertür. Als Carsten nicht antwortete ging Elke auf ihr Zimmer und zog sich um.

Sie wußte nicht, wie sie Carstens Verhalten deuten sollte. Ging er ihr absichtlich aus dem Weg? Bereute er vielleicht sogar, was gestern abend geschehen war? Die junge Frau überlegte, ob sie noch eine Weile warten solle, doch dann verwarf sie den Gedanken. Um einen abschließenden Eindruck zu gewinnen, mußte sie noch einmal das Gebiet um St. Johann herum in Augenschein nehmen. Eigentlich war sie schon viel zu spät dran. Sie mußte sich beeilen, die Strecke, die sie sich vorgenommen hatte, brauchte ihre Zeit.

Elke wollte noch einmal auf die Hohe Riest wandern. Von dort hatte man den schönsten Blick in alle Richtungen. Im Rücken die Berge, und vor sich das weite Tal mit dem Ort darin. Dorthin wollte sie auch ihren Bruder führen. Wenn er dieses Bild sah, konnte Reinhard nur der gleichen Meinung sein, wie sie. Überhaupt war sie sicher, ihren Bruder und Teilhaber der Firma davon überzeugen zu können, daß das ehrgeizige Projekt des Bürgermeisters von St. Johann von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Er konnte sich dem nur anschließen und das Gutachten in ihrem Sinne unterstützen.

Über den Höllenbruch stieg sie hinauf. Der Pfad war schmal, doch die Sohlen der derben Wanderschuhe griffen gut. Im Hotel hatte Elke sich einen kleinen Rucksack geliehen, in dem etwas Proviant und eine Wasserflasche steckten. Der Fotoapparat und ein Fernglas hingen um ihren Hals. Zu Mittag, so hatte die junge Frau sich vorgenommen, wollte sie in einer Sennenwirtschaft einkehren.

Elke schnaufte ein wenig, als sie die Hälfte des Weges geschafft hatte. Sie spürte, wie sehr ihr die Übung fehlte. Zwar joggte sie hin und wieder, doch um sich richtig fit zu halten, ließ die Arbeit ihr einfach zu wenig Zeit.

Schließlich stand sie oben und genoß den herrlichen Rundblick. Beinahe einen ganzen Film verschoß sie und freute sich immer wieder an den herrlichen Motiven. Nachdem sie ausgiebig gerastet hatte, wobei sie sich ihren Proviant schmecken ließ, wanderte sie weiter. Anhand einer Karte stellte sie fest, daß es in einiger Entfernung eine Alm gab, auf der eine Sennerhütte stand. Sie war als Einkehr für Wanderer gekennzeichnet. Auf dem Weg dorthin begegnete Elke immer wieder Menschen, die gleichfalls den sonnigen Tag genossen und sich an der Natur erfreuten.

Gegen Mittag hatte sie ihr Ziel erreicht. An der Hütte herrschte ein reger Betrieb. Viele Gäste saßen draußen, auf roh gezimmerten Bänken, andere in der kleinen Sennenwirtschaft. Elke fand draußen unter dem Dach einen Platz und bestellte als erstes ein Glas kühle Milch.

Das junge Madel, das die Milch brachte, fragte, ob sie etwas zu essen wünsche. Elke bejahte und erfuhr, daß es nur ein warmes Gericht gäbe, ansonsten müsse sie mit einer Brotzeit vorlieb nehmen. Sie wählte die warme Mahlzeit und erhielt nach ein paar

Minuten ein herrliches Schwammerlgulasch mit einem Semmelkloß, der doppelt so groß war, wie ein Tennisball. Es war eine ungeheure Portion, doch Elke schaffte sie.

Der Aufstieg und die frische Bergluft hatten ihren Appetit angeregt.

In dem Fenster hinter ihr standen wunderhübsche geschnitzte Holzfiguren. Elke fragte das Madel, ob sie verkäuflich seien.

»Ja«, lautete die Antwort. »Der Großvater schnitzt sie, wenn

grad keine Leut’ da sind.«

Sie kaufte einen kleinen geschnitzten Schäferhund, der nur ein paar Mark kostete. Ein nettes Andenken an einen schönen Ausflug. Das Madel, das ihr den Hund brachte, setzte sich zu ihr an den Tisch. Es hieß Katja.

»Schön habt ihr’s, hier oben«, sagte Elke.

»Schon, aber immer möcht’ ich net da’roben sein«, erwiderte Katja und erzählte, daß sie in St. Johann wohne und nur am Wochenend’ hier oben beim Großvater sei.

Der war schon seit mehr als vierzig Jahren auf der Alm und war entschlossen, bis zu seinem Tode hier zu bleiben.

*

Die meisten Gäste waren schon wieder unterwegs. Es kamen nur noch wenige herauf. Einer von ihnen fiel Elke auf. Es war ein sonnengebräunter sportlicher Typ, den man leicht für einen Sport-

ler halten konnte. Selbst jetzt, nach dem anstrengenden Aufstieg schien er kaum aus der Puste zu sein.

»Das ist unser Pfarrer«, lachte Katja. »Grüß’ Gott, Hochwürden, Sind S’ auch wieder einmal da’roben?«

Elke staunte. Das sollte der Pfarrer von St. Johann sein? Wenn das Madel es net gesagt hätte – sie würd’s net glauben!

»Grüß Gott, miteinand’«, nickte Sebastian Trenker und setzte sich zu den beiden. »Katja, ein Glaserl Milch wär’ genau das richtige für mich.«

»Kommt sofort, Herr Pfarrer«, antwortete sie und verschwand im Haus.

Der Geistliche wandte sich an Elke Kerner.

»Sebastian Trenker«, stellte er sich vor.

Sie nannte ebenfalls ihren Namen. Das war also der Hirte von St. Johann, dachte sie. Er gehörte somit zu den Honoratioren des Ortes. Vielleicht war dies eine gute Gelegenheit, herauszufinden, wie der Pfarrer zu einem Projekt stand, wie es der Bruckner-Markus anstrebte. Behutsam versuchte sie das Gespräch in diese Bahn zu lenken.

»Ja, es kommen reichlich Touristen hierher«, antwortete Sebastian auf eine diesbezügliche Frage. »Viele von ihnen schon seit Jahren. Sie kommen immer wieder, weil sie hier etwas finden, was es anderswo vielleicht nicht gibt.«

»Nämlich?«

Der Geistliche schaute die junge Frau lächelnd an.

»Ruhe und Erholung.«

»Aber meinen Sie nicht, daß der Ort ein wenig mehr haben könnte, was den Fremdenverkehr noch mehr ankurbelt und Sankt Johann für Touristen noch attraktiver macht?«

»Was könnte das sein?«

Elke Kerner ließ sich einen Moment Zeit mit ihrer Antwort.

»Nun, ich denke da an eine Skipiste, zum Beispiel, eine Bergbahn zum Gletscher hinauf. Oder ein größeres Hotel mit Schwimmbad. Eine Diskothek, vielleicht«, sagte sie schließlich.

Sebastian trank einen Schluck von seiner Milch.

»Sehen Sie, genau das meinte ich, als ich sagte, die Leute finden hier, was sie woanders nicht bekommen – Ruhe und Erholung«, antwortete er. »Die Menschen, die zu uns kommen, wollen keine Skipiste oder eine Diskothek. Gerade deshalb kommen sie immer wieder. Abgesehen davon wäre es eine Schande, unser schönes Tal mit einem großen Hotelkomplex zuzubauen.«

Er hob eine Hand.

»Natürlich gibt es Bestrebungen in diese Richtung«, fuhr er fort. »Doch ich denke, daß sie keine Mehrheit finden werden. Die meisten Mitglieder des Gemeinderats sind vernünftig genug, zu erkennen, welche nicht wieder gutzumachenden Schäden der Natur und Umwelt zugefügt würden, sollte solch ein Projekt jemals in Angriff genommen werden.«

Sebastian schaute Elke Kerner direkt an.

»Sie scheinen sich sehr für diese Dinge zu interessieren«, stellte er fest. »Haben Sie mit der Tourismusbranche zu tun?«

Elke spürte ein unangenehmes Gefühl in sich aufsteigen. Was sollte sie antworten? Durfte sie gegenüber dem Geistlichen von ihrer Arbeit sprechen, ohne ihrem Auftraggeber zu schaden?

»Nicht direkt«, antwortete sie, was ja auch der Wahrheit entsprach, wenngleich es nur die halbe Wahrheit war.

Zumindest in diesem Fall hatte sie mit dem Fremdenverkehr zu tun.

»Ich interessiere mich nur ganz allgemein.«

Sebastian Trenker nickte verstehend.

»Ich weiß, daß der Fremdenverkehr Geld in die Kassen bringt, die heutzutage überall leer sind, egal ob in den Kommunen oder bei den Geschäftsleuten. Dennoch kann kein gesunder Menschenverstand es gutheißen, daß um des Profit willens, die Natur und damit der Lebensraum von Mensch und Tier zerstört wird«, schloß er seine Ausführungen.

Elke Kerner erhob sich.

»Vielen Dank, Herr Pfarrer, ich glaube, Sie haben mir noch ein bißchen mehr die Augen geöffnet«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. »Auf Wiedersehen. Bevor ich abreise, werde ich Ihre Kirche besuchen.«

»Das freut mich. Sie sind herzlich willkommen.«

Sebastian sah der jungen Frau nach, bis sie nicht mehr zu sehen war. Etwas an dem Gespräch mit ihr hatte ihn nachdenklich gemacht. Für eine Touristin hatte Elke Kerener zuviele gezielte Fragen gestellt.

War es wirklich nur allgemeines Interesse gewesen, das sie zu diesen Fragen veranlaßt ahtte?

Sebastian ahnte nicht, daß er mit seiner Meinung Elkes Herz erleichtert hatte. Jetzt würde es ihr nur noch halb so schwer fallen, auch ihren Bruder von der Notwendigkeit zu überzeugen, Bürgermeister Bruckner ein negatives Gutachen zu überreichen.

*

Als Carsten Henning erwachte, bekam er einen Heidenschrecken. Der Reisewecker zeigte halb zwölf an.

»Um Himmels willen«, stöhnte er und sprang aus dem Bett. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so lange geschlafen hatte. Ausgerechnet heute mußte es ihm passieren, wo er doch zusammen mit Elke frühstücken wollte! Sie hatten es zwar nicht ausdrücklich verabredet, aber irgendwie verstand es sich von selbst, und genauso selbstverständlich würden sie den Tag zusammen verbringen.

Daran war nur die schlaflose Nacht schuld! Der Morgen graute schon, als Carsten endlich die Augen zufielen. Da war es vielleicht verständlich, daß er so lange geschlafen hatte. Er hoffte zumindest, daß Elke dieses Verständnis haben würde, wenn er ihr es erzählte.

Das Frühstücksbüfett war natürlich schon abgeräumt, das Hotelpersonal bereitete sich auf den Mittagstisch vor, Irma Reisinger erklärte sich dennoch bereit, ein kleines Frühstück für den Verspäteten zusammenzustellen. Carsten fragte die Wirtin nach Elke.

»Die Frau Kerner? Die ist schon ganz früh heut’ morgen losgezogen«, antwortete sie.

»Hat sie denn gesagt, wohin sie wollte?«

Carsten sah das nachdenkliche Gesicht der Frau. Irma Reisinger konnte ja nicht wissen, daß er und Elke…, und er selber würde auf seiner Arbeit auch nicht jedem Gast über einen anderen Auskunft geben.

»Wir waren mehr oder weniger locker verabredet«, erklärte er. »Dadurch, daß ich verschlafen habe, ist nun nichts daraus geworden. Aber vielleicht kann ich sie noch irgendwo treffen.«

»Die Frau Kerner wollte auf die Hohe Riest und später vielleicht auf eine Berghütte hinauf.«

Sie machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Warten S’, da kommt eigentlich nur die Korber-Alm in Frage. Die Sennerwirtschaft ist die nächste zur Hohen Riest. Wobei – gut zwei Stunden brauchen S’ schon, ehe Sie dann an der Hütte ankommen.«

»So weit?«

Carsten machte ein langes Gesicht. Da würde er sich etwas andres einfallen lassen müssen. Wenn er nach dem verspäteten Frühstück aufbrach, war Elke höchstwahrscheinlich schon bald wieder auf dem Rückweg.

Er bedankte sich bei der Wirtin für die Auskunft und widmete sich seinem Essen. Dabei blätterte er, wie er es gerne tat, in der Zeitung, die heute, am Sonntag, besonders umfangreich war. Doch so recht konzentrieren konnte er sich auf das, was er da las, nicht. Seine Gedanken wanderten immer wieder zu Elke. Er stellte sich vor, was sie gerade tat, ob sie vielleicht auf der Hütte saß, oder sich mit jemandem unterhielt. Irgendwie kam ihm in den Sinn, daß sie gar nicht über ihre Arbeit gesprochen hatten. Er hatte viel von seinem Beruf erzählt. Welcher Tätigkeit Elke nachging, war gar nicht Thema ihrer Unterhaltung gewesen. Carsten nahm sich vor, sie danach zu fragen, er wollte alles aus ihrem Leben wissen.

Er beendete sein Frühstück und holte Jacke und Wanderkarte aus dem Zimmer. Dann spazierte er langsam in die Richtung aus der die junge Frau kommen mußte.

Schon bald hatte er das Dorf hinter sich gelassen und suchte den Weg hinauf zum Höllenbruch. Dabei hoffte er, daß Elke den selben Weg zurück nahm, den sie hinaufgegangen war.

Einmal war es ihm, als sehe er sie ihm entgegenkommen, doch dann mußte er feststellen, daß er sich geirrt hatte. Die Gestalt, der er begegnete, war ein junger Mann, der nur von weitem wie Elke ausgesehen hatte.

Ungeduldig schaute er auf die Uhr. Jetzt mußte sie aber bald kommen. Oder sollte er sich so getäuscht haben? Hatte sie vielleicht doch einen anderen Weg genommen?

Nein, da war sie!

Oberhalb des Höllenbruchs erkannte er sie endlich. Sie kletterte vorsichtig hinunter und lachte, als sie ihn erkannte.

»Hallo, hier bin ich«, winkte er ihr zu.

Elke Kerner winkte zurück und sprang Minuten später in seine Arme.

»Hey, das ist ja schön, daß wir uns hier treffen«, sagte sie und küßte ihn auf den Mund.

»Es tut mir fürchterlich leid, wegen heute morgen«, entschuldigte Carsten sich. »Ich habe ganz einfach verschlafen.«

Er erzählte wie lange er in der Nacht wach gewesen war. Elke schmunzelte.

»Das war die Aufregung«, sagte sie. »Mir ging es ebenso.«

Carsten klatschte in die Hände.

»Auf jeden Fall werden wir den Rest des Tages gemeinsam verbringen«, bestimmte er.

Elke hatte nichts dagegen einzuwenden.

*

Mit Carstens Wagen fuhren sie am Nachmittag in die Kreisstadt, wo sie in einem Café Kuchen aßen und Kaffee tranken. Arm in Arm spazierten sie durch die Stadt, schauten in die Auslagen der Geschäfte und hielten immer wieder inne, um sich zu umarmen und zu küssen.

»Ich weiß gar net mehr, wie es war, als ich dich noch net kannte«, flüsterte Elke, als Carsten sie zärtlich an sich drückte.

Der junge Mann strich ihr über das Gesicht.

»Was wird daraus werden?« fragte er. »Du bist hier unten, ich in Hamburg. Wird unsere Liebe Bestand haben? Ich weiß so wenig von dir. Weniger, als ich aus meinem Leben erzählt habe.«

Sie hatten einen kleinen Park erreicht und setzten sich auf eine freie Bank. Carsten schob seine Hand in die ihre.

»Was möchtest du denn wissen?« fragte Elke. »Ich hab’ keine Geheimnisse vor dir.«

»Alles«, antwortete er. »Wo du lebst und wie du lebst. Was du arbeitest, welche Freunde und Bekannte du hast. Eben alles, was mich an deinem Leben teilhaben läßt.«

Elke erzählte bereitwillig, was er wissen wollte. Sie berichtete von der Firma, die sie zusammen mit dem Bruder leitete, von Freundinnen und Freunden, von denen sie viele schon seit der Schulzeit kannte.

»Nur den Mann für’s Leben, den gibt’s noch nicht«, meinte sie mit einem schelmischen Seitenblick auf Carsten. »Zumindest gab es ihn bisher net. Seit gestern sieht die Sach’ aber anders aus.«

Er schmunzelte.

»Wie meinst du denn das?«

Elke gab ihm einen freundschaftlichen Seitenhieb.

»Geh’, du weißt, wie ich’s mein’.«

Sie schlang die Arme um seinen Hals, und Carsten erwiderte ihren Kuß.

»Glaubst du wirklich, ich könnte der Mann sein?« fragte er.

Elke nickte ernsthaft. Bisher hatte der Beruf ihr keine Zeit gelassen. Bekanntschaften gab es viele, und etliche darunter, die ihr die ganze Welt zu Füßen gelegt hätten. Doch ihre Ansprüche sahen anders aus. So hatte sie sich schon beinahe damit abgefunden, niemals den Mann zu finden, mit de sie ihr Leben teilen wollte. Bis sie Carsten Henning traf.

Carsten indes war erstaunt über sich selbst. In der Nacht noch wurde er von Zweifeln geplagt, doch jetzt war er sogar bereit, die entscheidende Frage zu stellen. Zu groß war die Enttäuschung gewesen, die ihm eine Frau bereitet hatte, und doch wagte er es. Vergessen war der Schwur den er vor gar nicht langer Zeit ablegte.

»Es ist vielleicht verrückt«, sagte er, als er tief in ihre Augen schaute. »Wir kennen uns erst so kurze Zeit, aber ich frage dich trotzdem: Willst du meine Frau werden?«

Elke schluckte. So sehr hatte

sie auf diese Frage gewartet. Ja,

es war verrückt. Aber wie oft geschah es, daß zwei Menschen sich trafen und sofort wußten, daß sie füreinander bestimmt waren!

»Ja, Carsten, ich will«, flüsterte sie glücklich.

Sie besiegelten ihre Verlobung mit einem langen Kuß.

»Ich wünsche uns, daß die Zukunft immer so schön sein wird, wie dieser Augenblick«, sagte Carsten.

»Niemand von uns kann sagen, was morgen sein wird«, erwiderte sie. »Und vielleicht ist das ganz gut so. Aber ich bin bereit, alles zu tun, damit unsere Zukunft schön wird. Das verspreche ich dir!«

*

Maximilian Trenker, der Dorfpolizist von St. Johann, hob bedauernd die Arme. Er stand in der Küche des Pfarrhauses und hatte Sophie Tappert soeben eine betrübliche Mitteilung gemacht.

»So leid’s mir tut«, sagte er, »aber das Geld können S’ abschreiben. Ich komm’ g’rad aus Waldeck. Da hat’s vor ein paar Wochen einen ähnlichen Fall gegeben. Ein Obdachloser hat für ein paar Tag’ bei einem Bauern gearbeitet, dem der Knecht krank geworden war. Stall ausmisten, ein Scheunendach reparieren und solche Sachen.

Dafür hat er im Gesindehaus schlafen dürfen.

Am letzten Abend hat er sich den Lohn auszahlen lassen, weil er schon früh am nächsten Morgen weiterziehen wollt’. Und in dieser Nacht hat er net nur Brot und Schinken gestohlen, sondern auch das ganze Bargeld, das die Bäuerin im Küchenbüfett aufbewahrt hat.«

Sophie Tappert sah sich in ihrem Verdacht nur bestätigt, niemand anderer, als dieser Moislinger kam für den Diebstahl in Frage.

»Und, war’s derselbe Dieb wie hier?« fragte sie. »Warum haben S’ ihn denn noch net verhaftet.«

»Weil der Bursche längst über alle Berg’ ist«, antwortete der Gendarm. »Und ob’s derselbe ist, ist net gewiß. Obdachlose schau’n doch fast alle gleich aus. Jeder von ihnen kann’s gewesen sein. Nein, nein, Frau Tappert, das Geld ist weg. Vielleicht hätten S’ doch auf meinen Bruder hören sollen und das Geld vom Bankautomat holen, wenn Sie es brauchen. Der ist doch gleich neben dem Supermarkt.«

»Papperlapapp!« wischte die Haushälterin seinen Rat beiseite. »Ich bewahr’ mein Geld seit ich Haushälterin g’worden bin im Küchenschrank auf, und noch nie ist es gestohlen worden, das hat man nun von seiner Gutmütigkeit. Ich weiß, daß es Christenpflicht ist, einem Menschen, der in einer Notlage ist, zu helfen. Aber wenn’s einem so gedankt wird!«

Max Trenker hatte durchaus Verständnis für die Frau, dennoch mußte er auch seinem Bruder recht geben, der immer wieder darauf drang, daß seine Haushälterin die Bankkarte benutzte, die er extra für sie hatte ausstellen lassen. Max wußte, daß Sebastian es lästig fand, jeden Freitag Sophie Tappert das Haushaltsgeld für die kommende Woche vorzuzählen. Allerdings hütete der Gendarm sich, sein Wissen auszuposaunen, oder der Frau gar noch mehr Vorwürfe zu machen, wie fahrlässig sie gehandelt habe. Denn er wollte es auf gar keinen Fall mit Sophie Tappert verderben.

Max, der gerne und häufig Gast im Pfarrhaus war, schielte zum Küchenherd hinüber, auf dem ein großer Topf stand, in dem es leise broddelte. Ein appetitlicher Duft stieg ihm in die Nase.

Sophie Tappert, sie seinen Blick durchaus bemerkte, zog eine finstere Miene.

»Es gibt heut’ nur eine Gemüsesuppe«, sagte sie. »Nachdem der Kerl das Geld gestohlen hat, müssen wir sparen!«

Max vergewisserte sich mit einem Blick in den offenen Topf, daß die Suppe trotzdem für drei Personen reichen würde und atmete erleichtert auf.

»Ist mein Bruder denn daheim?« fragte er.

»Hochwürden ist in seinem Arbeitszimmer«, antwortete die Haushälterin.

Sie sagte nie ›Ihr Bruder‹, sondern immer Hochwürden oder der Herr Pfarrer.

Der Gendarm nickte ihr zu und ging zu seinem Bruder, der am Fenster stand und nachdenklich hinaussah.

»Grüß’ dich, Max«, sagte er, als sein Bruder eingetreten war.

Der Beamte merkte sofort, daß seinen Bruder etwas beschäftigte. Selten hatte er ihn so nachdenklich gesehen.

»Was gibt’s Neues, im Fall unseres Diebes?« fragte der Geistliche mehr beiläufig.

Max berichtete, was er auch schon der Haushälterin gesagt hatte. Sebastian Trenker seufzte auf und zuckte mit der Schulter.

»Also, es wird uns net gleich an den Bettelstab bringen«, meinte er. »Aber ein biß’l enttäuscht bin ich schon. Menschlich enttäuscht, denn, eigentlich hab’ ich den Moislinger-Karl für einen ehrlichen Burschen gehalten. Abgerissen zwar, aber ehrlich. Doch offenbar hat hier meine Menschenkenntnis versagt.«

Er hatte das alles gesagt, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Max indes war neugierig geworden, wonach sein Bruder so intensiv Ausschau hielt.

»Was gibt’s denn da zu seh’n?« fragte er und trat an Sebastians Seite.

Schräg gegenüber stand das Rathaus, daneben ein paar Geschäfte, der Metzger, die Apotheke. Ein paar Menschen gingen auf der Straße entlang. Etwas Besonderes konnte Max nicht entdecken.

»Net viel, im Moment«, antwortete Pfarrer Trenker.

Er setzte sich in den Bürostuhl, während Max vor dem Schreibtisch Platz nahm.

»Na los«, forderte der Gendarm seinen Bruder auf. »Das riecht man doch förmlich, daß dich etwas beschäftigt.«

»Ich hab’ gestern mittag, droben auf der Korber-Alm, die Bekanntschaft einer jungen Dame gemacht«, erzählte Sebastian.

Er berichtete, worüber er sich mit Elke Kerner unterhalten hatte, und welches Interesse die Frau an der Entwicklung des Tourismus in dieser Gegend zeigte.

»Und vor ein paar Minuten ist diese Frau Kerner drüben ins Rathaus gegangen«, schloß er.

Max machte ein ratloses Gesicht. Er wußte nicht, was er von dieser Geschichte halten sollte.

»Wie du weißt, gibt es Bestrebungen in unserem Dorf, besonders von Seiten des Bürgermeisters und seiner Fraktion, Sankt Johann weiter für den Tourismus zu erschließen«, fuhr Sebastian Trenker fort. »Der Bruckner-Markus möcht’ sich mit dem Ausbau sozusagen ein Denkmal setzen. Wie ich aus sicherer Quelle weiß, ist von einem großen Hotelkomplex die Rede, einer Bergbahn und Skipisten, die angelegt werden sollen.«

»Bist du sicher?« fragte Max entsetzt. »Das darf doch net wahr sein! Ist der Kerl denn übergeschnappt?«

Er beugte sich vor und sah seinen Bruder gespannt an.

»Und was hat diese Frau Kerner mit der ganzen Sach’ zu tun?«

»Ich weiß net genau«, antwortete der Geistliche. »Ich werd’ nur das unbestimmte Gefühl net los, daß es da einen Zusammenhang gibt, mit den Gerüchten und dem Aufenthalt der Frau in Sankt Johann. So gezielt, wie sie mir gestern ihre Fragen gestellt hat, war es mehr als nur ein allgemeines Interesse.«

»Du meinst, sie ist auf Bruckners Seite? Aber in welchem Verhältnis stehen die beiden zu einander?«

Sebastian hob die Hände.

»Was weiß ich? Vielleicht ist sie mit einer ersten Planung beauftragt. Solch ein Projekt muß schon bis ins Detail geplant sein, wenn es potentiellen Investoren schmackhaft gemacht werden soll. Vielleicht ist die Frau Kerner aber auch vermögend und will hier ihr Geld anlegen. Alles ist möglich.«

Max Trenker schüttelte den Kopf.

»Was denkt der Bruckner sich eigentlich? Das bekommen die doch niemals durch.«

»Solang’ ich hier Pfarrer bin gewiß net«, sagte Sebastian bestimmt.

*

Markus Bruckner lief unruhig in seinem Büro auf und ab. Elke Kerner saß indes auf demselben Sessel, auf dem sie schon bei ihrer Ankunft gesessen hatte. Wieder hatte de Bürgermeister Kaffee servieren lassen.

»Ist es denn wirklich nötig, daß Ihr Bruder noch herkommt?« fragte er. »Die Zeit drängt. Anhand Ihres Gutachtens beginnt die Planungsgruppe ihre Arbeit. Die Modelle der Hotelanlage und der Gletscherbahn sollen in sechs Wochen den Investoren präsentiert werden. Da zählt jeder Tag.«

Elke trank einen Schluck Kaffee.

»Mein Bruder ist ja am Freitag pünktlich hier«, sgte sie. »Es handelt sich wirklich nur um ein paar Details, die ich mit ihm abklären muß. Gerade weil es sich um ein solch großes Projekt handelt, verlangt es sorgfältige Arbeit.«

Sie lächelte ihn charmant an.

»Abgesehen davon, kostete es ja auch viel Geld, unsere Firma beauftragt zu haben, da erwarten sie doch gewissenhafte Arbeit.«

Der Bruckner-Markus nickte.

»Ja, natürlich. Es ist ja nur, weil’s halt so drängt.«

Elke Kerner erhob sich und reichte ihm die Hand.

»Also, dann geh’ ich jetzt. Freitag früh kommt mein Bruder, und am Nachmittag haben Sie dann das Gutachten.«

»Auf Wiedersehen, Frau Kerner«, verabschiedete Markus Bruckner sie und machte eine verschwörerische Miene. »Und weiterhin zu niemandem ein Sterbenswörtchen.«

Die junge Frau schüttelte den Koopf.

»Sie können sich d’rauf verlassen«, versprach sie.

Draußen, auf dem Gang vor dem Bürgermeisterbüro, atmete sie auf. Elke war nur ungern hergekommen, weil sie noch kein vollständiges Resultat ihrer Arbeit vorweisen konnte. Auf der anderen Seite wußte sie aber, daß der Bürgermeister auf ihren Besuch wartete. Sie mußte zumindest ein paar Worte finden, die ihn auf ein paar weitere Tage vertrösteten. Gott sei Dank, kam ihr Bruder schon bald. Wenn sie die Sache hinter sich gebracht hatte, wollte sie bis zum Anfang der nächsten Woche hierbleiben. Carsten würde am Montag zurück nach Hamburg fahren. Es war noch ungewiß, wann sie sich wiedersahen. Zwar hatte er beschlossen, seine Stellung im ›Stadt Hamburg‹ zu kündigen – eine gleichwertige Position würde er in München oder der näheren Umgebung wohl ohne Schwierigkeiten finden, er hatte beste Referenzen vorzuweisen – dennoch würde es seine Zeit dauern, bis er in Hamburg frei war. Die Kündigungsfrist mußte eingehalten, ein Nachfolger eventuell eingearbeitet werden, falls es nicht der derzeitige Stellvertreter sein würde.

Elke fand es ausgesprochen großherzig von ihm, und sah es als einen Beweis seiner Liebe an, daß er gewillt war, in Hamburg alles aufzugeben, und nach Süddeutschland zu ziehen. So konnte sie selber Teilhaberin ihrer Firma bleiben und mußte nicht die Heimat verlassen, an der doch ihr Herz hing.

Sie beeilte sich, ins Hotel zu kommen, wo Carsten schon wartete. Sie wollten sich zusammen setzen und Pläne für ihre gemeinsame Zukunft schmieden.

Einer der wichtigsten Punkte dabei war der Termin ihrer Hochzeit.

*

Die Landschaftsarchitektin hatte gerade das Bürgermeisterbüro verlassen, als Markus Bruckner zum Telefon griff. Er wählte eine Nummer und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf seinem Schreibtisch herum, bis sich der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung endlich meldete.

»Ich bin’s, der Bruckner-Markus«, sagte der Bürgermeister. »Hör’ zu, Anton, Freitag nachmittag ist das Gutachten fertig. Dann bekommt die ganze Sach’ endlich Gesicht. Du kannst deine Freunde schon mal ein biß’l anheizen.«

»Na, das wird auch Zeit«, antwortete Anton Weißender mit dröhnender Stimme. »Die sind ja schon ganz verrückt darauf. Ich sag’ dir, wir verdienen uns alle eine goldene Nase. Spätestens in fünf Jahren sind wir alle steinreich.«

Du bist gut, dachte Markus, du hast doch schon Geld wie Heu. Anton Weißender war ein Münchner Bauunternehmer, der es zum mehrfachen Millionär gebracht hatte. Er war der eigentliche Urheber dieser Idee, aus St. Johann einen Fremdenverkehrsort zu machen. Ein Zufall hatte ihn vor Jahren in das beschauliche Bergdorf geführt. Weißender hatte sich zwar wohlgefühlt, doch waren ihm bestimmte Bequemlichkeiten abgegangen. Dazu gehörten, seiner Meinung nach, eine Seilbahn, damit man net zu Fuß auf die Berge kraxeln mußte, und ein Hotel der Luxusklasse. Während eines bierseeligen Abends waren der Baulöwe und der Bürgermeister ins Gespräch gekommen. Weißender hatte nicht gezögert, dem Bruckner-Markus den Floh vom Tourismusboom und Geldscheffeln ins Ohr zu setzen. Und der Kommunalpolitker hatte angebissen. Nicht nur die Aussicht, bei dieser Sache ein reicher Mann zu werden, hatte ihn verlockt – mit dem Bau eines solches Projektes würde er den Leuten bis über seinen Tod hinaus in Erinnerung bleiben. Und er brauchte selber kein Pfennig Kapital einzubringen.

»Da kenn’ ich g’nug Leut’, die net wohin wissen, mit ihren Millionen«, hatte Weißender erklärt. »Die sind froh, wenn’s net dem Finanzamt in den Rachen schmeißen müssen.«

Es hatte noch mehrere solcher Gespräche gegeben, und was zunächst wie eine Schnapsidee geklungen hatte, nahm allmählich Formen an. Und Geld spielt offenbar überhaupt keine Rolle.

Markus Bruckner wußte, daß der Bauunternehmer einer der reichsten von denen war, die hier ihr Geld investieren wollten. Aber er sprach seine Gedanken nicht aus.

»Also, ich denk’, in sechs Wochen können wir die Repräsentation machen«, sagte er statt dessen.

»Das ist die Nachricht, auf die ich gewartet habe«, dröhnte Anton Weißender. »Wir gründen ein Konsortium mit etwa sechzig Mitgliedern. Jeder einzelne ist für hundert Millionen gut. Wenn das keine gute Kapitaldecke ist, dann will ich net länger Weißeneder heißen. Dann kannst’ mich Seppl nennen.«

Er lachte laut, als habe er einen besonders guten Witz gemacht. Markus Bruckner stimmte ein.

»Dann, auf eine gute Zusammenarbeit«, sagte er und legte auf.

Eine ganze Weile schaute er vor sich hin und stellte sich dabei vor, wie alles aussehen würde, wenn es erst einmal fertig war. Ihm war durchaus bewußt, daß es noch ein länger Weg bis dahin sein würde. Lang und steinig, denn nicht wenige würden gegen solch eine Unternehmung protestieren. Und Markus Bruckner wußte genau, wer die Gegner waren.

*

Carsten Henning nutzte die Zeit bis zu der Verabredung mit Elke, zu einem Telefonat. Sein Stellvertreter im ›Stadt Hamburg‹ hieß Gerdjan Vanderkerk, ein sympathischer Holländer, der mit einer Deutschen verheiratet war. Er war nicht nur Carstens Arbeitskollege, darüber hinaus bestand eine lockere Freundschaft. Carsten und Petra waren oft Gäste bei den Vanderkerks gewesen, die in einem kleinen Dorf in der Nähe von Hamburg wohnten.

Der Holländer meldete sich sofort, als Carsten sich von der Telefonzentrale des Hotels mit ihm verbinden ließ.

»Hallo, schön von dir zu hören«, sagte er. »Wie geht’s da unten bei den Lederhosen?«

»Prächtig«, antwortete Carsten. »Ausgesprochen gut. Wie geht’s Cordula und den Kindern?«

»Die sind alle wohlauf. Cordula wird sich freuen, daß es dir dort unten gefällt. Du hattest diese Auszeit auch nötig.«

Cordula und Gerdjan Vanderkerk gehörten zu den wenigen Leuten, die um den wahren Grund für Carstens Urlaub wußten.

»Und hier im Hotel läuft alles«, meldete der Holländer.

»Aber das ist sicher nicht der Grund dafür, daß du anrufst.«

»Nein, natürlich nicht…«

Carsten machte eine Pause.

»Ich…, ich mußte es einfach jemandem erzählen«, sagte er dann. »Ich habe mich verliebt.«

»Nein!«

»Doch!«

Gerdjans Jubelschrei drang durch das Telefon.

»Das gibt’s doch nicht. Erzähl’, wer ist die schöne, die dich aus deinem Kummer erweckt hat?«

Carsten schilderte ihm, wie er Elke kennengelernt hatte.

»Mensch, so wie du redest, könnte ich ganz schön neidisch werden, wenn ich nicht schon glücklich verheiratet wäre«, sagte Gerdjan. »Du, ich freue mich für dich. Cordula wird staunen, wenn ich ihr heute abend diese Neuigkeit erzähle.«

»Ja, und dann wollte ich dir noch mitteilen, daß ich gleich nach meiner Rückkehr im Hotel kündigen werde«, fuhr Carsten fort. »Und ich werde dich als meinen Nachfolger vorschlagen.«

Gerdjan Vanderkerk verschlug es die Sprache.

»Das willst du wirklich tun?« fragte er, nachdem er sich wiedergefunden hatte. »Das wäre ja wunderbar.«

»Ja, ich werde Elke heiraten und zu ihr herunterziehen«, sagte Carsten. »Sie hat zusammen mit ihrem Bruder eine Firma in München. Da ist es für mich einfacher, in Hamburg alle Zelte abzubrechen und umzusiedeln. Ich denke, eine neue Stelle werde ich schnell finden, und als meinen Nachfolger kann ich mir keinen besseren vorstellen, als dich.«

»Also, diese Frau, die dir so den Kopf verdreht – die muß ich unbedingt kennenlernen.«

»Das sollst du auch. Nämlich wenn wir heiraten. Ihr seid selbstverständlich eingeladen.«

»Na, dafür nehme ich sogar die weitere Anreise in Kauf«, lachte Gerdjan.

»Der Termin steht zwar noch nicht fest, aber ich weiß, wo die Trauung stattfinden wird. Hier gibt es eine wunderschöne Kirche. Ich bin überzeugt, daß sie Elke ebenfalls gefallen wird. Richte dem Hubert aus, sein Tip war absolute Spitze.«

Hubert Ederer war der Koch, der aus St. Johann stammte.

Sie besprachen noch ein paar Dinge, die das Hotel betrafen. Natürlich fühlte Carsten sich auch dann im Dienst, wenn er im Urlaub war, und es war schon ein Wunder, daß er nicht gleich an seinem ersten Tag in St. Johann mit Hamburg telefoniert hatte. Aber er wußte auch, daß er in Gerdjan einen zuverlässigen Stellvertreter hatte.

»Bis nächste Woche dann«, sagte Carsten und legte auf.

Er hatte auf die Uhr gesehen und festgestellt, daß er nur noch ein par Minuten Zeit bis zur Verabredung mit Elke hatte. Die nutzte er, um sich zu erfrischen udn umzuziehen.

Als er kurze Zeit später Elke in die Arme schloß, war es ihm, als vermisse er sie schon eine Ewigkeit.

»Wie soll ich das bloß aushalten, wenn ich in Hamburg bin?« fragte er verzweifelt.

Elke tröstete ihn.

»Mir wird’s net anders ergeh’n«, sagte sie und gab ihm einen Kuß.

*

Das junge Paar hatte es sich am Fuße der Selchneralm bequem gemacht. Carsten erzählte von seinem Telefonat mit dem Kollegen in Hamburg.

»Sag’, was ist das eigentlich für eine Firma, die du mit deinem Bruder teilst?« fragte er.

Elke zögerte einen Augenblick, bevor sie antwortete. Sie wollte nicht länger den Grund dafür verschweigen, warum sie sich in St. Johann aufhielt. Carsten war ihr Verlobter und hatte das Recht, alles zu wissen, was sie betraf. Bestimmt würde sie keinen Vertrauensbruch gegenüber Markus Bruckner begehen, wenn sie Carsten von ihrer Arbeit erzählte.

»Es ist ein Büro für Landschaftsarchitektur«, sagte sie. »Und eigentlich mach’ ich auch keinen Urlaub, sondern ein Auftrag war es, der mich hierher geführt hat.«

Carsten sah sie nicht verstehend an.

»Ein Auftrag?« fragte er. »Ist denn hier ein größeres Bauvorhaben geplant?«

Elke nickte.

»Geplant ja. Aber ob es jemals realisiert wird, steht in den Sternen. Es geht um den touristischen Ausbau dieser Region. Unsere Firma hat lediglich den Auftrag den besten Standort für ein großes Hotel mit Freizeitanlagen, Skipisten und einer Seilbahn zu suchen und eine entsprechende Empfehlung abzugeben.

Ich habe nächtelang über meinen Aufzeichnungen gesessen und bin jedes Detail mehrmals durchgegangen. Freitag werde ich dem Bürgermeister Bruckner das Gutachten übergeben.«

Carsten machte keinen begeisterten Eindruck.

»Hier soll ein Ferienzentraum gebaut werden?« fragte er ungläubig. »Um Gottes willen, wer hat sich denn das ausgedacht?«

Elke zuckte die Schulter.

»Der Bürgermeister vermutlich und noch ein paar andere Leut’, die genug Geld haben, um es hier zu investieren.«

Der Hamburger schüttelt den Kopf.

»Die müssen doch total verrückt sein, dieses schöne Tal so ruinieren zu wollen.«

»Zu dem Schluß bin ich auch gekommen«, lachte Elke Kerner ihn an.

Carsten zog sie in seine Arme.

»Himmel, bin ich froh, daß du das sagst. Ich hatte schon Angst, du würdest diesen Quatsch mitmachen wollen.«

»Nein, keine Sorge. Mein Gutachten wird dem Herrn Bürgermeister bestimmt net gefallen, und vielleicht beauftragt er noch eine andere Firma, die nach seinen Wünschen arbeitet, aber ich weiß, daß ich ruhig schlafen kann und net schuld bin, wenn im nächsten Jahr hier eine Bettenburg steht.«

Carsten stand auf und zog sie hoch.

»Komm«, sagte er, »laß uns zurückfahren. Ich muß dir unbedingt etwas zeigen.«

Elke war gespannt und erstaunt, als Carsten seinen Wagen vor der Kirche parkte.

»Wo willst du mir denn etwas zeigen? Hier, in der Kirche?«

»Ja. Oder warst du schon darin?«

»Nein, aber ich hatte es noch vor«, antwortete sie.

»Dann wird es aber Zeit«, sagte Carsten. »Das mußt du einfach gesehen haben.«

Hand in Hand betraten sie das Gotteshaus, und Elke blieb unwillkürlich stehen.

»Mei’, ist das schön«, flüsterte sie.

»Nicht wahr!«

Carsten führte sie herum und zeigte ihr alles, was er schon bestaunt hatte. Dabei erzählte er, was er von dem Mesner über die Kirche erfahren hatte.

»Welch eine Pracht«, sagte die junge Frau. »So etwas Schönes hab’ ich lang’ net gesehen.«

Sie standen an der ersten Bankreihe vor dem Altar. Carsten hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt.

»Meinst du nicht auch, daß dies der ideale Ort ist, um den Bund für’s Leben zu schließen?«

Elke schloß für einen Moment die Augen, und im Geiste sah

sie sich dort am Altar knien, gekleidet in ein weißes Hochzeitskleid.

Sie schaute ihren Verlobten an.

»Das wird der schönste Moment unseres Lebens«, flüsterte sie.

Schritte erklangen und rissen die beiden Verliebten aus ihren Träumereien. Elke erkannte den Mann wieder, den sie auf der Almhütte kennengelernt hatte.

»Guten Abend, Pfarrer Trenker«, sagte sie. »Darf ich Ihnen meinen Verlobten vorstellen? Das ist Carsten Henning.«

Sebastian reichte ihnen die Hand.

»Sie stammen aber net aus Süddeutschland?« fragte er Carsten.

»Nein«, schüttelte der den Kopf. »Ich glaube, das hört man schon an meiner Aussprache. Ich bin ein echter Norddeutscher und wohne zur Zeit noch in Hamburg.«

Er bedachte Elke mit einem liebevollen Blick.

»Aber, das wird sich schon bald ändern«, sprach er weiter. »Wir haben uns hier in diesem schönen Ort kennen- und liebengelernt. Ich werde Hamburg den Rücken kehren. Elke besitzt eine Firma in München. Da ist es für mich einfacher, hierher zu ziehen.«

»Dann wollen Sie also schon bald heiraten?«

»Ja«, antwortete Elke. »Und am liebsten hier, in Ihrer wunderschönen Kirche.«

»Na, das freut mich aber. Lassen S’ mich nur rechtzeitig Ihren Termin wissen.«

Sebastian Trenker sah die junge Frau forschend an.

»Eine Frage hätt’ ich da noch«, sagte er und hob die Arme. »Natürlich brauchen S’ net zu antworten, aber ich denk’, ich stell’ Sie Ihnen trotzdem.«

Elke machte ein neugieriges Gesicht.

»Nur zu, Hochwürden, fragen Sie.«

»Am Sonntag, als wir uns droben auf der Alm unterhalten haben. Da hatte ich den Eindruck, daß hinter den Fragen, die Sie mir stellten, mehr steckt, als ein bloßes, allgemeines Interesse. Dazu waren sie zu gezielt. Ist mein Eindruck richtig, oder irre ich mich?«

Elke Kerner schaute sinnend zur Seite. Carsten hatte sie die Wahrheit sagen können, doch wie war es in diesem Fall? Markus Bruckner war immer noch ihr Auftraggeber, und er hatte um strengste Diskretion gebeten. Durfte sie die verletzen, indem sie jetzt dem Geistlichen verriet, warum sie sich in St. Johann aufhielt?

Ihr Blick fiel auf den Beichtstuhl, und sie dachte an die Schweigepflicht des Pfarrers, der das Beichtgeheimnis zu wahren hatte. Doch es war ein Unterschied, ob sie von sich aus die Beichte ablegen wollte, weil sie etwas nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte, oder ob sie jetzt freimütig über ihren Auftrag erzählte.

»Es war auch ein berufliches Interesse mit meinen Fragen verbunden«, antwortete sie ein wenig ausweichend. »Ich muß Sie bitten, Hochwürden, sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben und nicht weiter nachzufragen. Ich unterliege im gewissen Maße ebenso der Schweigepflicht, wie Sie.«

Pfarrer Trenker nickte.

»Gut, das muß ich natürlich akzeptieren. Allerdings kann ich mir denken, was hinter der ganzen Angelegenheit steckt. Ich weiß um die Pläne einiger Leute, die mit unserem Ort bestimmte Dinge vorhaben.«

Elke sah erst ihren Verlobten an, dann Sebastian. Dabei schmunzelte sie.

»Die Leute, von denen Sie sprechen, werden allerdings unangenehm überrascht sein, wenn ich mit meiner Arbeit fertig bin…«, meinte sie schließlich.

Jetzt war es Sebastian, der schmunzelte. Er hatte die junge Frau verstanden. Ohne viel zu verraten oder einen Vertrauensbruch zu begehen, hatte sie ihm etwas mitgeteilt, das ihn beruhigt sein ließ.

»Wie lange bleiben Sie noch?« wechselte er das Thema.

»Ich muß am Freitag wieder zurück nach Hamburg«, antwortete Carsten. »Elke hat sich glücklicherweise entschlossen, ebenfalls so lange zu bleiben.«

»Obwohl mein Bruder, der Teilhaber unserer Firma ist, händeringend auf mich wartet«, sagte Elke. »Er behauptet steif und fest, in Arbeit zu ertrinken. Dabei möchte ich zu gern’ wissen, was er anfängt, wenn ich eines Tages nicht mehr so oft für die Firma da sein werde.«

Carsten war erstaunt.

»Willst nur noch halbtags arbeiten?«

Die junge Frau lachte.

»Irgendwann will ich für ein paar Jahre gar nicht arbeiten«, verriet sie. »Dann nämlich wenn ich unsere Kinder großziehe.«

Sebastian lachte mit ihr. Carsten hingegen schloß sie fest in seine Arme.

Als sie die Kirche verließen, sah der Geistliche ihnen hinterher, und er dachte an den Bruckner-Markus und dessen Pläne. Eine innere Stimme hatte ihm verraten, daß es wieder einmal so weit war. Schon oft hatte der Bürgermeister von St. Johann versucht, seine verschiedenen Vorhaben in die Tat umzusetzen. Keines war dabei gewesen, das Sebastian guten Gewissens hätte mittragen können, so daß alle nicht zuletzt an des Pfarrers gewichtiger Stimme im Gemeinderat scheiterten. Sei es, weil die Umwelt gefährdet gewesen wäre, oder eine vernünftige Finanzierung nicht zustande gekommen war.

Diesmal mußte Bruckner sich seiner Sache sehr sicher sein, wenn er sogar schon eine Firma beauftragt hatte. Sebastian konnte sich vorstellen, welcher Art der Auftrag war, den Elke Kerner hatte, auch wenn sie ihm nichts darüber verraten hatte.

Sebastian respektierte natürlich Elkes Entscheidung. Sie war ihrem Auftraggeber verpflichtet und sonst niemandem. Um so dankbarer war er jedoch für den leisen Hinweis, den sie ihm schmunzelnd gegeben hatte.

Es schien, als könne St. Johann für dieses Mal wieder aufatmen. Offenbar war es noch einmal Markus Bruckners hochtrabenden Plänen entgangen.

*

Sophie Tappert haderte immer noch mit ihrem Schicksal, das sie so hart getroffen hatte. Selbst ein Besuch bei ihrer Freundin Herta Breitlanger vermochte nicht sie aufzuheitern. Natürlich war der dreiste Diebstahl Gesprächsthema während des Kaffeetrinkens.

»Ich hab’s ja gleich g’wußt«, sagte die Haushälterin. »Gleich, als ich den Kerl g’sehen hab’, wußt’ ich, daß wir nur Ärger mit ihm haben werden!«

Hertha legte ihr ein zweites Stück Mohnkuchen auf den Teller.

»Und was sagt Pfarrer Trenker dazu?« fragte sie.

Sophie Tappert zog die Augenbrauen hoch.

»Der?«

Sie zuckte mit der Schuler.

»Hochwürden hat dem Dieb vergeben. Er meint, es wäre ja nix Schlimmeres passiert. Als wenn’s net schlimm genug wär’. Der Lump hat net nur einen Anzug und ein Hemd von unserem Herrn Pfarrer bekommen, dazu auch noch Kost und Logis. Und wie hat er’s gedankt?!«

»Die Welt ist schlecht«, nickte Hertha zustimmend.

»Er ist einfach zu gutmütig, der Herr Pfarrer«, wandte Sophie Tappert ein. »Anzeigen hätt’ er’s müssen. Wozu hat er einen Bruder, der bei der Polizei ist?«

»Was meint denn der Max? Könnt’ man den Kerl überhaupt noch fassen?«

Die Haushälterin schüttelte betrüblich ihren Kopf.

»Wahrscheinlich net. Der Max sagt, daß die Obdachlosen alle gleich ausschau’n. Eine Fahndung würd’ net viel nützen. Bestenfalls würd’ man zwanzig von ihnen verhaften, und wir müßten den richtigen herausfinden. Dabei wird der schon über alle Berg’ sein.«

Hertha Breitlanger stand auf und ging an das Stubenbüffet. Hinter der rechten Seitentür befand sich eine eingebaute Bar, mit rotem Samt, Spiegel und Beleuchtung. Viele Flaschen befanden sich nicht darin. Eigentlich waren es nur zwei, und in beiden befand sich Herthas selbstangesetzter Eierlikör, von dem sie jetzt zwei Gläser einschenkte.

»Aber wirklich nur eins«, mahnte Sophie Tappert.

Was sollte Hochwürden denn denken, wenn sie nach Hause kam und nach Alkohol roch!

*

Elke und Carsten aßen im Restaurant zu Abend. Danach blieben sie noch bei einem Glas Wein sitzen und unterhielten sich.

»Am Freitag hab’ ich übrigens noch eine Überraschung für dich«, sagte Elke beiläufig.

»So? Was ist es denn?«

Die junge Frau tätschelte seine Hand und zwinkerte ihm zu.

»Das wird net verraten«, antwortete sie. »Sonst wär’s ja keine Überraschung mehr.«

»Das ist unfair«, schmollte er. »Jetzt hast du mich erst recht neugierig gemacht. Bestimmt schlaf’ ich bis dahin keine Nacht mehr.«

Er drohte ihr mit dem Zeigefinger.

»Dann komm’ ich ’rüber zu dir und weck’ dich«, drohte er.

»Versuch’s«, gab sie zurück. »Wenn ich meinen Schönheitsschlaf halte, dann kanst’s lang’ klopfen. Da hör’ ich nix.«

Er nahm ihre Hand und küßte sie.

»Weißt du, daß ich sehr glücklich bin?«

Elke schaute ihm liebevoll in die Augen.

»Genau wie ich«, sagte sie leise.

Sepp Reisinger trat zu ihnen an den Tisch, er hatte beide Hände hinter dem Rücken verborgen.

»Guten Abend, die Herrschaften. Darf ich einen Moment stören?« fragte er.

»Natürlich«, erwiderte Carsten.

Elke nickte dem Wirt freundlich zu.

Sepp wirkte ein wenig verlegen.

»Also, meine Frau und ich…, wir haben natürlich mitbekommen, daß sie beide sich in unserem Haus kennen- und wie ich denke – auch liebengelernt haben. Wir möchten uns daher erlauben, Ihnen dies Flascherl Sekt zu überreichen.«

Mit diesen Worten zauberte er die Flasche hinter seinem Rücken hervor.

Elke und Carsten waren angenehm überrascht.

»Aber nur, wenn Sie und Ihre Frau mittrinken«, bestanden beide darauf, daß die Wirtsleute sich zu ihnen setzten.

Sepp Reisinger winkte seine Frau heran. Irma trug ihren weißen Kittel und wirkte ein wenig verlegen.

»Entschuldigen S’, ich hab’ bis eben in der Küch’ gestanden und noch keine Zeit g’habt, mich umzuziehen.«

»Um so besser wird Ihnen jetzt ein kühler Schluck schmecken«, meinte Carsten, der wußte, wie heiß es manchmal in einer Hotelküche hergehen konnte.

Eine junge Servierin brachte vier Gläser und einen Eiskübel. Sie schenkte auch ein und zog sich dann diskret zurück.

»Das ist ja beinahe doch noch eine richtige Verlobungsfeier«, freute sich Elke, nachdem sie sich zugeprostet hatten.

»Was ich Sie immer noch hab’ fragen wollen«, wandte Sepp Reisinger sich an Carsten Henning. »Es ist ja noch net offiziell, aber so, wie’s ausschaut, werden wir wohl in absehbarer Zeit ein neues, größeres Hotel bauen. Könnt’ man da net zusmmenarbeiten, wie hier in St. Johann, und Sie in Hamburg? Ich mein’, man könnt’ sich doch gegenseitig den Gästen empfehlen.«

»Im Prinzip ist nichts dagegen zu sagen«, antwortete Carsten. »Allerdings werde ich nicht mehr lange im ›Stadt Hamburg‹ sein. Ich plane, hierher, genauer gesagt, nach München zu ziehen. Ich werde aber gerne mit meinem Nachfolger darüber sprechen. Geben Sie mir doch einfach ein paar Ihrer Hausprospekte mit. Ich lege sie gerne bei uns an der Rezeption aus. Unter unseren Gästen sind bestimmt viele, die gerne auch einmal einen ruhigen Urlaub in den Bergen verbringen wollen.«

Sepp Reisinger schaute sich um, ob jemand der anderen Gäste etwas von ihrer Unterhaltung mitbekommen konnte. Dabei machte er eine verschwörerische Miene.

»Ich kann’s Ihnen ja schon verraten – aber das muß natürlich unter uns bleiben – es ist schon einiges geplant, um St. Johann für Gäste noch attraktiver zu machen. Sie werden sich noch wundern. Wenn S’ in einem Jahr mal wieder herkommen, werden S’ den Ort net wiedererkennen.«

Elke und Carsten sahen sich an. Erwiderten aber nichts auf Sepp’s begeisterte Ausführungen. Wie hätten sie dem armen Mann auch klar machen sollen, daß aus den Plänen wohl nichts würde.

Statt dessen hoben sie ihre Gläser und prosteten sich zu. »Auf, daß alle guten Wünsche in Erfüllung gehen.«

*

Reinhard Kerner lachte breit, als er seine Schwester in die Arme schloß, ihr erstauntes Gesicht erheiterte ihn.

»Grüß’ dich, Schwesterherz«, sagte er. »Laß dich anschau’n. Sieht man’s dir an, daß du verliebt bist?«

»Blödmann«, antwortete sie. »Deshalb bist ja net hergekommen, um das festzustellen. Aber sag’ wieso kommst du heut’ schon? Du hattest doch Freitag gesagt, und wir haben erst Dienstag.«

Die junge Frau hatte ihren Bruder zufällig auf dem Parkplatz des Hotels getroffen. Sie war gerade auf dem Weg zu ihrem Auto, als sein Wagen dort einbog. Elke war daher völlig überrascht. Sie küßte ihn liebevoll auf die Wange.

»Am besten fahren wir gleich los«, drängte Reinhard. »Ich konnte es heute morgen noch dazwischen schieben, muß am Nachmittag aber, pünktlich um drei, wieder in München sein. Ich hab’ mir halt gedacht, es geht ja auch um einen ganzen Batzen Geld bei der Sache hier, darum wollt’ ich’s so schnell, wie möglich erledigt habe.«

Er warf ihr einen Seitenblick zu.

»Außerdem wollt’ ich dir noch ein paar Tage Urlaub gönnen«, meinte er. »Ich könnt’ mir denken, daß es dir gerade jetzt gut paßt.«

Elke fiel ihm jubelnd um den Hals und küßte ihn.

»Du bist ein Schatz«, rief sie. »Carsten wird Augen machen! Ich wollt’ übrigens gerade zu der Stelle an der die Talstation gebaut werden soll.«

»So, Carsten heißt er also. Na, dann wollen wir uns mal beeilen und ihn net lange warten lassen. Ich bin schon gespannt auf ihn.«

Sie stiegen in seinen Wagen, und Reinhard Kerner lenkte nach Elkes Angaben. Daß sie aus einem Hotelfenster heraus beobachtet wurden, ahnten sie nicht. Nach einer Viertelstunde ließ die junge Frau ihren Bruder anhalten.

»Hier geht’s net mehr weiter, nur noch zu Fuß«, erklärte sie.

Die beiden standen unterhalb des Höllenbruchs, und Elke zeigte ihrem Bruder, worauf es ihr ankam.

»Dort oben, die beiden Gipfel, dort sollen Skipisten angelegt werden, da drüben eine Seilbahn, die zum Gletscher hinaufführt, und hier unten müßte die Talstation gebaut werden.«

Reinhard Kerner war lange genug in seinem Beruf, um auf den ersten Blick feststellen zu können, um was für ein abwegiges Projekt es sich hier handelte.

»Allein’, was an neuen Straßen gebaut werden müßte«, sagte er kopfschüttelnd. »Dort drüben scheint mir ein Mischwald zu stehen. Der müßte weg, um Raum für die Parkplätze der Talstation zu schaffen. Die Hänge muß man begradigen. Das bekommt man doch niemals genehmigt. Ich möcht’ net wissen, wieviele geschützte Tierarten dort im Wald und an den Hängen leben.«

Er nahm das Gutachten zur Hand, das Elke angefertigt und mitgebracht hatte. Immer wieder nickte er, während er darin las. Schließlich legte er seinen Arm um die Schwester.

»Nein, nein«, stellte er fest. »Das hast du schon ganz richtig erkannt. Wir können gar kein anderes Urteil abgeben. Bestimmt wird es dem Herrn Bruckner net schmecken. Aber noch weniger tät’s ihm gefallen, aufgrund unserer – besser gesagt deiner – Untersuchung, ein Projekt in Angriff zu nehmen, das schließlich und endlich in einem Fiasko endet.«

Er setzte seine Unterschrift neben Elkes und gab ihr die Mappe mit dem Gutachten zurück.

»So«, sagte er mit einem Augenzwinkern, »und jetzt möcht’ ich, bitt’schön, den Herrn kennenlernen, der meiner Schweser, die vor lauter Arbeitseifer net dazu kommt, einen Mann zu finden, so schnell um den Finger gewickelt hat.«

»Das sollst du«, lachte sie. »Ich hoff’, wir treffen Carsten im Hotel.«

Auf der Rückfahrt zeigte sie ihm verschiedene Punkte, die sie ebenfalls bei ihrer Arbeit berücksichtigt hatte. Jeder einzelne wäre ausreichender Grund gewesen, die touristischen Ausbaupläne negativ zu bescheiden.

»Mach’ dir keine Gedanken, Madel«, beruhigte Reinhard seine Schwester. »Du konntest gar net anders urteilen.«

Sie erreichten das Hotel und stellten den Wagen ab.

Elkes Bruder sah auf die Uhr.

»Naja, für einen Kaffee reicht es noch«, meinte er und betrat neben seiner Schwester den Eingang.

Die junge Frau schaute sich suchend um, konnte Carsten aber nirgendwo entdecken.

»Das verstehe ich nicht«, murmelte sie, nachdem sie auch in das Restaurant geschaut hatte. »Wir waren doch hier verabredet.«

Sie bat ihren Bruder, sich schon einmal ins Restaurant zu setzen, und ging zur Rezeption hinüber, an der ein junges Madel arbeitete.

»Herr Henning ist net auf seinem Zimmer«, sagte es, nach einem Blick auf das Brett, an dem die Zimmerschlüssel hingen. »Warten S’ einen Moment. Ich frag’ die Kollegin, die heut’ früh Dienst hatte. Vielleicht hat sie den Herrn Henning g’sehen, als er das Haus verlassen hat.«

Elke trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Wo war Carsten nur geblieben? Hatte er nicht einmal eine Nachricht hinterlassen?

Das junge Madel kam mit der Kollegin zurück.

»Herr Henning ist abgereist«, sagte die Haustochter, die am Morgen den Dienst an der Rezeption versehen hatte.

Elke durchfuhr ein eisiger Schreck. Es war, als spüre sie eine eiskalte Klammer an ihrem Herzen, die sich immer enger zusammenzog.

»Aber…, das ist doch net möglich«, flüsterte sie und wandte sich an das Madel. »Hat er denn keine Nachricht für mich hinterlassen?«

»Doch, natürlich. Warten S’ einen Moment.«

Sie ging hinter die Rezeption und wühlte in einem Stapel.

»Entschuldigen S’, Frau Kerner. Wir hatten heut’ morgen eine Menge Abreisen«, sagte sie. »Herr Henning hat ein Kuvert für sie abgegeben. Der muß hier irgendwie d’runtergerutscht sein. Ach, da ist er ja.«

Sie reichte Elke einen Briefumschlag mit dem Aufdruck des Hotels.

»Bitt’schön.«

Die junge Frau nahm den Umschlag mit klopfendem Herzen entgegen und griff mit einer fahrigen Bewegung nach der Tür des Restaurant.

Sie hatte furchtbare Angst, den Umschlag zu öffnen, und vor dem, was darin stehen könnte…

*

Nur langsam konnte sich Sophie Tappert über den dreisten Diebstahl, der immerhin schon ein paar Tage her war, beruhigen. Jedesmal, wenn sie an den Küchenschrank ging, wurde sie an den Aguenblick des Schreckens erinnert, als sie das Haushaltsgeld suchte und feststellen mußte, daß es fort war.

Am besten würde es sein, sie räumte den Schrank aus und putzte ihn gründlich, um jegliche Spur dieses Menschen zu tilgen. Erst dann würde sie wieder ruhgien Herzens an ihre Arbeit gehen können.

Seufzend sah sie von ihrer Tätigkeit auf und überlegte, wann wohl die beste Zeit sei, um hier in der Küche gründlich reinezumachen. Heute und morgen würd’s wohl nichts werden. Schon eher am Freitag. Da gab es eh’ nur Kochfisch mit Senfsauce, was wenig Aufwand erforderte. Sophie Tappert nahm sich vor, den Freitag vormittag für diese Tätigkeit zu reservieren.

Sie wollte gerade mit dem Schälen der Kartoffeln für das Mittagessen weitermachen, als es an der Haustür klingelte. Die Haushälterin trocknete sich die Hände an ihrer Schürze und ging auf den Flur.

Wer konnte das sein? Der Postbote war schon durch, und Hochwürden klingelte nicht, der hatte ja einen Schlüssel. Da das Pfarrbüro erst am Nachmittag geöffnet war, kam es auch nicht in Betracht, daß jemand den Herrn Pfarrer oder den Vikar sprechen wollte.

Blieb noch Max, aber der würde erst zum Mittagessen da sein. Dafür hatte der Gendarm eine Nase, er wußte genau, wann das Essen auf dem Tisch stand.

Selbst wenn Sophie Tappert sich einmal damit verspätete!

Der gute Geist des Pfarrhaushaltes öffnete die Tür. Durch die Milchglasscheibe sah sie draußen jemanden stehen, konnte aber nicht erkennen, um wen es sich dabei handelte. Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, als sie in das unrasierte Gesicht des Mannes schaute, den sie am allerwenigsten erwartet hätte.

»Gott zum Gruß, gnädige Frau«, sagte der Moislinger-Karl mit einer galanten Verbeugung, denn niemand anderer war es, der vor dem Pfarrhaus stand und Sophie Tappert anlächelte.

»Sie…?« rief sie empört und schnappte nach Luft. »Sie wagen es, noch einmal hierher zu kommen?«

Die Haushälterin wußte nicht, was sie tun sollte. Am liebsten hätte sie dem Kerl die Tür vor der Nase zugeschlagen, auf der anderen Seite würde sie ihn auch zu gerne in Ketten legen und Max übergeben. Und natürlich hatte sie Angst, er könne ihr etwas antun. Warum sonst wohl sollte er an den Ort seiner Untat zurückkehren.

Sie schaute an ihm vorbei, den Weg zur Straße hinunter, aber dort war niemand zu sehen. Hochwürden war in der Kirche, wenn sie jetzt um Hilfe rief, würde sie wahrscheinlich nicht einmal jemand hören.

Während ihr dies alles durch den Kopf ging, sah der Landstreicher sie verwundert an.

»Sagen S’, gnädige Frau, was haben S’ denn? Ist Ihnen net gut? Warum schreien S’ denn so?«

Sophie schnappte immer noch nach Luft.

»Sie sollen S’ mich net gnädige Frau nennen«, schimpfte sie. »Das hab’ ich Ihnen doch schon gesagt. Und warum ich schrei’, das kann ich Ihnen sagen. Weil’s ein Dieb sind!«

Jetzt war die Empörung auf Karls Seite.

»Was behaupten S’ denn da«, fragte er erregt. »Ich ein Dieb? Wegen des biß’l Schinkens und der Mettwurst?«

Dabei schaute er Sophie Tappert mit rollenden Augen an, daß sie schon befürchtete, der Mann könne übergeschnappt sein.

In diesem Augenblick kam Pfarrer Trenker von der Kirche herüber. Sophie atmete auf und schlug im Geiste drei Kreuze.

»Gut, daß Sie kommen, Hochwürden«, rief sie, noch bevor Sebastian den Weg ganz herauf war. »Der Dieb ist doch tatsächlich an den Tatort zurückgekehrt. Wir müssen sofort den Max verständigen, bevor er wieder auf und davon ist.«

»Nun mal ganz ruhig, Frau Tappert«, sagte Sebastian. »So schnell wird der Herrr Moislinger uns net wieder verlassen. Net wahr, Karl?«

Der Landstreicher nickte und gab Sebastian die Hand. Sophie schaute irritiert, als ihr Arbeitgeber den Dieb in das Haus einlud.

»Was macht das Bein?« erkundigte sich der Geistliche, als sie in der Küche saßen.

»Oh, das ist prima verheilt«, strahlte Karl. »Das ist ja auch der Grund, warum ich hier bin. Geld hab’ ich ja net, aber ich hab’ mir g’dacht, ich könnt’s auf andere Weise wiedergutmachen. Net nur Ihre Hilfe. Auch den Proviant, den ich mitgenommen hab’. Vielleicht im Pfarrgarten arbeiten oder hier im Haus, und drüben, beim Doktor natürlich auch.«

»Warum sind’S dann erst weggelaufen, bei Nacht und Nebel?« fragte Sophie Tappert argwöhnisch, ohne auf den Blick zu achten, den Pfarrer Trenker ihr zuwarf.

Karl Moislinger setzte sich in Position.

»Gnä…, äh, ich wollt’ sagen, gute Frau, ich bin kein Freund von großen Abschiedsszenen«, erklärte er. »Der Herr Doktor war, glaub’ ich, noch net so recht damit einverstanden, daß ich wieder loswollte. Ich mußte aber, weil ich, drüben in Engelsbach, einem Bauern versprochen hatte, ihm bei der Heuernte zu helfen. Ein Knecht war ihm krank geworden, und ich wollt’ halt ein paar Mark verdienen. Weil ich nun befürchtete, daß Hochwürden mich aus lauter Fürsoge net gehen lassen würde, bin ich halt in der Nacht gegangen. Das ist die ganze Geschicht’.«

Er warf ihnen einen treuherzigen Blick zu.

»Gut, es war net richtig, daß ich mich in der Speisekammer bedient hab’. Aber Hunger ist nun einmal schlimmer, als Heimweh. Und ich bin ja nun hier, um meine Schulden abzuarbeiten.«

»Und was ist mit dem Geld, das Sie gestohlen haben?«

Sophie Tapperts Stimme war wie ein Peitschenknall in Karls Ohren. Verwundert schaute er von Sebastian zu Sophie und wieder auf den Pfarrer.

»Geld? Wovon redet sie? Welches Geld?« fragte er den Geistlichen.

»Liebe Frau Tappert«, wandte Sebastian sich an seine Haushälterin. »Am besten lassen S’ mich einen Moment mit dem Herrn Moislinger alleine. Sie sind zu aufgeregt, und ich möcht’ die Geschicht’ jetzt ein für allemal klären.«

Sophie schüttelte den Kopf. Nerven hatte Hochwürden ja, das mußte man ihm lassen. Sie würd’ keine Minute mit dem Kerl alleine in einem Raum bleiben wollen. Dennoch ging sie nur widerstrebend aus der Küche. Zuvor setzte sie die Kartoffeln auf den Herd und ließ sich dabei mehr Zeit, als sonst.

*

»Also, nun mal raus mit der Sprache«, forderte Sebastian den Obdachlosen auf, nachdem Sophie Tappert endlich aus der Küche gegangen war. »Haben Sie das Geld genommen, oder net?«

Karl Moislinger hob hilflos die Arme und ließ sie wieder fallen. Er schüttelte den Kopf.

»Von welchem Geld ist hier denn bloß immer die Rede!« fragte er verzweifelt.

»Frau Tappert vermißt Haushaltsgeld, das sie im Küchenschrank deponiert hatte«, erklärte der Geistliche. »Und zwar genau seit der Nacht, in der Sie verschwunden sind. Nun nimmt sie an, daß Sie das Geld gestohlen haben.«

Der Landstreicher schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch, an dem sie saßen.

»Da hört sich doch alles auf!« rief er sichtlich errregt. »Ich bin doch kein Dieb! Gut, Brot und Wurst, das laß ich schon mal mitgehen. Aber ich stehl’ doch kein Geld!«

»Das hab’ ich auch net angenommen«, beruhigte Sebastian ihn. »Ich hab’s zwar von Anfang an net geglaubt, aber seit Sie wieder hier sind, ist’s Gewißheit. Sie sind net so dumm, eingesperrt zu werden. Ich denk’, Frau Tappert hat sich mit dem Geld geirrt und es irgendwo anders hingetan.«

Er ging zur Tür und bat die Haushälterin wieder herein. Sophie Tappert hörte sich die Erklärung des Geistlichen an, sagte aber kein Wort dazu. Als Sebastian ihr mitteilte, daß Karl wieder für ein paar Tage das Zimmer beziehen und im Garten arbeiten werde, verzog sie keine Miene. Erst als der Landstreicher aus der Küche ging, um seine beiden Plastiktüten nach oben zu tragen wandte sie sich an den Pfarrer.

»Ich frag’ mich nur, wo das Geld geblieben ist, wenn’s der net genommen hat.«

Der Ton, in dem sie es sagte, ließ keinen Zweifel daran, daß sie Karl Moislinger immer noch verdächtigte. Sebastian runzelte die Stirn.

»Bitt’schön, Frau Tappert, ein Mensch gilt so lang’ als unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist«, antwortete er. »Finden Sie den Beweis, daß der Moislinger-Karl das Geld gestohlen hat, und ich laß ihn vom Max verhaften. Bis dahin respektieren Sie ihn als einen Mitbewohner dieses Hauses.«

Er erhob sich und ging hinaus. In der Tür drehte er sich noch einmal um.

»Seien S’ so gut und decken S’ für vier Personen auf«, bat er freundlich, bevor er die Tür hinter sich schloß.

Die Haushälterin setzte sich erst einmal auf die Eckbank. Sie wußte nicht, was sie von alledem halten sollte. Hatte sie sich wirklich so geirrt? Aber seit Jahr und Tag legte sie das Haushaltsgeld in den Küchenschrank. Sie hatte es noch nie woanders gelassen.

Sie schaltete die Kartoffeln klein und setzte das Gemüse auf. Das Gehäck für die Fleischpflanzerl stand fertig im Kühlschrank. Sie hatte also noch etwas Zeit, bis zum Mittag. Die Haushälterin nahm sich das kleine Heft vor, in das sie immer die Ausgaben eintrug. Zum wiederholten Male rechnete sie alle Posten durch, doch es blieb dabei. Es fehlten genau Zweihundert Mark.

Seufzend klappte sie das Heft zu und machte sich daran, das Mittagessen fertigzustellen. Heut’ und in den nächsten Tagen würd’ es ihr überhaupt net schmecken, das wußte sie ganz genau!

*

Elke Kerner wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Ihr Bruder versuchte vergeblich, sie zu beruhigen.

Nachdem sie den Umschlag geöffnet hatte, waren ihre Augen über das Briefpapier geflogen. Sie las zwar, was da geschrieben stand, konnte die Worte aber nicht begreifen. Von Liebe stand da etwas, aber auch von Enttäuschung und Mißtrauen. Verzweifelt hatte sie Reinhard angesehen und immer wieder den Kopf geschüttelt.

Ihr Bruder nahm den Brief und las ihn kurz.

»Ich weiß nicht, was das alles bedeutet«, sagte er. »Aber ich denke, wir sollten jetzt auf dein Zimmer gehen und über alles nachdenken.«

An der Rezeption ließ er sich Elkes Schlüssel geben und führte seine Schwester nach oben. Dort las er den Brief noch einmal und diesmal gründlicher durch, bevor er ihn an Elke weiterreichte. Ihre Hände zitterten, und sie mußte sich zur Ruhe zwingen, bevor sie selber lesen konnte.

»Ich hab’ nur eine Erklärung«, meinte Reinhard Kerner.

»Carsten Henning muß uns beide von seinem Fenster aus auf dem Parkplatz gesehen, und seine Schlüsse daraus gezogen haben. Natürlich völlig falsche. Aber er konnte ja auch net wissen, daß da unten Bruder und Schwester stehen und sich umarmen. Offenbar war er so enttäuscht, daß er sofort abgereist ist. Hier in seinem Brief schreibt er doch von einer Enttäuschung, die er erlebt hat, und von tiefen Wunden, die noch nicht verheilt sind. Ich fürchte, der Mann ist einem entsetzlichen Irrtum erlegen.«

Elke hob ihr tränennasses Gesicht.

»Was soll ich denn jetzt machen?« fragte sie mit leiser Stimme. »Ich will ihn doch net verlieren!«

Wieder weinte sie heftig, heftiger als zuvor. Reinhard bangte um seine Schwester. Er hoffte, daß ihre Weinkrämpfe nicht in einem völligen Zusammenbruch endeten.

»Ich geh’ noch mal hinunter und erkundige mich, wann genau Carsten abgereist ist. Dann haben wir zumindest einen Anhaltspunkt, wo er jetzt sein könnte. Wenn’s sein muß, fahre ich ihm eben hinterher.«

Elke versuchte dankbar zu lächeln.

»Und dein Termin?«

Reinhard winkte ab.

»Ach was«, sagte er. »Es gibt Sachen, die einfach wichtiger sind. Ich laß’ meine kleine Schweseter doch net im Stich.«

Damit verschwand er nach draußen.

Die junge Frau nahm noch einmal Carstens Brief in die Hand. Sie strich das Papier glatt, das sie in ihrer Erregung zerknüllt hatte. Die Buchstaben verschwammen vor ihren nassen Augen, und sie mußte sich zusammenreißen, nicht mehr zu weinen.

»Ich habe geglaubt, die Liebe meines Lebens gefunden zu haben, und wurde doch so bitter enttäuscht!«

Immer wieder las Elke diesen Satz, der so bitter weh tat. Sie war sich beim besten Willen keiner Schuld bewußt, es mußte so sein, wie ihr Bruder vermutete – Carsten hatte sie auf dem Parkplatz gesehen und einen falschen Schluß daraus gezogen. Und nun war er fort, bevor sie alles richtig stellen konnte.

Reinhard kam wieder ins Zimmer. Er war sichtlich erregt.

»Stell’ dir vor«, sagte er. »Carsten ist offensichtlich noch gar net abgereist. Sein Wagen steht d’runten auf dem Parkplatz. Zwischen den vielen anderen haben wir ihn vorhin nur net gesehen.«

Wie elektrisiert fuhr Elke hoch.

»Was sagst du da? Er ist noch hier?«

»Ja. Ich wollt’s erst auch net glauben. Am Empfang sagte man mir, er habe gegen zehn seine Koffer heruntergetragen und die Rechnung verlangt. Gleich darauf hat er das Hotel verlassen.

Ich selbst bin eben zu meinem Wagen gegangen, um die Telefonnummer meiner Verabredung heut’ nachmittag zu holen. Ich muß dem Mann ja absagen, und da seh’ ich ein Auto mit Hamburger Kennzeichen. Zwei Koffer auf der Rückbank.«

Er beschrieb das Fahrzeug, und Elke konnte es nur bestätigen. Ja, das war Carstens Wagen.

Unruhig lief sie im Zimmer auf und ab.

»Aber wo steckt er denn nur?« fragte sie immer wieder.

»Ich weiß net, wo er sein könnt’, aber überleg’ doch mal – gab es einen Platz, an dem ihr beide gewesen seid?«

Elke dachte fieberhaft nach. Sie waren ja sehr oft unterwegs gewesen, verschiedene Plätze kamen in Betracht, aber nur einer wollte ihr passend erscheinen.

Nur, was würde geschehen, wenn sie ihn dort aufsuchte? Würde Carsten sie wirklich anhören und, vor allem, ihr Glauben schenken?

Sie zog ihre Jacke über. Ihr Bruder sah sie fragend an.

»Was hast du vor?«

»Ich will zur Kirche hinüber«, erwiderte sie.

»Glaubst du, daß Carsten dort…?«

Elke schüttelte den Kopf.

»Nein, ich muß mit dem Pfarrer sprechen. Vielleicht kann er helfen.«

Reinhard Kerner zuckte die Schulter. Warum net, dachte er, wenn man Hilfe braucht, ist ein Geistlicher meist’ der richtige Ansprechpartner. Er folgte seiner Schwester hinaus.

*

Carsten Henning saß, dumpf vor sich hinbrütend auf der Parkbank. Es war dieselbe Bank, auf der er Elke gefragt hatte, ob sie sich vorstellen könne, ihr Leben mit ihm zu teilen, ob sie seine Frau werden wolle.

Dieser Tag – vor nicht einmal einer Woche – schien so lange her zu sein. Beinahe kam ihm dies alles, der Urlaub, Elke, ihre große Liebe und diese Enttäuschung, wie ein unwirklicher Traum vor, und Carsten erwartete, jeden Moment zu erwachen und zu Hause in Hamburg in seinem Bett zu liegen.

Wie ein grausamer Film lief die Erinnerung vor seinen Augen ab. Elke in den Armen eines anderen Mannes!

Dabei hatte der Tag so glücklich begonnen. Sie hatten zusammen gefrühstückt. Elke erklärte ihm, daß sie den Vormittag bräuchte, umd endgültig mit der Arbeit an dem Gutachten fertig zu werden, und dann – sie sagte es mit einem verliebtem Lächeln – würde sie jeden Tag bis zu seiner Abreise nur für ihn dasein.

Doch dann hatte es eine böse Überraschung gegeben.

Es war kein Zufall, daß Carsten ausgerechnet in dem Moment aus dem Fenster sah, als Elke auf dem Parkplatz ging. Er wußte, daß sie mit dem Wagen fahren würde und natürlich hatte er ihr nachwinken wollen.

Carsten hatte die Hand schon am Fenstergriff, um es zu öffnen und Elke einen lieben Gruß hinunter zu rufen, als er den Mann aus dem Auto steigen sah. Verwundert wurde er Zeuge, wie Elke auf den Mann zuging, ihn umarmte und schließlich sogar küßte.

Ein heißer Blutstrom schoß zu seinem Herzen, und für einen Moment wurde ihm schwindelig. Es war wie bei der bösen Szene, als er Petra aus den Armen des anderen riß. Immer wieder rief er sich diesen Augenblick in Erinnerung. Petras entsetztes Gesicht, als sie ihn erkannte, und die Angst, die in den Augen seines Freundes flackerte.

Heiß und kalt war es ihm geworden, und er hatte das Gefühl, der Boden gleite ihm unter seinen Füßen weg.

Und genau dieses Gefühl spürte er, als er Elke in den Armen des Mannes sah, den er nicht kannte. Dann fiel Elke ihm ein weiteres Mal um den Hals und küßte ihn. Sie stiegen in das fremde Auto und fuhren davon. Darum also,hatte sie am Vormittag keine Zeit für ihn gehabt!

Voller Wut und Verzweiflung hieb er gegen die Wand, ohne den Schmerz zu spüren. Dann setzte er sich auf das Bett und überlegte, was er tun sollte. Er kam schließlich zu dem Schluß, daß es das einzig richtige war, sofort abzureisen.

Doch das konnte er nicht tun, ohne die Frau, die ihn jetzt so maßlos enttäuschte, anzuklagen. Briefbogen und Umschlag lagen auf dem Schreibtisch. Carsten setzte sich und schrieb sich seinen Kummer von der Seele. Besser fühlte er sich nicht, aber immerhin würde Elke wissen, was sie ihm angetan hatte.

In Windeseile hatte er seine beiden Koffer gepackt und an der Rezeption seine Rechnung verlangt. Dann hinterließ er den Brief. Er verstaute sein Gepäck und spürte, wie aufgewühlt er innerlich war. So konnte er unmöglich autofahren. In diesem Zustand würde er sich und andere gefährden.

Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich über das Gesicht. Sein Blick fiel auf die Haltestelle auf der anderen Straßenseite. Carsten wußte, daß von dort der Bus in die Stadt abfuhr, und eine wahnwitzige Idee kam ihm.

Nur einmal noch wollte er den Platz aufsuchen, an dem er so – vermeintlich – glücklich gewesen war. Wo er geglaubt hatte, die Frau für’s Leben gefunden zu haben.

Schon nach kurzer Zeit hielt der Bus. Carsten stieg ein, bezahlte den Fahrpreis und setzte sich auf einen der hinteren Sitzplätze. Er schaute aus dem Fenster, ohne wirklich die Landschaft zu sehen. Die draußen vorbeizog. Er sah immer nur die gleiche Szene – Elke in den Armen eines anderen Mannes!

*

Sebastian Trenker verließ gerade die Kirche, als Elke und ihr Bruder ihm entgegen kamen. Der Geistliche erkannte an den verweinten Augen der Frau, daß etwas geschehen war.

»Frau Kerner, kann ich Ihnen helfen?«

Elke nickte. Schon wieder war sie den Tränen nahe. Mit stockender Stimme stellte sie ihren Bruder vor und erklärte dann ihr Anliegen. Obgleich vieles wirr klang und ohne Zusammenhang, wurde es für den Seelsorger schnell klar, um was es sich drehte. Selbstverständlich war er sofort bereit, zu helfen.

»Wissen Sie denn, wo Herr Henning sich jetzt aufhalten könnte?« fragte er.

»Meine Schwester glaubt es zumindest«, erwiderte Reinhard Kerner.

»Es ist nur eine Vemutung«, sagte Elke. »Wir haben am Sonntag einen Ausflug in die Stadt gemacht.«

Sie machte eine verzweifelte Handbewgung.

»Ich könnt’ mir vorstellen, daß Carsten dort im Park ist, wo wir auf der Bank saßen.«

Elke schloß die Augen und wischte die Tränen von ihrem Gesicht.

»Dort hat er mich gefragt, ob wir beide… ob ich seine…«

Reinhard nahm sie in die Arme, während Pfarrer Trenker nickte. Er hatte verstanden, was Elke sagen wollte.

»Kommen Sie«, sagte er. »Wir fahren einfach hin und suchen ihn dort. Sie möchten sicher, daß ich zuerst mit ihm spreche, nicht wahr?«

»Ja, das wär’ schön, Hochwürden«, flüsterte sie. »Er hat so begeistert von Ihnen gesprochen. Wenn er überhaupt auf jemanden hört, dann sind Sie es.«

»Gut, ich sag’ nur schnell meiner Haushälterin, daß ich für ein paar Stunden net fort bin.«

Bevor er ins Pfarrhaus ging, drehte er sich noch einmal um.

»Kopf hoch, Frau Kerner, wir werden Ihren Carsten schon finden. Und bestimmt wird alles wieder gut. Schließlich hab’ ich mir einen Termin für Eure Trauung freigehalten.«

Elke nickte tapfer, doch in ihrem Herzen saß eine beißende Angst.

»Hoffentlich begeht er keine Dummheit«, sagte sie leise zu ihrem Bruder.

Reinhard Kerner schaute sie entsetzt an.

»Um Gottes willen, Madel, das darfst du net einmal denken«, stieß er hervor.

Liebevoll strich er über ihr Haar.

»Du wirst seh’n, Pfarrer Trenker wird recht behalten«, sagte er zuversichtlich.

Seine Schwester faltete ihre Hände und schaute stumm zur Kirche hinüber.

»Recht so«, nickte Reinhard. »Ein Gebet kann Wunder bewirken.

*

Die Fahrt verlief schweigsam. Elke kam sie unendlich lang vor. Sie saß hinten im Fond, während Pfarer Trenker Reinhard, der am Steuer saß, den Weg wies. Endlich hielt der Wagen an.

»Hier ist der Eingang zum Stadtpark«, sagte Sebastian.

Sie stiegen aus und gingen den von Rasen und Blumen gesäumten Weg entlang.

»Dort steht die Bank«, deutete Elke nach vorne, und ihre Augen weiteten sich. »Und da sitzt Carsten!«

Sebastian und Reinhard sahen die nach vorne gebeugte Gestalt.

»Lassen S’ mich erst einmal mit ihm alleine reden«, schlug der Geistliche vor.

Die beiden nickten, und Sebastian schritt schneller aus, während Elke und ihr Bruder ihm langsam folgten.

»Grüß’ Gott, Herr Henning«, sagte Pfarrer Trenker, als er vor der Bank stand.

Carsten, der ihn nicht hatte kommen sehen, schaute erstaunt auf, als er mit seinem Namen angesprochen wurde.

»Hochwürden? Was machen Sie denn hier?«

»Das wollt’ ich Sie fragen, Herr Henning. In St. Johann werden Sie schrecklich vermißt.«

Carsten sah ihn ungläubig an. Sebastian stand so, daß der Hamburger nicht sehen konnte, wer da den Weg heraufkam.

»Ich?« fragte er und lächelte müde. »Wer sollte mich schon vermissen?«

Der Geistliche sah, daß der Mann sich aufgegeben hatte, ihm schien alles egal zu sein. Es war ein Wunder, daß er sich nicht aus lauter Kummer betrunken hatte. Sebastian rüttelte ihn an der Schulter.

»Hören Sie, Herr Henning, ich weiß, was heute morgen geschehen ist, was Sie auf dem Parkplatz gesehen haben. Und ich weiß auch, daß das alles ein schreckliches Mißverständnis ist. Frau Kerners Bruder ist überraschend bereits heute morgen eingetroffen und nicht, wie geplant, am Freitag. Er war es, den Ihre Verlobte so stürmisch begrüßte.«

Carsten schaute ihn nicht verstehend an. Sebastian nickte.

»Es ist so, wie ich sage, Herr Henning. Ihrem Brief an Frau Kerner entnehmen wir, daß Sie vor nicht all zu langer Zeit eine schlimme Enttäuschung erlebt haben. Vermutlich hat eine Frau Sie hintergangen. Daher ist Ihre heutige Reaktion nur zu verständlich. Die Wunden sind tief und noch recht frisch, und da haben Sie vermutet, ein weiteres Mal betrogen worden zu sein. Glauben Sie mir, Elke liebt Sie von ganzem Herzen.«

Carsten griff nach Sebastians Hand.

»Ist da wirklich wahr?« flüsterte er.

»Ja, Carsten«, sagte Elke in diesem Moment. »Ich liebe dich.«

Schon beim Klang ihrer Stimme war er aufgesprungen und hatte sie in seine Arme gerissen. Seine Hände glitten über ihren Rücken, und er roch den vertrauten Duft ihres Haars.

»Ich… ich war so dumm«, sagte er, kaum hörbar. »Kannst du mir verzeiehn?«

Elke trocknete ihre Tränen. Es sollten die letzten sein, die sie heute geweint hatte. Aber dieses Mal vor Glück.

»Natürlich verzeihe ich dir. Es war ja auch meine Schuld – ich hätt’ vielleicht gleich mit Reinhard zu dir hochkommen sollen, und net erst wegfahren. Dann wär alles net so kompliziert geworden.«

»Es ist ja ausgestanden, Gott sei Dank«, sagte er und zog sie mit sich fort.

Pfarrer Trenker und Elkes Bruder schauten ihnen hinterher.

»Ich denk’, wir sollten ihnen etwas Zeit lassen«, sagte der Geistliche. »Die beiden haben viel zu bereden.«

Reinhard Kerner nickte erleichtert.

*

Sophie Trenker setzte das Wasser mit den Zwiebeln und Gewürzen auf, in dem sie den Fisch kochen wollte. Sie hatte den Sud kräftig gesalzen. Nebenan stand eine Mehlschwitze bereit, mit der sie später einen Teil der Fischbrühe zur Sauce verkochen wollte. Mit einem guten Löffel Senf und einem Schuß Sahne würde daraus die leckerste Senfsauce, wonach sich sogar die ›Fischköpf‹ im hohen Norden die Finger lecken würden, wie Maximilian Trenker sich auszudrücken pflegte.

Die Haushälterin regulierte die Hitze unter den kochenden Kartoffeln, und nachdem sie den Kopfsalat gewaschen und geschleudert hatte, machte sie sich daran, die Zeit bis das Essen fertig war, zum Aufräumen des Küchenschranks zu nutzen.

Zuerst nahm sie sich das linke obere Fach vor, Himmel, das wurde wirklich höchste Zeit! Sophie verstand überhaupt nicht, wieso schon wieder solch ein Chaos darin herrschte. Sie hatte erst vor ein paar Wochen darin Ordnung geschaffen.

Die Haushälterin nahm die Kaffee- und Teedosen heraus. Ein angebrochenes Päckchen Kakao stand darin, und etliche Päckchen Puddingpulver. Sophie überlegte, daß es schon ewig her war, daß sie einen Pudding zum Nachtisch gekocht hatte. Zur Zeit gab es soviel frisches Obst, Äpfel und Birnen, das sie zu Kompott verkochte oder einweckte, so daß die Süßspeisen, wie Cremes und Puddings ein wenig vernachlässigt wurde. Aber vielleicht würde sie am Sonntag mal wieder einen Schokoladenpudding servieren. Hochwürden aß ihn ebenso gerne, wie sein Bruder. Besonders mit Vanillesauce.

Von draußen hörte sie das Krachen und Splittern von Holz. Dadurch wurde sie daran erinnert, daß es noch einen Gast im Pfarrhaus gab. Der Moislinger-Karl war damit beschäftigt, Holz für den Kamin zu hacken. Das würde zwar erst im Herbst gebraucht, aber ein Vorrat zu haben, sei nicht schlecht, hatte Hochwürden gesagt und dem Haderlump die Axt in die Hand gedrückt.

Bei dem Anblick war der Haushälterin angst und bang’ geworden.

In Gedanken ein Kreuz schlagend, nahm sie die Puddingpäckchen aus dem Fach – und erstarrte.

Eingeklemmt zwischen Schokolade- und Vanillegeschmack steckten zwei Geldscheine!

Mit zitternden Fingern nahm Sophie Tappert das Geld und faltete die Scheine auseinander. Verblüfft starrte sie auf das so schmerzlich vermißte Geld.

Sophie spürte, wie es ihr heiß und kalt wurde. Diese Blamage, dachte sie. Herr im Himmel, ich hab’ ihn zu unrecht verdächtigt.

Mit klopfendem Herzen wartete sie auf die Männer, die nacheinander herein kamen. Die Haushälterin trug wie gewohnt das Essen auf, diesmal ohne auf Max’ Kommentare einzugehen. Bevor Pfarrer Trenker jedoch das Tischgebet sprechen konnte, legte Sophie Tappert das Geld auf den Tisch. Alle Augen richteten sich darauf, dann schauten die Männer sie an. Die Haushälterin schluckte, dann wandte sie sich an den Obdachlosen.

»Herr Moislinger, ich hab’ Ihnen Unrecht getan«, sagte sie leise. »Ich hab’ Sie des Diebstahls bezichtigt, obwohl Sie unschuldig waren. Das Geld ist gefunden. Offenbar war meine eigene Schusseligkeit schuld daran, daß ich es net gleich gesehen hab’, als ich danach suchte. Ich bitt’ Sie herzlich um Verzeihung, und hoff’, daß Sie einer uneinsichtigen Frau vergeben können.«

Pfarrer Trenker war erstaunt. Dies war eine ungewöhnlich lange Rede für seine Perle, die ansonsten eher schweigsam war. Die Sache mußte ihr recht peinlich sein, daß sie sich so breit ausgelassen hatte.

Karl Moislinger indes schüttelte den Kopf, und dabei überzog ein breites Grinsen sein Gesicht.

»Gnädige –, äh, ich mein natürlich, liebe Frau Tappert, es gibt nichts, was ich Ihnen verzeihen müßt«, antwortete er. »Seh’n Sie, unsereins ist’s gewohnt, daß man zuerst auf die Schale schaut, aber sich net für den Kern interessiert. Auch ich bin schuld, denn ich hab’ ja gestohlen. Zwar kein Geld, aber Schinken und Wurst. Sie mußten also glauben, daß ich auch das Packerl an mich genommen habe. Ich gebe zu, ich hab’s dort liegen seh’n, aber Geld macht net glücklich, wenn man’s net durch ehrliche Arbeit verdient. D’rum bin ich ja auch nach Engelsbach rüber und hab’ die Schein’ im Schrank gelassen. Ich hätt’s ja schon früher gesagt, aber ich bin ja net so recht zu Wort gekommen, bei Ihnen.«

Er schaute treuherzig in die Runde.

»Und nun laßt uns endlich den Fisch essen. Er wird ja ganz kalt, der Arme!«

»Amen«, sagte Pfarrer Trenker.

*

Es war ihr letzer gemeinsamer Tag. Morgen würde Elke zurück nach München fahren, und Carsten seine lange Reise nach Hamburg antreten.

Ein letztes Mal wanderten sie die Berge hinauf. Gleich nach der Frühmesse, die sie besuchten, brachen sie auf, einen Rucksack voller Proviant im Gepäck.

Gegen Mittag lagerten sie auf einer Almwiese. Die Sonne schien herrlich, und um sie herum dufteten Blumen und Kräuter.

Carsten hatte seine Arme um Elke geschlungen. Sie saßen auf dem Boden und schauten sich in die Augen.

»Ich bin so glücklich, daß alles nur ein tragischer Irrtum war«, sagte Carsten. »Ich glaube, ich habe mich wie ein Dummkopf benommen.«

Elke schüttelte den Kopf.

»Nein«, erwiderte sie. »Vielleicht werde ich eines Tages erfahren, was dir geschehen ist, daß du so reagiert hast. Ich würde mich freuen, wenn du es mir einmal erzählen wolltest.«

»Das will ich«, nickte Carsten. »Du wirst meine Frau, und es wird keine Geheimnissse zwischen uns geben.«

»Ja, das wollen wir uns versprechen. Und, daß wir immer für einander da sind. Ich hab’ in dir die Liebe meines Lebens gefunden.«

Zärtlich küßte er ihren Mund.

»Das war die schönste Liebeserklärung, die ein Mann je bekommen hat«, sagte er. »Auch ich habe sie gefunden, die große Liebe. Du bist sie. Du bist mein ganzes Glück.«

Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman

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