Читать книгу Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 6

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Die Kirchturmspitze von St. Johann lag noch im Dunst des frühen Nebels, und die Menschen in dem idyllischen Bergdorf schliefen den Schlaf des Gerechten.

Nur ein Mann war in dieser Herrgottsfrühe schon unterwegs. Der sauber geharkte Kies knirschte unter den Schritten seiner Wanderstiefel, als er über den Weg zum Kirchenportal ging. Rechts und links wurde der Weg von einer niedrigen Buchsbaumhecke begrenzt, dahinter lag ein sorgfältig gemähter Rasen, der bis zu den Blumenrabatten vor der weißen Kirchenmauer reichte.

Der Mann schloß die Kirchentür auf und trat in das kühle Gotteshaus ein. Seinen Hut und den Rucksack, den er in der Hand getragen hatte, legte er am Eingang ab. Drinnen war es noch nicht richtig hell, lediglich ein paar Strahlen der eben aufgehenden Sonne warfen ihr Licht durch die hohen Fenster. Staubpartikel tanzten darin.

Der frühe Besucher in Wanderkleidung durchschritt das Kirchenschiff, kniete vor dem Altar und schlug das Kreuz. Einen Moment verharrte er im stummen Gebet, dann stand er auf und wandte sich der Sakristei zu, einem Raum, in dem alte Kirchenbücher aufbewahrt wurden, aber auch Meßgewänder, Kerzen und andere Dinge. Dort drinnen wurde der Gottesdienst vorbereitet.

Der Blick des Mannes fiel auf ein Gemälde, das unter dem Bogengang vor der Sakristei hing. Es hieß ›Gethsemane‹ und zeigte Christus, im Gebet versunken, am Abend vor der Kreuzigung. Nachdenklich blieb der Mann stehen – etwas war hier anders als sonst…

Die Madonna! durchfuhr es ihn siedendheiß. Neben dem Gemälde hatte eine Madonnenstatue ihren Platz. Es war das handgeschnitzte Kunstwerk eines unbekannten Meisters aus dem siebzehnten Jahrhundert. Vor einigen Jahren war die Skulptur von einem Experten begutachtet worden, der ihr einen nicht unbeträchtlichen Wert zubilligte.

Jetzt war diese Madonnenstatue verschwunden!

Dem Mann stockte der Atem, als er nähertrat. Holzspäne auf dem Steinboden zeugten davon, daß der oder die Täter die wertvolle Statue brutal von ihrem Sockel gesägt hatten. Er drehte den Kopf. Die Tür zur Sakristei war geöffnet. Von dort wehte ein kalter Luftzug. Der Mann schaltete das Licht ein und sah, daß die Scheibe des Fensters eingeschlagen war. Dahinter war der Friedhof, von dort mußten die Diebe eingedrungen sein.

*

Maximilian Trenker rekelte sich in seinem Bett. Wieder war das aufdringliche Klingeln des Telefons zu vernehmen. Mühsam rappelte der junge Mann sich auf. Er hatte sich also nicht verhört. Während er sich streckte und ausgiebig gähnte, ging er in das Dienstzimmer hinüber, das gleich neben seinem Schlafzimmer lag. Er nahm den Hörer ab und meldete sich.

»Polizeistation Sankt Johann, Trenker am Apparat.«

»Ich bin’s«, vernahm er die Stimme seines Bruders.

»Gütiger Himmel, weißt du, wie früh es ist?«

»Viertel nach vier«, antwortete Sebastian Trenker. »Max, du mußt sofort kommen. Jemand ist in die Kirche eingebrochen – die Madonna – sie ist gestohlen worden!«

Max Trenker war mit einem Schlag hellwach.

»Ich bin unterwegs«, rief er und warf den Hörer auf die Gabel.

Während der Polizeibeamte in seine Kleider schlüpfte, ging Sebastian Trenker in seinem Arbeitszimmer unruhig auf und ab. Die Madonna gestohlen! Nie hätte er es für möglich gehalten, daß solch ein Verbrechen in dem beschaulichen Bergdorf vorkommen könne – und doch war es geschehen.

Er unterbrach seine ruhelose Wanderung und schaute nachdenklich zu Boden. Dabei fiel sein Blick auf die Wanderschuhe, die er immer noch trug. Kopfschüttelnd setzte er sich und zog sie aus. Die Bergtour, die er für den heutigen Morgen geplant hatte, konnte er getrost vergessen. Daraus würde nun nichts mehr werden.

Schade! Pfarrer Trenker war ein begeisterter Bergwanderer und Kletterer. Niemand, der den Geistlichen nicht kannte, hätte geglaubt, daß dieser sportliche, braungebrannte Endvierziger Pfar­rer ist. Auf den ersten Blick machte er den Eindruck eines agilen, durchtrainierten Touristen, und doch war es so. Eine unerklärliche Liebe zu den gewaltigen, schroffen und majestätischen Bergen trieb Sebastian Trenker immer wieder in schwindelnde Höhen. Dort oben, wo der Himmel zum Greifen nahe schien, dort war er seinem Herrgott noch näher, konnte er stumme Zwiesprache mit seinem Schöpfer halten. Und dort sammelte er neue Kraft für seinen schweren, aufopferungsvollen Beruf.

Pfarrer Trenker war der gute Hirte seiner Gemeinde, der für jeden und alles ein offenes Ohr hatte. Er wußte Rat und Hilfe in verzwickten, oft ausweglosen Lebenslagen. Er liebte seine Gemeinde, und seine Gemeinde liebte ihn.

Die Liebe zu den Bergen teilte er mit seinem Namensvetter, dem berühmten Bergsteiger, Schauspieler und Regisseur, Luis Trenker, und manchmal neckte ihn der eine oder andere Freund liebevoll mit diesem Vergleich, den Sebastian mit einem Schmunzeln abtat.

Wer nicht über seine Liebe zu den Bergen schmunzelte, war Sophie Tappert, Sebastians Haushälterin und Perle im Pfarrhaus.

Sie war eine herzensgute Frau, die in ständiger Sorge um ›ihren‹ Pfarrer lebte. Sie verstand er nicht nur Ordnung und Sauberkeit zu halten – ihre geradezu himmlischen Kochkünste verlockten dazu, mehr zu essen, als es der Linie guttat. Und würde Pfarrer Trenker sich nicht so viel sportlich betätigen und lieber in der gemütlichen Wohnstube des Pfarrhauses sitzen – er würde sich wohl alle paar Wochen eine neue Soutane zulegen müssen.

Und es gab noch einen, der von Frau Tapperts Kochkünsten provitierte – Sebastians Bruder, Max, oft und gerngesehener Gast in der Pfarrhausküche, wo er sich immer wieder gerne zum Essen einlud. Was man ihm aber net unbedingt ansah. Max war rank und schlank, und das gefiel so manchem Madel… – da half es auch nichts, daß sein Bruder so manches Mal warnend den Finger hob.

*

Mit untrüglichem Gespür dafür, daß etwas Schlimmes geschehen war, wachte Sophie Tappert auf. Zwar konnte sie nicht verstehen, was der Herr Pfarrer sagte, aber, daß er aufgeregt telefonierte, war nicht zu überhören. Die Haushälterin schaute auf die Uhr. Nicht einmal halb fünf – wenn der Pfarrer so früh noch im Haus war, dann stimmte etwas nicht. Normalerweise war er schon unterwegs in die Berge – sehr zum Leidwesen seiner Perle, die ihm mehr als einmal prophezeite, er würde dort oben verhungern, oder erfrieren oder noch Schlimmeres.

Inzwischen hatte sie es aufgegeben, mit Engelszungen auf ihn einzureden, allerdings – die stummen Blicke, die sie ihm zuwarf, wenn die Sprache auf das Thema Berge kam, waren deutlich genug.

Frau Tappert stieg aus dem Bett und warf den Morgenmantel über. Dann schlüpfte sie in die blauen Hausschuhe und lief zur Treppe.

»Was gibt’s denn, Herr Pfarrer?« fragte sie aufgeregt. »Ist etwas geschehen?«

»In der Tat«, antwortete der Geistliche. »Wir sind bestohlen worden. Man ist in die Kirche eingebrochen und hat die Madonnenstatue geraubt.«

»Was…?«

Die erschrockene Frau bekreuzigte sich.

»Das ist ja… Gotteslästerung ist das ja!«

»Zunächst einmal ist es Einbruch und Diebstahl«, stellte der Pfarrer nüchtern fest. »Und das fällt erst mal in die Zuständigkeit vom Max. Er muß jeden Moment hier sein. Gell, Frau Tappert, sein S’ so gut und kochen S’ einen Kaffee für ihn. Wie ich meinen Bruder kenne, kann er mit leerem Magen nicht arbeiten.«

Im selben Augenblick klingelte es an der Tür des Pfarrhauses. Sebastian Trenker öffnete, während die Haushälterin in die Küche eilte.

»Grüß dich, Bruderherz«, sagte Max Trenker kopfschüttelnd. »Das sind ja schöne Neuigkeiten, mit denen du mich weckst.«

»Ich hätt’ dich auch lieber ausschlafen lassen«, antwortete Sebastian und schüttelte die dargebotene Hand.

Dann gingen sie zur Kirche hinüber und besahen die Bescherung genauer.

»Da werd’ ich die Kollegen von der Kripo verständigen müssen«, meinte Max. »Bestimmt gibt es Spuren, die wir zwei nicht finden.«

»Hoffentlich ist der Madonna nichts weiter geschehen«, meinte sein Bruder voller Besorgnis. »Die Diebe sind nicht gerade zimperlich vorgegangen.«

Max betrachtete das verbliebene Holzstück in der Wand genauer.

»Da ist nur der Sockel beschädigt«, meinte er. »Ich glaub’ net, daß sie der Figur selbst schaden. Schließlich wollen sie sie ja irgendwo wieder zu Geld machen. Komm, ich muß telefonieren.«

Vom Pfarrhaus aus benachrichtigte Max Trenker die Kriminalpolizei, dann setzte er sich zu seinem Bruder und der Haushälterin in die Küche.

Der Kaffee duftete herrlich, und auf dem Tisch stand knuspriges Brot, verlockende Marmeladen sowie Butter und Käse. Max, der acht Jahre jünger war als Sebastian, besaß einen ungeheuren Appetit, und ganz besonders die Kochkünste von Sophie Tappert hatten es ihm angetan. Niemals hätte der gutaussehende Bursche eine Mahlzeit abgelehnt. Doch der Madonnenraub war ihm auf den Magen geschlagen. Er trank nur einen Schluck Kaffee. Auch Pfarrer Trenker und seine Haushälterin rührten das Frühstück nicht an.

So rechten Hunger hatte niemand mehr von ihnen.

*

Urban Brandner trieb mit eiligen Rufen die Kühe aus dem Pferch hinter der Hütte. Vierzig Stück waren es, die der alte Senner in seiner Obhut hatte. Die Tiere gehörten drei Bauern unten aus dem Tal, die sie den Sommer über hier oben auf der Alm ließen. Urban versorgte die Herde, morgens und abends wurden die Kühe gemolken, danach verarbeitete er die Milch gleich zu Butter und Käse, die einmal im Monat von den Bauern abgeholt wurden.

Nachdem die Tiere an die Melkmaschine angeschlossen waren, ging der Alte hinüber und öffnete die Sperre an der Tränke. Dazu legte er ein einfaches Rohr, das vom nahen Gebirgsbach herübergeführt wurde, um und drehte den Sperrhahn auf.

Seit mehr als sechzig Jahren verrichtete Urban Brandner nun schon diese Arbeit. Tag für Tag die gleichen Handgriffe. Ganz selten einmal fand er den Weg ins Tal hinunter, und die Leute von Sankt Johann begegneten dem Alten mit einer Mischung aus Ablehnung und Respekt.

Die Bauern schätzten seine Arbeit, insbesondere den Käse, den der Senn droben auf der Alm herstellte, und der bei Gastwirten und in Delikateßläden reißenden Absatz fand. Auf der anderen Seite fürchteten sie Urbans Launen. Jähzornig konnte er werden, wenn etwas nicht nach seinem Kopf ging, und ließ es die Leute deutlich spüren, wenn er jemanden nicht mochte. Wenn ein Wanderer in Urbans Sennenwirtschaft erschien, dessen Nase dem Alten nicht paßte, konnte es vorkommen, daß der ihn umgehend – unter deftigen Worten – nach drau­ßen beförderte.

Später saß Urban draußen vor der Hütte und nahm seine erste Mahlzeit ein. Die Kühe grasten bereits wieder unten, bewacht von zwei Schäferhunden, die der Senner selbst ausgebildet hatte.

Nach dem Essen kümmerte sich der alte Mann um die Milch, setzte neuen Käse an und ließ einen Teil der frischgemolkenen Milch in den Buttertrog. Es war eine mühselige Arbeit, die Urban mit der Hand verrichtete, und es dauerte eine ganze Weile, bis die Butterklumpen sich endlich absetzten.

Zwischendurch schaute er zum Himmel hinauf. Strahlender Sonnenschein lag über den Bergen, und würzige Luft stieg ihm in die Nase. Tief unter sich sah er das Tal liegen, mit all den Menschen, die in Hektik und Arbeit versanken. Stinkende Automotoren, lärmende Radios und Fernsehgeräte. – Urban atmete tief durch – all das brauchte er nicht. Hier oben war seine Welt, hier war er zu Hause, und es reichte ihm, wenn ab und an Bergwanderer bei ihm vorbeischauten, oder allmonatlich die Bauern kamen, um ihren Käse abzuholen, und ihm Neuigkeiten von unten berichteten.

Es war schon später Vormittag, als Urban Brandner vor der Hütte saß. Vor sich auf dem Tisch hatte er verschiedene Messer liegen, und in der Hand lag die geschnitzte Figur eines Hundes. In seiner Freizeit stellte der alte Senner viele solcher Figuren her, und manch ein Wanderer kaufte ihm die eine oder andere ab. Das Geld dafür steckte Urban dann in einen alten Strumpf, den er unter seinem Strohbett versteckte. In den Jahren hatte sich so ein ganz hübsches Sümmchen angespart.

Der Mann betrachtete seine Arbeit und wollte sich eben zufrieden zurücklehnen, als er Schritte vernahm. Urban erhob sich und schaute den Weg hinunter. Es war eine junge Frau, die da ganz alleine heraufkam. Der Senner stand auf und wischte die Holzspäne vom Tisch. Dann trug er die Figur und die Messer in die Hütte hinein. Als er wieder heraustrat, war das Madel schon angekommen.

»Grüß Gott«, sagte die junge Frau mit einem freundlichen Lächeln. »Sind Sie der Herr Brandner? Urban Brander?«

Der Alte nickte.

»Freilich. Was kann ich für Sie tun?«

Urban trat vollends aus der Tür, und erst jetzt konnte er das Gesicht der Besucherin sehen. Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen starrte er sie an. Er fühlte, wie sein Puls raste, und ein heißer Blutstrom zu seinem Herzen schoß.

»Maria…, bist du’s wirklich…?« stammelte er fassungslos.

Das Madel lachte erleichtert auf und setzte den schweren Rucksack ab, den es auf dem Rücken trug. Sie schnaufte.

»Nein, Maria bin ich nicht, aber Sie… du kennst sie, nicht wahr?«

Urban hatte sich inzwischen gefaßt. Natürlich konnte das junge Madel net seine Tochter Maria sein, dafür war es ja viel zu jung. Aber diese Ähnlichkeit!

»Wer sind Sie?«

»Kannst du dir das net denken?« fragte die Frau zurück. »Man sagt, ich habe viel Ähnlichkeit mit meiner Mutter. Ich bin Veronika, Großvater, deine Enkeltochter.«

Der alte Senner spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Mein Gott, natürlich! Darum hatte er zuerst geglaubt, seine Tochter sei zurückgekehrt, nach all den Jahren. Veronika Seebacher sah die Tränen des Alten und hob zaghaft die Hand.

»Willst mich net willkommen heißen?« fragte sie. Urban breitete beide Arme aus.

»Doch«, flüsterte er. »Sei herzlich willkommen.«

Veronika warf sich in seine Arme, und als sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte, spürte sie das Zittern, das den alten Mann durchfuhr.

*

Plötzlich schien es, als wäre das Rad der Zeit zwanzig Jahre zurückgedrehnt worden. Gerade so, als wäre es gestern gewesen, tauchten die Bilder der Vergangenheit vor ihm auf.

Maria Brandner war ein junges, hübsches Madel, und die Burschen im Dorf drunten waren alle wild hinter ihr her. Urban, der nach dem frühen Tode seiner Frau, das Kind ganz alleine großgezogen hatte, führte ein strenges Regiment, und wenn Maria einmal am Samstag abend zum Tanz gehen wollte, dann achtete ihr Vater darauf, daß sie nie alleine ins Dorf ging. Jedesmal war er dabei und paßte auf, daß die Burschen seiner Tochter nicht zu nahe kamen.

Dabei hatte längst einer das Herz des Madels erobert. Als Urban dahinterkam, setzte es ein ungeheures Donnerwetter, und er sperrte Maria eine Woche lang ein.

Und das war der Gipfel. Maria, schon volljährig, wagte es, sich ihrem Vater zu widersetzen, und es kam zu einem bösen Streit, der damit endete, daß Urban seine Tochter verstieß. Bei Nacht und Nebel verließ sie die Sennhütte, in der sie geboren und aufgewachsen war. Urban wußte nicht, wohin sie gegangen war. Er hörte nie wieder von ihr.

Bitterkeit hatte sich in all den Jahren in seinem Herzen eingegraben, und wahrscheinlich führte sie dazu, daß er manchen Leuten gegenüber schroff und ablehnend war.

Kopfschüttelnd betrachtete er nun das Madel neben sich auf der Bank. Er konnte es immer noch nicht glauben. Das also war seine Enkeltochter, das Kind seiner Maria.

»Die Mama war sehr krank«, berichtete Veronika. »Der Papa ist schon früh gestorben, und davon hat die Mama sich net mehr erholt.«

Urban schluckte. Seine Enkelin hatte eine Frage beantwortet, die zu stellen er sich nicht gewagt hatte. – Maria lebte also nicht mehr. Urban schluckte und strich dem Madel über das Haar. Es war genauso blond wie das seiner Tochter, und Veronika hatte dasselbe Gesicht, die blauen Augen, das kleine Stupsnäschen, und sogar das Grübchen auf der rechten Wange – wenn sie lachte, dann war es da.

»Nach einigen Wochen habe ich mich dann um den Nachlaß gekümmert und bin dabei auf einige Papiere gestoßen, in denen dein Name erwähnt ist. Ich habe ja vorher gar net gewußt, daß ich einen Großvater habe.«

Sie schaute ihn liebevoll lächelnd an.

»Und dann hab ich mich auf die Suche nach dir gemacht«, endete sie.

Sie nahm seine rauhe, abgearbeitete Hand und drückte sie fest.

»Ihr hattet wohl Streit?« fragte sie. »Die Mama hat nie über ihre Familie gesprochen.«

Urban wurde verlegen. Natürlich hatte es Streit gegeben, und in all den Jahren hatte er sich mehr als einmal Vorwürfe gemacht, er sei zu streng gewesen. Aber da war es zur Reue längst zu spät.

»Ich hab’ viel gutzumachen«, flüsterte er. »Und ich bin froh, daß du gekommen bist.«

Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke.

»Du liebe Güte«, rief er aus. »Ich bin ein schlechter Gastgeber. Du mußt doch Hunger haben und Durst.«

»Nein, nein, so schlimm ist es nicht«, antwortete Veronika lachend. »Aber ein Glas frische Milch nehme ich gerne.«

Sie war ebenfalls aufgestanden, und schaute sich um. Die Arme um den Großvater legend, strahlte sie den alten Mann an.

»Herrlich hast du’s hier droben«, schwärmte sie. »Man möcht’ am liebsten gar net mehr weg.«

Urban Brandner strahlte zurück, und die Worte des Madels brannten sich in seinem Kopf fest.

*

Markus Bruckner schaute aus dem Fenster seiner Amtsstube hinüber zum Kirchplatz. Dort sah er die zwei dunklen Wagen der Kriminalpolizei stehen. Der Bürgermeister von Sankt Johann wandte sich wieder seinen Besuchern zu.

»Eine schlechtere Nachricht hätten S’ net überbringen können, Herr Pfarrer«, sagte er. »Ausgerechnet die Madonna – wer tut bloß so was?«

Sebastian Trenker hob hilflos die Schulter.

»Wir können nur hoffen, daß die Diebe die Statue uns zum Rückkauf anbieten«, sagte er hoffnungsvoll. »Solche Fälle hat’s ja schon gegeben.«

»Schon«, wandte sein Bruder Max ein, »aber in der Regel werden solche sakralen Kunstwerke auf Bestellung gestohlen. Die Täter wissen genau, welcher ›Kunstliebhaber‹ welches Stück haben will. Das stehlen sie ihm dann.«

Der junge Polizist stand auf und wanderte in der Amtsstube des Bürgermeisters hin und her.

»Die Kollegen berichteten von zwei weiteren Einbrüchen«, fuhr er fort. »Drüben in Engelsbach waren es das silberne Altarkreuz und ein Abendsmahlkelch, und in Waldeck ein wertvolles Taufbecken. Außerdem wurden im weiteren Umkreis Heiligenstatuen, Silberleuchter und in einem Fall eine dreihundert Jahre alte Bibel gestohlen. So, wie es ausschaut, handelt es sich um eine Bande Kirchenräuber, die gezielte Einbrüche verübt. Dafür, daß es keine gewöhnlichen Diebe sind, spricht außerdem die Tatsache, daß in keinem der Fälle die Kollekte angerührt wurde. Und bei uns wurde das Bild ›Gethsemane‹, net gestohlen.«

Pfarrer Trenker erhob sich.

»Ich muß noch hinüber zum Lärchner-Bauern«, verabschiedete er sich von Markus Bruckner.

»Wie geht‘s dem Alten denn?« fragte der Bürgermeister.

»Nicht gut«, bedauerte der Geistliche. »Ich hoffe, ihm etwas Trost in seinem Leiden spenden zu können.«

Max schloß sich seinem Bruder an. Vorm Kirchenplatz standen einige Leute. Der dreiste Diebstahl hatte sich in Sankt Johann schnell herumgesprochen.

»Ist dir in den letzten Tagen denn jemand aufgefallen?« fragte der Polizist. »Ein Fremder vielleicht, der sich verdächtig benommen hat?«

Sebastian überlegte. Ein Gesicht tauchte aus seiner Erinnerung auf, das immer deutlicher wurde.

»Warte«, sagte er, »Ja, das war wirklich jemand. Jetzt, wo du danach fragst, fällt es mir wieder ein. Es muß vor etwa vier Wochen gewesen sein, da kam kurz nach der Abendmesse ein Mann in die Kirche. Ich erinnere mich jetzt genau. Ein älterer, gutgekleideter Herr, der sich interessiert umsah. Er war sehr höflich, fragte, ob er die Kirche besichtigen dürfe, und ob es eventuell etwas Besonderes zu sehen gäbe.«

Max griff nach dem Arm seines Bruders.

»Der hat was mit dem Raub zu tun«, rief er aufgeregt, als habe ihn das Fieber gepackt. »Das spür’ ich. Was war denn weiter?«

»Warte. Der Mann fragte also höflich, und du weißt, ich freue mich über jeden Besucher in unserer Kirche. Natürlich habe ich ihm gestattet, sich umzuschauen, und ich habe ihm auch die Madonna gezeigt.«

Der Priester nickte nachdenklich.

»Und ich denke, ich täusche mich nicht, wenn ich jetzt sage, daß der Mann sich sehr für die Statue interessiert hat. Er wollte alles darüber wissen.«

»Siehst du!« triumphierte Max. »Wir haben eine erste Spur. Überleg’ mal, entweder ist der Kerl der Auftraggeber der Bande, oder er gehört dazu und hat die ganze Sache ausbaldowert.«

»Du könntest recht haben«, stimmte Sebastian Trenker zu. »Immerhin wußten die Diebe genau, wo sie suchen mußten. Schließlich war die Madonna unter dem Bogengang nicht so leicht auszumachen in der Nacht, und weitere Sachen sind nicht gestohlen worden.«

»Du, kannst du den Mann denn nicht noch genauer beschreiben?« wollte Max wissen. »Laß uns doch gleich zu mir ins Büro gehen und eine genaue Täterbeschreibung machen.«

Pfarrer Trenker schaute auf die Uhr von St. Johann.

»Tut mir leid«, sagte er kopfschüttelnd. »Aber ich muß wirklich zum Lärchner.«

Max nickte verstehend.

»Aber heut’ abend dann. Ich komm’ ins Pfarrhaus.«

»Ja, zum Abendessen«, schmunzelte der Geistliche und machte sich auf den Weg.

Manchmal fragte er sich, ob er wirklich der wahre Grund war, warum Max so oft ins Pfarrhaus kam. Waren es nicht viel mehr die Kochkünste von Sophie Tappert?

*

»Schau, Madel, dieses Gerät nennt man Harfe, oder genauer gesagt, Käseharfe.«

Sie standen in der Käserei der Sennerhütte, und Urban Brandner zeigte seiner Enkelin das Werkzeug. Es sah aus wie ein übergroßer, eckiger Tennisschläger, der an einem langen Stiel befestigt war. Urban tauchte ihn in die Milch.

»Damit schneidet man den Käsebruch«, erklärte er.

Seit geraumer Zeit befanden sie sich hier schon, und es schien, als tue sich eine völlig neue Welt für Veronika Seebacher auf. Bisher kannte sie Käse nur von der Theke aus dem Supermarkt, und wenn sie ehrlich war, mußte sie zugeben, daß sie sich nie Gedanken darüber gemacht hatte, wie aus der Milch der Kühe Käse wurde.

»Das macht das Lab«, hatte der Großvater zuvor erklärt und ihr erläutert, wie die Milch erhitzt, mit dem Ferment versetzt und schließlich der Bruch geschnitten wurde.

Anschließend schöpfte er den Käsebruch mit großen Tüchern aus der Wanne und preßte ihn mit ihn bereitstehende Formen. So lernte das Madel alles, was es mit der Herstellung des Käses auf sich hatte, und natürlich ließ Urban Brandner es sich nicht nehmen, ihr seine ›geheimen‹ Rezepte zu verraten, mit denen er das Rohprodukt weiter veredelte.

»Das ist wirklich alles sehr interessant gewesen«, bedankte Veronika sich.

Sie saßen vor dem Haus und ließen sich das Mittagessen schmecken. Die Enkelin staunte nicht schlecht – ihr Großvater war nicht nur ein Käsefachmann, er konnte auch sehr gut kochen.

»Ach weißt, Madel, wenn man allein auf sich gestellt ist, dann lernt man so etwas schnell«, wehrte er bescheiden ihr Lob ab. »Und außerdem kommen oft Wandersleut’ vorbei, die net immer nur Rühreier mit Speck essen wollen.«

Später saß Urban alleine auf der Bank. Er hatte seine Pfeife angezündet und rauchte gemütlich, während er stillvergnügt Veronika beobachtete, die mit den Hunden herumtollte. Immer noch war er von dieser frappierenden Ähnlichkeit verblüfft, die das Madel mit seiner Mutter hatte. Dieselbe Grazie und Anmut. Der alte Senner spürte, daß es feucht wurde in seinen Augen, als er Veronika betrachtete. Und er spürte einen leisen Stich in seinem Herzen, als er einmal den flüchtigen Gedanken hatte, er könne sie wieder verlieren. Aber das durfte niemals geschehen! Er würde alles dransetzen, daß er nicht den gleichen Fehler machte, wie damals, als er Maria für immer verlor.

Er war froh, daß heute keine Wandergäste gekommen waren. Sie hätten nur gestört, und Urban war sich nicht sicher, ob sie nicht vielleicht sogar wieder fortgeschickt hätte. Nun, vielleicht hätte er sich diese Unartigkeit heute verkniffen. Er wußte selber, daß er manchmal unausstehlich sein konnte. Doch vor Veronika wollte er sich benehmen. Schließlich sollte sie einen guten Eindruck von ihm haben – und bei ihm bleiben… so, wie sie es ja gesagt hatte.

Als sie dann am Abend im Schein der Petroleumlampe in der Hütte saßen, holte Urban einen alten Schuhkarton hervor. In ihm bewahrte er etliche Fotografien auf. Zum Karton stellte er eine Flasche Veltliner und zwei Gläser, und dann betrachteten Großvater und Enkelin den ganzen Abend die Bilder und schwelgten in Erinnerungen. Bewegt sahen sie die Fotografien von Maria und Theresa Brandner, Urbans Frau und Veronikas Großmutter an, und so manche Träne floß.

*

Die Abendmesse war gerade vorüber. Langsam leerte sich die Kirche. Pfarrer Trenker stand an der Tür und verabschiedete die Gläubigen. Es war niemand darunter, der von dem Einbruch und dem Raub nicht erschüttert gewesen wäre.

Nachdem der letzte gegangen war, drehte der Geistliche sich um und schritt hinüber zur Sakristei. Unwillkürlich fiel sein Blick auf die Stelle im Bogengang, wo bis gestern noch die Madonna ihren Platz gehabt hatte.

»Eine Schande ist das!« vernahm Sebastian Trenker die Stimme des Mesners. »Eine Sünde und ein Verbrechen an Gott.«

»Der oder die Täter werden die gerechte Strafe bekommen«, sagte der Priester und legte Stola und Soutane ab.

Alois Kammeier, der Mesner von St. Johann, nahm den Meßdienern die Gerätschaften ab und verstaute diese im Regal. Dann beugte er sich verschwörerisch zum Pfarrer hinüber.

»Ich weiß ja net, ob’s stimmt«, sagte er leise, damit die beiden Buben nichts mitbekamen, »aber die Leut’ behaupten, die Anderer hätten etwas damit zu tun.«

Er hob die Schulter.

»Ich weiß es ja net – aber es war von denen auch niemand in der Messe. Auch die Burgl net…«

»So ein Schmarr’n«, schimpfte Sebastian Trenker. »Wer behauptet denn solch einen Blödsinn? Die Polizei verfolgt bereits eine Spur, und die führt gewiß net zu den Anderern! Die Leut’ soll’n sich bloß mit ihren dummen Anschuldigungen zurückhalten!«

Die Anderer waren eine wenig angesehene Tagelöhnerfamilie. Der Alte, Jacob Anderer, war als Raufbold und Trinker verschrien, Walburga, seine Frau, schuftete von früh bis spät, um die Familie über Wasser zu halten, zu der auch noch ein Sohn gehörte. Allerdings war ihr Thomas der Typ, der lieber den Madeln hinterherstieg, als einer vernünftigen Arbeit nachzugehen.

Trotz aller Vorbehalte, die man ihnen gegenüber vielleicht haben mochte, war Sebastian Trenker weit davon entfernt, die Familie des Kirchenraubes zu verdächtigen. Das sagte er auch seinem Bruder, der schon von diesem Gerücht gehört hatte. Max winkte ebenfalls kopfschüttelnd ab.

Sie saßen in der gemütlichen Pfarrhausküche und ließen sich das Abendessen schmecken. In der Aufregung des Tages war das Mittagessen ausgefallen, und so hatte Frau Tappert es kurzerhand wieder aufgewärmt.

»Es schmeckt köstlich«, lobte Pfarrer Trenker seine Haushälterin.

»Wie immer«, fügte Max hinzu und stopfte sich eine Gabel Rotkraut in den Mund.

Sophie Tappert registrierte das Lob, antwortete aber nicht. Sie sprach überhaupt nicht viel. Reden ist Silber – Schweigen ist Gold, war ihre Devise. Wer viele Worte macht, läuft Gefahr, viel Dummes zu schwätzen.

Nein, redefleißig war die Perle des Pfarrhaushaltes wahrlich nicht, und wenn sie überhaupt einmal etwas zu einer Sache zu sagen hatte, dann tat sie es kurz und knapp. Meistens begnügte sie sich mit einem Blick, der, je nachdem, Zustimmung oder Mißbilligung ausdrückte.

»Also, wie gesagt, das mit dem Anderern ist wirklich völliger Unsinn«, bemerkte Max, als sie später bei einem guten Tropfen im Arbeitszimmer des Pfarrers saßen. »Aber dieser Mann, von dem du erzählt hast – der ist interessant. Beschreib’ ihn doch einmal.«

Sebastian kramte in seiner Erinnerung und beschrieb den Mann, so wie er ihn vor sich sah.

»An wen erinnert er mich bloß«, fragte Max und dachte angestrengt nach. »Diese Beschreibung – irgendwo hab’ ich den Kerl schon mal gesehen. Wenn ich nur wüßt’ wo.«

Sebastian schenkte von dem Wein ein.

»Also, wenn er mir gegenüber stände, ich würd’ ihn sofort wiedererkennen. Jetzt, wo ich an ihn denke, kommt er mir gar nicht mehr so sympathisch vor, wie damals.«

Die beiden Brüder saßen noch bis spät in der Nacht und dachten an den Mann, der sich so intensiv die Madonnenstatue angesehen hatte.

»Ich fahr morgen in die Kreisstadt«, sagte Max zum Abschied. »Vielleicht wissen die Kollegen dann schon mehr.

Sebastian nickte und brachte ihn zur Tür. Einen Moment noch stand er dann draußen und atmete die laue Nachtluft ein. Dann ging er in sein Arbeitszimmer zurück und setzte sich nachdenklich an den Schreibtisch.

Zum einen ging ihm natürlich der Kirchenraub nicht aus dem Kopf – was waren das nur für Menschen, die sich zu solchen niedrigen Taten hinreißen ließen! – zum anderen dachte er an den Besuch, den er am Nachmittag auf dem Lärchnerhof gemacht hatte.

Als wäre ein Wunder geschehen, ging es dem Altbauern bedeutend besser, als bei dem letzten Besuch. Sebastian war der Überzeugung, daß dies in erster Linie Toni Wiesinger zu verdanken war. Der junge Arzt hatte sich erst vor kurzer Zeit in Sankt Johann niedergelassen und kämpfte immer noch um seine Anerkennung bei den Dörflern. Viele von ihnen waren der Meinung, wenn einer nicht mindestens graue Haare hatte und gebeugt ging, dann konnte er kein richtiger Doktor sein!

Sebastian und Dr.Wiesinger waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen, und der Geistliche tat alles, den jungen Mann in den ersten Schritten seiner Selbständigkeit zu unterstützen.

Der Erfolg, den der Arzt mit seiner Behandlung des Lärchner-Bauern erzielt hatte, würde hoffentlich sein Ansehen in Sankt Johann stärken. Obwohl – bei seinen Schäfchen war der Geistliche sich da nicht ganz sicher… Der Pfarrer freute sich jedenfalls darauf, den Mediziner beim nächsten Stammtisch wiederzusehen.

*

»Madel, wie dir das alles von der Hand geht«, staunte Urban Brandner.

Mit Freuden schaute er seiner Enkeltochter zu, die, als habe sie ihr Leben lang nichts anderes getan, die Kurbel des Butterfasses drehte.

»Puh, das ist ganz schön schwer«, stöhnte Veronika. »Besonders wenn die Butter anfängt zu klumpen.«

»Nicht wahr?« lachte der alte Senner. »Aber du machst das perfekt. Sollt mal sehen, in ein paar Wochen bist du soweit, dann kann ich mich zur Ruhe setzen.«

Veronika stimmte in das Lachen ein.

»Da muß ich dich enttäuschen, Großvater, so lang’ bleib’ ich net«, antwortete sie. »In drei Tagen ist mein Urlaub zu Ende. Dann muß ich wieder fort.«

Urban schaute sie ungläubig an.

»Fort…?« murmelte er.

»Ja, freilich. Und außerdem – ich glaub’ net, daß der Christian damit einverstanden wäre, wenn ich für den Rest meines Lebens Sennerin spielen wollte.«

»Christian? Welcher Christian?«

Er schaute das Madel verständnislos an.

»Christian Wiltinger, mein Verlobter«, antwortete Veronika und schlug sich plötzlich vor die Stirn.

»Hab’ ich denn gar nichts von ihm erzählt?«

Urban Brander hörte gar nicht mehr zu. Fortgehen würde sie, hatte Veronika gesagt. Fort, genau wie damals Maria. Aber das würde er niemals zulassen. Das Kind wußte ja gar net, was er tat, kannte doch die Gefahren gar net, die da draußen lauerten. Er mußte sie beschützen, jetzt, da er ihr einziger Verwandter war, den sie noch hatte. Er konnte sie doch nicht fortlassen!

»Großvater, hörst du mir überhaupt zu?«

Ihre Stimme riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Da stand sie vor ihm, so zart und zerbrechlich…

»Ja… ja, natürlich«, stammelte er, drehte sich um und schlurfte hinaus.

Draußen setzte er sich auf die Bank und stützte den Kopf in die Hände. Immer wieder hörte er seine Enkelin diesen Satz sagen: »Ich muß wieder fort…«

Aber das konnte doch net richtig sein, dachte Urban Brandner gequält. Er schaute zum Himmel hinauf. Hatte ER es so bestimmt? War dies die Strafe dafür, daß er, Urban, vor so langer Zeit falsch gehandelt hatte?

So mußte es wohl sein. Erst schenkte Gott ihm eine Enkeltochter, dann nahm er sie ihm wieder fort.

Aber das würde er sich net gefallen lassen! Niemand nahm Urban Brandner etwas fort – auch Gott net!

Tränen traten ihm in in die Augen, und um ihn herum schien sich alles zu drehen. Der Alte wischte sich über das Gesicht. Dabei hörte er Veronika drinnen immer noch die Kurbel am Butterfaß drehen. Er war froh, daß sie ihn so, in dieser Verfassung, nicht sah. Benommen stand er auf und holte tief Luft.

Er würde – er mußte verhindern, daß das Madel wieder von ihm ging. Unter allen Umständen! In seinem Kopf reifte ein Plan heran. Ein vager Gedanke zunächst, doch je mehr er darüber nachdachte, um so sicherer war der alte Senner sich.

Drei Tage, hatte Veronika gesagt – dann würde er seinen Plan in die Tat umsetzen.

*

Sepp Reisinger rieb sich die Hände und strahlte. Wie an jedem Samstag abend herrschte Hochbetrieb im ›Goldenen Löwen‹, dem größten Hotel in Sankt Johann. Zum einen waren etliche Touristen abgestiegen, die die Schönheit Sankt Johanns und seiner Umgebung entdeckt hatten, zum anderen fand immer am Wochenende der große Ball auf dem Saal statt, und keiner der Dorfbewohner ließ es sich nehmen, dem Fest beizuwohnen.

Mehr als vierzig Tische standen um die Tanzfläche herum, und auf einer kleinen Bühne hatte die Musikkapelle ihren Platz. Von Walzer bis Polka, jeder Musikwunsch wurde erfüllt. Die Paare drehten sich zu den schmissigen Klängen, und Wein und Bier flossen in Strömen.

Natürlich waren auch hier der schändliche Einbruch und der Madonnenraub das Gesprächsthema des Abends.

Später vermochte niemand mehr zu sagen, wer eigentlich das Gerücht aufgebracht hatte – doch immer wieder war der Name der Familie Anderer im Zusammenhang mit dem Verbrechen zu hören.

Besonders an einem Tisch ging es hoch her. Dort saßen der Sterzinger-Bauer und seine Familie mit denen vom Nachbarhof, den Bachmeiers. Während die Alten sich lautstark über den Kirchendiebstahl erregten, versuchte Anton Bachmeier die Sterzingertochter, Katharina, in ein Gespräch zu verwickeln. Das dunkelbraune Madel schaute gelangweilt zur Tanzfläche hinüber und strafte den jungen Bachmeier mit Nichtachtung.

Schon seit Wochen versuchten die Eltern sie dazu zu bewegen, Antons Frau zu werden. Noch hatte sie es geschafft, sich dem unter fadenscheinigen Ausflüchten zu entziehen, doch heute hatte der Vater ein ernstes Wort mit ihr geredet. Noch länger würde er sich nicht hinhalten lassen, hatte er gesagt. Wenn sie net bald einwilligte, dann würde der Vater sie über ihren Kopf hinweg mit Anton Bachmeier verheiraten!

Kathi seufzte lautlos auf. Was sollte sie bloß tun? Sie konnte Anton net heiraten. Nicht nur, weil sie ihn überhaupt net mochte – ihr Herz gehörte ja längst einem anderen!

Aber, wenn das herauskam… Kathie wagte gar nicht daran zu denken. Dann gab es eine Katastrophe!

»Magst net tanzen?« vernahm sie Antons Stimme, der ihr gegenüber saß.

Sie schaute zur Mutter, die ihr aufmunternd zunickte.

»Ich hab’ schon immer gewußt, daß sie allesamt Taugenichtse und Tagediebe sind«, sagte der alte Sterzinger in diesem Moment. »Es tät mich net wundern, wenn der Thomas der Einbrecher ist.«

Die anderen nickten bestätigend. Alle bis auf Katharina, die von ihrem Stuhl aufgesprungen war.

»Wie kannst du so etwas sagen?« rief sie empört. »Der Thomas ist ein grundanständiger Kerl, der nur etwas Pech im Leben gehabt hat. Aber, darum dürft ihr ihn net gleich einen Verbrecher schimpfen.«

Das Madel hatte so leidenschaftlich gesprochen, daß alle anderen am Tisch sie erstaunt anblickten.

»Was verteidigst du ihn denn so vehement?« argwöhnte ihr Vater auch gleich. »Hast dich gar in ihn verguckt?«

Katharina spürte, wie sie rot wurde, während die Mutter erschrocken das Kreuz schlug. Anton Bachmeier und seine Familie schauten sie verwundert an.

»Hock dich wieder hin!« befahl Joseph Sterzinger seiner Tochter. »Und laß dir ja nur keine Flausen wachsen. Du heiratest den Anton und damit basta!«

Er wandte sich seinem Schwiegersohn in spe zu und hob seine Maß.

»Prost, Anton«, sagte er mit breitem Grinsen. »Du bist mir als Schwiegersohn herzlich willkommen, und net dieser dahergelaufene Habenichts. Und jetzt wollen wir eure Verlobung feiern.«

Während alle anderen ihre Gläser hoben und sich zuprosteten, drehte Katharina sich um und lief hinaus.

Die anderen schauten dem Madel ratlos hinterher.

»Kommt, laß uns trinken«, rief Joseph Sterzinger. »Das renkt sich schon alles ein.«

Er schlug Anton auf die Schulter.

»Und wenn erst die ersten Enkelkinder da sind, dann denkt niemand mehr an heute abend.«

*

Katharina schoß durch die Saaltür und lief Thomas Anderer genau in die Arme.

»Holla, wohin so stürmisch?« rief er lachend und zog sie an sich.

Kathie schluchzte auf und warf sich an seine Brust. Zärtlich strich der Bursche ihr über das Haar. Hier draußen, auf dem langen, schwach beleuchteten Flur waren sie einen Moment alleine.

»Was ist denn geschehen?« fragte Thomas.

Katharina berichtete es ihm mit hastigen Worten.

»Geh«, sagte er. »Warte draußen bei meinem Motorrad. Ich komm’ gleich hinterher.«

Er küßte sie auf den Mund und schob sie fort. Dann strich er sich durch den dunklen Haarschopf, atmete tief durch und öffnete die Saaltür. Mit einem grimmigen Lä­cheln auf den Lippen trat er ein.

Im selben Moment machte die Musikkapelle eine Pause.

Alle Leute sahen auf, als die Tür hinter dem jungen Mann mit einem lauten Knall zufiel.

Langsam schritt Thomas durch den Raum. Er schaute unverschämt gut aus, wie einige Madeln heimlich zugeben mußten. Die dunklen Haare, das freche, hitzköpfige Lächeln in dem markanten Gesicht. Thomas trug ein kariertes Hemd unter der Lederjoppe und dreiviertellange Krachlederne. Die Daumen hatte er hinter den Hosenträgern, vorne an der Brust, verhakt. So schlenderte er über die Tanzfläche, drehte sich im Kreis und hob stolz den Kopf.

»Wer nennt mich einen Dieb?« rief er plötzlich mit schneidender Stimme.

Niemand antwortete.

Thomas ging zu einem der Tische. Die Leute, die daran saßen, wichen unwillkürlich zurück, als er sich zu ihnen beugte.

»Du vielleicht, Hornbacher?«

Der Angesprochene schwieg.

»Oder du? Sterzinger?«

Thomas Anderer hatte sich umgedreht und war direkt an den Tisch gegangen, an dem Kathies Eltern saßen.

»Ja, genau du, Sterzinger-Bauer, du hast mich einen Kirchendieb geschimpft.«

Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Gläser sprangen. Der Bauer antwortete nicht.

»Feiglinge seid ihr, allesamt!« rief Thomas und fegte mit einer Handbewegung den Tisch leer. »Große Töne spucken und net das Maul aufmachen, wenn’s zur Sache geht.«

Er war so in Rage, daß er nicht bemerkte, daß in seinem Rücken ein paar Burschen aufsprangen und langsam näherschlichen. Anton Bachmeier war ebenfalls aufgestanden. Mit einer energischen Bewegung stieß er den Stuhl um, auf dem er gesessen hatte.

»Jetzt ist’s genug, Anderer!« schrie er und ballte beide Hände zu Fäusten.

Dabei flackerten seine Augen böse und sahen in die Richtung, aus der drei Burschen heranschlichen. Thomas Anderer deutete den Blick richtig und drehte sich blitzschnell um. Im selben Moment stürzten sie sich auf ihn. Binnen weniger Sekunden waren sie ein einziges Knäuel, das sich unter dem Gejohle der anderen auf dem Boden wälzte, während Sepp Reisinger eiligst die Gläser und Krüge vom Tresen räumte und in Sicherheit brachte.

Thomas steckte tüchtig ein, aber er teilte auch kräftig aus. Zwei Gegner hatte er zu Boden gestreckt, mit dem dritten rang er keuchend um die Oberhand. Anton Bachmeier umtanzte die Kämpfenden, in der Hand einen Maßkrug, mit dem er zuschlagen wollte.

Thomas Anderer lag auf dem Rücken, und der andere, es war der Wolfgang Herbichler, kniete auf seiner Brust und drückte mit der rechten Hand gegen Thomas’ Hals. Der keuchte und rang nach Luft, und einen Moment wurde es rot und schwarz vor seinen Augen. Es krachte und splitterte, als Anton Bachmeier zuschlug und, gottlob, nur den Fußboden traf.

Mit einer Hand stieß Thomas den Herbichler vor die Brust und erreichte so, daß er den Griff um den Hals lockerte, mit der anderen ergriff er Antons Handgelenk. Der hielt immer noch eine Scherbe des Krugs und kam damit Thomas’ Gesicht gefährlich nahe.

Mit seiner letzten Willenskraft warf Thomas sich zur Seite und entging so dem vielleicht tödlichen Stoß. Gleichzeitig rutschte Wolfgang Herbichler von ihm herunter. Wutentbrannt über diesen gemeinen Überfall schlug Thomas blindlings zu. Es war ihm egal, wen und wohin er traf. Die anderen Männer und Burschen waren ebenfalls aufgesprungen und stürzten sich in das Getümmel. Beinahe hätten sie Thomas wieder am Boden gehabt. Mit einem lauten Schrei, Hände und Füße gebrauchend, befreite er sich schließlich und lief zum Ausgang.

Irgend jemand hetzte hinter ihm her. Noch bevor er die Tür erreichte, riß dieser an seiner Joppe. Thomas drehte sich um und schaute in Anton Bachmeiers Gesicht. Mit aller Wucht schlug Thomas zu. Anton taumelte und fiel mit dem Hinterkopf gegen den Türpfosten. Eine Sekunde riß er die Augen auf, dann rutschte er langsam zu Boden. Auf dem Weiß der Wand zeichnete sich eine blutige Spur ab.

Thomas war erschrocken, als er das Blut sah. Die anderen auf dem Saal schwiegen gelähmt, bis jemand seine Stimme wiederfand.

»Holt den Doktor!« rief er. »Doktor Wiesinger.«

Endlich erwachte die Menge aus ihrer Lethargie. Die Leute sahen Anton auf dem Boden liegen, und sie sahen das Blut.

»Mörder!« schrie jemand, und dieser Ruf holte Thomas in die Wirklichkeit zurück.

»Mörder, Mörder«, riefen jetzt auch die anderen. »Haltet ihn fest!«

Thomas wandte sich um und schaute sie entsetzt an.

»Aber… ich… das hab’ ich doch net gewollt…«, stammelte er.

Er riß die Tür auf und rannte davon. Hinter sich hörte er den empörten Aufschrei der Leute.

*

Sebastian Trenker lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück. Vor ihm, auf dem Schreibtisch, lag der Text für die Predigt am morgigen Sonntag. Der Geistliche nahm einen letzten Schluck aus der Teetasse, die Sophie Tappert ihm vor ein paar Minuten gebracht hatte, und klappte das schwarze Buch zu, in das er immer seine Texte eintrug.

Dann stand er auf, ging zu dem breiten Bücherregal hinüber und nahm einen großen Bildband heraus. Es waren herrliche Fotografien von den größten und schönsten Bergen darin. Am Einband konnte man erkennen, daß Sebastian gern und oft darin blätterte. Bevor er sich wieder setzte, öffnete er das Fenster. Laue Sommerluft wehte herein, und von drüben hörte man die Geräusche aus dem Hotel, wo der Ball stattfand.

Sebastian gönnte seinen Schäfchen dieses Vergnügen von Herzen, wußte er doch, wie hart sie die Woche über arbeiteten. Manchmal nahm er selber daran teil. Doch heute hatte er darauf verzichtet. Immer noch beschäftigte ihn der Raub der Madonna, der auch Inhalt seiner Predigt sein würde, und jetzt wollte er einfach versuchen, sich noch ein wenig abzulenken, bis Max kam. Der Dorfpolizist war in Sachen Kirchenraub unterwegs und befragte Sebastians Amtskollegen in Engelsbach und Waldeck nach dem geheimnisvollen Besucher, den Sebastian so genau beschrieben hatte. Max wollte der Frage nachgehen, ob der Mann die beiden Kirchen ebenfalls vor dem Raub dort besucht hatte.

Pfarrer Trenker wollte sich eben wieder setzen, als er eilige Schritte vernahm, die sich auf dem Pflaster schnell entfernten. Wenig später klingelte es an der Tür. Sebastian öffnete selber, Frau Tappert saß in der kleinen Wohnung im ersten Stock vor dem Fernsehgerät. Wahrscheinlich hörte sie das Klingeln gar nicht.

Vor der Tür stand ein junger Bursche aus dem Dorf.

»Hochwürden, kommen S’ schnell«, japste er. »Drüben, im Wirtshaus – der Anton, er ist tot. Eine Schlägerei mit dem Anderer-Thomas…«

Sebastian reimte sich den Rest zusammen und drängte den Burschen hinaus. Gleichzeitig griff er nach seinem Sakko, das an der Garderobe hing, und eilte hinterher.

»Ist der Doktor verständigt?« fragte er im Laufen.

»Ich glaub’ schon. Ja, bestimmt ist er schon da.«

Auf dem Saal herrschte Totenstille, als Sebastian eintraf. Der alte Bachmeier hielt tröstend seine Frau in den Armen, während der junge Doktor Wiesinger am Boden kniete und sich um Anton kümmerte.

Als Pfarrer Trenker eintrat, sah der Arzt kurz auf. Sebastian kniete sich neben ihn und sah auf Anton, der bleich und mit geschlossenen Augen am Boden lag. Unter seinem Kopf hatte sich eine kleine Lache Blut gebildet. Aber der Pfarrer konnte sehen, daß er noch atmete.

»Wie sieht es aus, Doktor, wird er es überleben?«

»Grüß Gott, Hochwürden«, antwortete Toni Wiesinger und nickte. »Ja. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Anton ist halt unglücklich gegen die Wand gestoßen. Aber die Blutung ist gestillt. Wir schaffen ihn jetzt in die Praxis, dort werde ich die Wunde nähen, und in ein paar Tagen ist alles vergessen.«

Er schaute in die Runde.

»Von Mord kann also net die Rede sein«, sagte er vernehmlich. »Höchstens von Körperverletzung. Aber das ist net meine Angelegenheit.«

Er wandte sich an ein paar junge Burschen.

»Los, packt mit an«, befahl er. »Aber vorsichtig!«

»Kann mir mal einer erklären, was hier geschehen ist?« verlangte Sebastian Trenker. »Wie kam es zu dieser Schlägerei?«

Unzählige Stimmen prasselten auf ihn ein. Der Pfarrer hob die Arme.

»Um Himmels willen, doch net alle durcheinander. Also, Bachmeier, es ist dein Sohn, was ist passiert?«

Der Bauer berichtete, und die anderen nickten zustimmend. So ganz mochte Sebastian nicht glauben, was der Alte da über Thomas Anderers Schuld an dem Geschehen erzählte, aber er konnte sich ein ungefähres Bild machen.

»Wir wollen hoffen, daß der Anton wieder ganz gesund wird, und daß der Thomas sich seiner Verantwortung net entzieht«, sagte er. »Allerdings bin ich ganz entschieden dagegen, daß hier jemand verurteilt wird, dessen Schuld net einwandfrei erwiesen ist.«

Er schaute in die Gesichter der Leute, die ihn betreten anblickten.

»Vielleicht solltet ihr für heut’ Schluß machen«, schlug er vor. »Die Stimmung ist eh’ dahin.«

Damit wandte er sich um und ging. Er sah aber nicht, daß sich in einer Ecke ein paar Burschen zusammentaten und verschwörerisch miteinander tuschelten.

*

Thomas rannte, als ginge es um sein Leben. Das Motorrad hatte er gegenüber vom Hotel abgestellt. Im Schein der Laterne daneben, sah er Katharina stehen und auf ihn warten. Gleich, als Thomas so gehetzt herausstürmte, ahnte das Madel, daß etwas Schlimmes geschehen war.

Der Bursche schwang sich auf die Maschine und warf sie an.

»Madel, du mußt dich entscheiden«, rief er durch den Motorenlärm. »Entweder kommst’ mit mir oder… oder es ist alles aus.«

Auffordernd sah er sie an. Katharina wurde ganz schwindelig. Wie sollte sie sich nur entscheiden. Sie schaute zum Hotel hin­über. Dort drinnen waren ihre Eltern – und dort drinnen wartete ein Leben an der Seite Anton Bachmeiers.

Kathie zögerte nicht länger und setzte sich hinter Thomas auf das Motorrad. Ganz eng schlang sie die Arme um seine Brust und schmiegte sich an ihn. Thomas gab Gas und sie fuhren davon, als die Hoteltür aufging und ein paar Männer hinausstürmen.

Einer holte Doktor Wiesinger, ein anderer lief zum Pfarrhaus hinüber, um Pfarrer Trenker zu alarmieren, die anderen suchten Thomas Anderer, doch der brauste, Katharina Sterzinger auf dem Sozius, durch die Nacht.

Er wußte eigentlich gar nicht, wohin er sich wenden sollte. Nach Hause konnte er nicht, dort würden sie ihn zuerst suchen. Blieb nur eine Möglicheit. Thomas kannte eine abgelegene Holzhütte, droben am Höllenbruch, einem unwegsamen Waldstück, in dem er schon etliche Male heimlich Holz geschlagen und Fallen gestellt hatte. Dort würde man ihn vielleicht vorerst nicht vermuten, und er war für einige Zeit in Sicherheit und konnte sich überlegen, was er nun tun sollte.

Natürlich würde er weiter fliehen müssen, eventuell sogar ins Ausland. Hier konnte er ja net bleiben, nach allem, was geschehen war. Herr im Himmel, hilf,

ich hab’ ihn doch net umbringen wollen, diesen Hirsch, diesen dammischen! Warum mußte er auch versuchen, mich aufzuhalten?

All diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während sie durch die Nacht fuhren. Schließlich erreichte er eine Stelle, wo es mit dem Motorrad nicht mehr weiterging. Er hielt an, und sie versteckten die Maschine im Unterholz und tarnten sie mit Reiser und Blattwerk, daß sie nicht mehr zu sehen war. Dann nahm Thomas Kathie bei der Hand und sie stiegen auf.

Endlich hielt das Madel es nicht mehr aus und faßte sich ein Herz.

»Thomas, willst mir net sagen, was im Gasthaus geschehen ist?« fragte sie.

Beide waren stehengeblieben. Es war ein kaum befestigter Weg, auf dem sie unterwegs waren. Silbern hell leuchtete der Mond durch die Tannen und strahlte auf ihre Gesichter.

Thomas berichtete in knappen Worten, was geschehen war und warum er fliehen mußte. Entsetzen zeichnete sich auf Kathies Gesicht ab, als sie das hörte.

»Glaub’ mir, Madel, ich hab’s net gewollt«, sagte Thomas mit rauher Stimme. »Ich würd’ alles drum geben, wenn ich’s ungeschehen machen könnt’.«

»Aber… was sollen wir denn jetzt machen?« fragte Kathie. »Wohin sollen wir denn? Sie werden dich doch überall suchen.«

Thomas zeigte zum Höllenbruch hinauf.

»Dort oben net«, sagte er. »Erstmal sind wir dort sicher.«

Er schaute sie eindringlich an.

»Was ist, Madel, hast dich entschieden?« wollte er wissen. »Kannst du dir vorstellen, dein Leben mit einem Mörder zu teilen?«

Kathie hörte deutlich die Bitterkeit, die in diesen Worten mitschwang.

»Ich kann dich verstehen, wenn du lieber umkehren willst«, fuhr Thomas fort. »Ich gebe dich frei, wenn du es willst.«

Katharina schaute in sein Gesicht. Nein, das war nie und nimmer das Gesicht eines Mörders! Sie erinnerte sich an den Augenblick, in dem ihr zum ersten Mal bewußt wurde, daß sie Thomas Anderer liebte. Auf der Kirchweih war es geschehen. Thomas hatte mit dem Luftgewehr einen Preis nach dem anderen geschossen, so daß der Besitzer der Schießbude schon ganz ärgerlich wurde. Den größten Preis – einen riesigen Teddybären – hatte er ihr geschenkt.

Mit ein paar Freundinnen war sie dort gewesen und hatte zugeschaut. Thomas drehte sich um und sah sie lächelnd an. Sie kannten sich bisher nur vom Sehen, und Kathie wußte über ihn nur, was alle im Dorf redeten, daß er ein Taugenichts und Tagedieb sei. Aber, als er da so vor ihr stand, den übergroßen Bären in den Händen, und sie anlächelte, da spürte Kathie ihr junges Herz wie wild klopfen.

»Für dich«, sagte Thomas und drückte ihr das Plüschtier einfach in die Hände.

Später sahen sie sich wieder, tanzten sogar in dem Festzelt, und noch später gab er ihr den ersten, heimlichen Kuß. Im Mondschein geschah es, genauwie jetzt.

»Ich weiß, was die Leut’ über meine Familie und mich reden«, sagte Thomas. »Aber für dich, Madel, hätt’ ich mich geändert. Eine Arbeit hätt’ ich mir gesucht, daß wir heiraten können, und ich würd schon für dich sorgen.«

Er schluckte schwer, und auch Kathie spürte einen dicken Kloß in ihrem Hals.

»Du bist kein Mörder, Thomas«, rief Katharina leidenschaftlich. »Es war ein Unfall, und was immer geschieht – ich gehöre zu dir. Nichts und niemand kann uns trennen!«

Wild und ungestüm riß er sie in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

»Komm«, sagte er dann und zog sie mit sich.

Zum Höllenbruch hinauf.

*

Sebastian Trenker und Max saßen im Wohnzimmer des Pfarrhauses. Der Polizeibeamte war eben von den Besuchen bei den Amtskollegen seines Bruders zurückgekommen und schüttelte ungläubig den Kopf, als er hörte, was sich auf dem samstäglichen Ball abgespielt hatte. Natürlich würde er die Sache weiterverfolgen, zumal der alte Bachmeier angekündigt hatte, Anzeige erstatten zu wollen.

Wegen versuchten Mordes!

Gottlob ging es Anton Bachmeier schon wieder besser, wie ein Anruf bei Dr. Wiesinger erbrachte.

»Sind die denn alle narrisch geworden?« schimpfte der junge Polizist. »Hau’n sich die Schädel ein!«

Dabei schielte er auf den Teller mit belegten Broten, den Sophie Tappert auf den Tisch gestellt hatte. Es waren köstliche garnierte Schnitten, mit kaltem Braten, Schinken und Käse. Ein kühles Bier hatte sie ebenfalls dazugestellt.

»Greif schon zu«, forderte der Pfarrer seinen Bruder auf.

Sebastian meinte dann, daß er wohl noch etwas an seiner morgigen Predigt ändern müsse und kam dann auf den Diebstahl der Madonnenfigur zu sprechen.

»Hast du denn etwas von meinen Amtsbrüdern erfahren können?«

Maximilian Trenker kaute und nickte.

»Stell dir vor, sowohl in Engelsbach, als auch in Waldeck ist der Mann aufgetaucht. Pfarrer Bernhard und Pfarrer Buchinger haben beide exakt denselben Mann beschrieben, wie du. Gleich Montag früh rufe ich bei den Kollegen von der Kriminalpolizei an und lasse mir Bilder von all denen schicken, die wegen solcher Delikte vorbestraft sind. Vielleicht ist unser Mann ja darunter.«

»Gebe es Gott.«

Er schenkte seinem Bruder das Bier ein.

»Wie geht es denn jetzt mit dem Thomas weiter?« kam er dann auf das leidige Thema zu­rück.

Max zuckte die Schulter.

»Ich werd’ ihn vorladen, und dann kann er zur Sache aussagen oder auch net. Jedenfalls muß ich den Fall dann an die Kriminalpolizei weiterleiten, die wiederum die Staatsanwaltschaft einschaltet.«

Er trank einen Schluck.

»Es ist schon ärgerlich, daß so etwas Dummes geschehen mußte«, meinte er dann.

Sebastian konnte ihm nur zustimmen.

*

Der Saal vom ›Goldenen Lö­wen‹ war wie leergefegt. Nach dem Unfall mit Anton Bachmeier war den Leuten die Lust auf Musik und Tanz vergangen. Allerdings standen noch etliche im Gast­raum und erhoben ihre Stimmen. Es ging ziemlich laut her, und der einstimmige Tenor war, daß man mit diesem Pack aufräumen müsse.

Namentlich Wolfgang Herbichler war es, der die Stimmung aufheizte.

»Wir sollten ihn uns holen«, rief er. »Und dann zeigen wir ihm, wie wir mit seinesgleichen umgehen!«

Beifall wurde laut, und Stimmen, die seiner Meinung waren.

»Jawohl, wir dürfen uns net alles gefallen lassen!«

Und dann wurde schwadroniert, wessen sich die Anderer schon alles schuldig gemacht hätten, Holzdiebstahl, Wilderei, Einbruch, Kirchenraub und jetzt sogar versuchter Mord – das Maß war voll!

Schnell hatte sich eine Gruppe zusammengefunden, und Wolfgang Herbichler wurde ihr Anführer. Unter lautem Gejohle zogen sie los.

Die Anderer bewohnten ein altes, baufälliges Tagelöhnerhaus, das am Rande von Sankt Johann stand.

Niemand wußte so recht, wem es eigentlich gehörte, und so war es auch jedem egal, daß die Familie darin hauste. Die Männer hämmerten gegen die Tür, die bedrohlich lose in den Angeln hing und jeden Moment herauszufallen schien. Sie riefen Thomas’ Namen und schrien und pfiffen durcheinander.

Nach einer kurzen Weile zeigte sich ein Gesicht in der Tür. Es war Walburga Anderer, Thomas’ Mutter. Abgearbeitet und verhärmt schaute sie aus. Ängstlich sah sie die aufgebrachten Männer an.

»Was wollt ihr denn?« fragte sie. »Was soll der Lärm?«

»Deinen Sohn wollen wir«, rief der Herbichler.

»Der Thomas ist net daheim«, antwortete die Frau.

Sie fürchtete sich vor den Männern, denn auch Jakob, ihr Mann, war nicht zu Hause. Burgl Anderer wußte nicht, was geschehen war, sie sah nur die Männer und fürchtete sich vor ihnen.

»Geh’, wir schauen selber nach«, sagte der Anführer der Horde und stieß die Frau beiseite.

Ohne um Erlaubnis zu fragen, drangen sie in die Tagelöhnerhütte ein und stellten dort alles auf den Kopf. Thomas fanden sie freilich nicht.

»Wo kann er sein? Wo kann der Kerl sich versteckt haben?«

Vermutungen wurden laut, hier oder dort, wer konnte es sagen?

Schließlich fiel das Wort Höllenbruch, und irgend jemand wußte auch von der Hütte, die es dort oben gab.

Zwei, drei Autos wurden organisiert, und dann fuhren sie los. Nur einer blieb zurück. Langsam wurde sein Kopf wieder klar, und Martin Burger wurde bewußt, daß die Männer im Begriff waren, einen großen Fehler zu machen. Er sah ihnen hinterher, als sie losfuhren, dann lief er, so schnell er konnte, zur Kirche.

Wenn da noch einer helfen konnte, dann Pfarrer Trenker!

Noch schneller, als Thomas es geglaubt hatte, fanden sie ihn und Kathie in ihrem Versteck.

»Schämst du dich net, Madel«, fuhr einer der Männer Kathie an, »dein Verlobter ringt mit dem Tode, und du tust dich mit seinem Mörder zusammen!«

Katharina rang hilflos die Hände. Ohne eingreifen zu können, mußte sie zusehen, wie die Männer Thomas in Stricke legten und ihn dabei mit Tritten und Hieben traktierten.

So zerrten sie ihn den Weg hinunter, zu der Stelle, wo sie die Autos abgestellt hatten.

Sie wollten den Gefesselten eben in einen der Wagen stoßen, als zwei Autoscheinwerfer aufflammten. In ihrer Aufruhr hatten die Männer gar nicht bemerkt, daß noch ein Auto mehr dastand.«

»Was, in aller Welt, ist bloß in euch gefahren?« vernahmen sie die Stimme ihres Pfarrers.

Sebastian Trenker stieg aus dem Fahrzeug und ging auf die Gruppe zu. Er zog den Strick von Thomas’ Handgelenken.

»Ihr seid ja dümmer, als die Polizei erlaubt«, sagte Max kopfschüttelnd, der ebenfalls ausgestiegen war.

Pfarrer Trenker sah von einem zum anderen, und ihre Köpfe senkten sich unter diesem Blick.

»Wir wollten bloß, daß der Dieb und Mörder seiner gerechten Strafe zugeführt wird«, sagte Wolfgang Herbichler kleinlaut.

»Das ist die Sache der Polizei«, fuhr Max ihn an. »Was ihr da macht, ist Freiheitsberaubung, und das ist strafbar. Ich werd’ euch alle anzeigen.«

Sebastian Trenker hob beinahe hilflos die Hände.

»Was soll ich bloß mit euch anfangen«, sagte er dann

»Selbstjustiz ist das Schlimmste, was man sich denken kann. Sie ist der Anfang von Anarchie und der Untergang von Recht und Gesetz. Wir alle können uns glücklich schätzen, daß wir in einer Demokratie leben, in der auch der Grundsatz gilt, daß niemand für etwas bestraft werden darf, bevor nicht seine Schuld einwandfrei bewiesen ist.«

Er dachte an Martin Burger und war dem Burschen dankbar, daß er ihn und Max rechtzeitig alarmiert hatte.

Rechtzeitig, bevor Schlimmeres geschehen war.

»Ihr könnt euch bei einem eurer Spezie bedanken, daß wir euch von etwas abhalten konnten, das ihr morgen vielleicht schon bereut hättet«, sagte er dann. »Und jetzt seht zu, daß ihr nach Hause kommt.«

Betroffen setzten sich die Männer in die Wagen und fuhren ab. Sebastian und Max Trenker sahen ihnen hinterher. Dann wandten sie sich an Thomas und Katharina, die, eng umschlungen, beiseite standen.

»Also, Thomas, erst mal laß dir gesagt sein, daß der Anton lebt. Er ist zwar verletzt, aber du bist kein Mörder, wie du vielleicht geglaubt hast«, teilte Sebastian ihnen mit.

Thomas atmete erleichtert auf, und das Madel drückte sich an ihn.

»Trotzdem kannst du dich in dieser Sache noch auf etwas gefaßt machen«, warf Max ein. »Der alte Bachmeier hat Anzeige gegen dich erstattet, und du kommst zumindest wegen Körperverletzung dran.«

Er hob die Hände, als Thomas protestieren wollte.

»Wer weiß, vielleicht erkennt der Richter auf Notwehr, und es wird halb so schlimm«, fuhr er fort. »Jedenfalls kommst’ am Montag in mein Büro, dann nehmen wir ein Protokoll auf.«

Thomas nickte und schaute dann Sebastian an.

»Danke, Hochwürden«, sagte er leise.

»Schon gut«, antwortete Sebastian Trenker. »Allerdings würd’ ich mir wünschen, dich öfter mal und unter anderen Umständen zu treffen. In der Kirche nämlich.«

Thomas nickte.

»Ich weiß, ich bin gewiß kein eifriger Kirchgänger.«

Er schaute auf Kathie, die er immer noch in den Armen hielt.

»Aber, das wird sich ändern«, meinte er dann. »So wie sich vieles ändern wird.«

»Ihr mögt euch wohl sehr, was, ihr beiden?«

Beide strahlten den Pfarrer an.

»Ja, Hochwürden, und wir wollen heiraten. Ich werd’ mir eine Arbeit suchen, und dann wird alles anders sein!«

Sebastian Trenker zog hörbar die Luft ein.

»Aber, bevor es soweit ist, wird es noch einen harten Kampf geben«, prophezeite er.

Katharina seufzte. Sie wußte, was der Pfarrer meinte.

»Können Sie net… ich meine, wenn Sie mit Vater reden, vielleicht hat er dann ein Einsehen.«

Der Geistliche nickte ihnen aufmunternd zu.

»Ich will sehen, was sich machen läßt«, meinte er dann und klatschte in die Hände. »So, nun laßt uns aber von hier fortkommen.«

*

Natürlich war auf dem Sterzingerhof noch alles in heller Aufregung, die schließlich Erleichterung Platz machte, als Pfarrer Trenker Kathie nach Hause brachte. Für ein klärendes Gespräch mit dem Bauern war es schon zu spät, doch konnte Sebastian ihm das Versprechen abringen, Kathie für ihr Verschwinden nicht zu strafen. Brummend willigte Joseph Sterzinger ein und verschwand in seiner Kammer.

Das Madel bedankte sich noch einmal, und Sebastian versprach, in den nächsten Tagen vorbeizuschauen und mit dem Vater zu reden.

Max fuhr zurück. An der Kirche setzte er den Bruder ab. Es war schon beinahe Morgen, und die ersten Strahlen der Sonne krochen hinter einem Wolkenschleier hervor.

»Schlaf gut«, sagte der Gendarm zum Abschied.

Der Geistliche winkte ihm hinterher und ging dann langsam zur Kirche hinüber. Sebastian schloß auf und trat ein. Eine Weile stand er unter dem Bogengang, wo die Madonna ihren Platz gehabt hatte.

Dann setzte er sich auf eine Bank in der ersten Reihe und schaute nachdenklich auf das Kreuz mit dem Erlöser, das über dem Altar hing. Seine Gedanken wanderten in die Ferne, während er eigentlich an seine Gemeinde denken wollte, und über das, was er ihnen morgen, nein, heute – es war ja schon Sonntag – sagen wollte.

Das Bild der Berge tat sich vor ihm auf. Die geliebten Gipfel, die zu erklimmen sein höchstes Glück war. Frei und unbeschwert fühlte er sich dann, und es schien, als wäre ihm Gott nie so nahe, wie in solchen Momenten. Er mußte unbedingt wieder hinauf. Es war eine Leidenschaft, der er wohl bis an sein Lebensende frönen würde – so es seine Gesundheit zuließ. Aber damit hatte er ja auch, Gott sei’s gedankt, keine Probleme. Sportlich war er immer aktiv gewesen, und seine regelmäßigen Touren waren das beste Training.

Sebastian wußte um die Leute, die sich manchmal deswegen ihre Späße erlaubten. »Bergpfarrer« nannten sie ihn dann scherzhaft, und er lächelte über diesen gutgemeinten Spott. Schließlich waren sie seine besten Freunde.

Der Pfarrer verrichtete eine kurze Andacht und bezog Anton Bachmeier in das Gebet mit ein. Dann ging er in das Pfarrhaus hinüber und legte sich schlafen.

Es war ein kurzer unruhiger Schlaf, und als derWecker klingelte, hatte Sebastian das Gefühl, gerade eben erst die Augen zugemacht zu haben.

*

»Weißt’, Großvater, ich arbeite in einer Bank«, erklärte Veronika Seebacher dem alten Mann. »Die würden ganz schön dumm gucken, wenn ich übermorgen net zur Arbeit käme.«

»So, in einer Bank.«

»Ja, und der Christian – mein Verlobter, Christian Wiltinger, ich hab’ dir doch von ihm erzählt – arbeitet auch dort. Wir wollen bald heiraten.«

Das Madel legte den Arm um ihn.

»Das wird der schönste Tag in meinem Leben«, sagte sie. »Und weißt du auch warum? Weil du dabeisein wirst. Ich hab’ doch nur dich, als einzigen Verwandten auf der Welt.«

Urban Brandner antwortete nicht. Was hatte das Madel bloß für Flausen im Kopf! Heiraten – dazu war es doch noch viel zu jung!

»Der Christian ist ein tüchtiger und fleißiger Mann. Er leitet die Bankfiliale.«

Vroni, wie der Alte inzwischen seine Enkeltochter nannte, versuchte ihrem Großvater begreiflich zu machen, daß sie heute wieder abreisen würde, aber sie hatte den Eindruck, daß der Mann sie nicht verstand. Seufzend stand sie auf und ging in die Hütte.

»Ich pack’ jetzt meinen Rucksack, und dann tät’s mich freuen, wenn du mich noch ein Stückerl bringst.«

Urban antwortete nicht. Die beiden Hunde wachten bei den Kühen, die Milch war zu Butter und Käse verarbeitet worden, und alles schien wie immer zu sein. Doch der Alte wußte, daß es nicht so war.

Die Vroni wollte ihn verlassen, so, wie seine Tochter ihn vor mehr als zwanzig Jahren verlassen hatte. Und was hatte sie davon gehabt, die Maria? Kein leichtes Leben, wie das Madel erzählte, Arbeit, Müh’ und Plag’. Witwe war sie geworden und dann wurd’ sie krank und ist gestorben.

Das alles hätt’ nicht sein müssen, dachte Urban. Wäre sie geblieben, hier droben wär’s ihr besser gegangen. Und nun war Marias Tochter im Begriff, denselben Fehler zu tun.

Konnte er da so einfach tatenlos zusehen? Mußte er nicht verhindern, daß das Madel in sein Unglück rannte?

Er stand auf und folgte Veronika in die Hütte. Hinter seiner Schlafkammer hatte er schon alles vorbereitet. Da gab es einen Verschlag. Immer wenn die Maria net folgsam war, dann hatte Urban seine Tochter dort drinnen eingesperrt. Damals hatte es gewirkt – warum also net auch heut’?

Veronika folgte ihrem Großvater ahnungslos, als der ihr erklärte, sie solle mitkommen, er müsse ihr etwas zeigen.

In seiner Kammer stieß Urban Brandner die junge Frau mit sanfter Gewalt in den Verschlag, in dem sonst allerlei Gerümpel stand, das nicht mehr gebraucht wurde. Urban hatte vorsorglich alles ausgeräumt, als sein Plan, das Madel nicht mehr fort zu lassen, Gestalt annahm. Es war zwar ein wenig eng darin, aber es gab mit Stroh gefüllte Säcke, auf denen man es sich einigermaßen bequem machen konnte.

Veronika verstand die Welt nicht mehr, als der Alte die Tür – es war mehr eine Klappe, die mit einem Schnappschloß von außen gesichert war, hinter ihr zuschlug.

Seltsam vor sich hin kichernd ging der alte Senner nach draußen, ohne auf die Protestrufe seiner Enkeltochter zu hören.

Eine Nacht in dem Verschlag und das Kind würde seine Meinung ändern, dachte er. So war’s auch schon bei der Maria gewesen

*

»Der Mann heißt Egon Rohlinger. Er ist wegen einschlägiger Delikte bekannt«, erklärte Max Trenker und tippte auf das Foto eines Mannes, das er seinem Bruder vorgelegt hatte.

Pfarrer Trenker erkannte darauf eindeutig den Besucher von St. Johann, der sich seinerzeit so sehr für die Madonna interessiert hatte.

»Er ist der Kopf einer Bande von Kirchenräubern, die durch ganz Bayern zieht und immer wieder in Kirchen und Klöster einbricht. Rohlinger hat internationale Kontakte. Die sakralen Kunstgegenstände werden bis nach Asien und Amerika verkauft.«

»Hoffentlich findet sich die Madonna wieder ein«, sagte Sebastian.

»Keine Sorge«, antwortete sein Bruder. »Der Kollege von der Kripo meint, daß da wohl noch ein paar Raubzüge geplant gewesen sind, bevor die Bande sich dann für ein paar Monate ins Ausland absetzen will. Jetzt wird erst mal die letzte bekannte Adresse von Rohlinger überprüft, und dann schlagen die Kollegen zu.«

Während er berichtete, schaute der Polizeibeamte immer wieder zur Tür hinüber. Pfarrer Trenker deutete den Blick richtig.

»Frau Tappert wird uns gleich rufen«, sagte er.

Und richtig. Im selben Moment wurde die Tür geöffnet und die Haushälterin schaute herein.

»Es ist aufgedeckt, Hochwürden.«

»Danke, Frau Tappert. Wir kommen.«

Sie nahmen in der Küche, auf der Eckbank, Platz. Sophie Tappert hatte ein einfaches Mittagsmahl zubereitet – einen bunten Gemüseeintopf. Max leckte sich die Lippen, als stände der feinste Gänsebraten auf dem Tisch. Er wußte ja – alles, was die Perle des Pfarrhaushaltes kochte, schmeckte köstlich!

Sebastian war es ja gewohnt, daß seine Haushälterin wenig sagte, aber daß sie heute so gar nichts von sich gab, wo sie sich doch zumindest an den Tischgesprächen beteiligte, gab ihm doch zu denken. Und er bemerkte den Blick, mit dem seine Perle Max betrachtete.

Ein stiller Vorwurf war deutlich darin zu lesen.

»Sagen S’, Frau Tappert, ist irgend was?« fragte der Geistliche, nachdem er das Essen gesegnet hatte. »Ich sehe Ihnen doch an der Nasenspitze an, daß es da was gibt.«

Die Haushälterin schüttelte den Kopf.

»Nein, eigentlich net…«, erwiderte sie vage.

»Nun kommen S’ schon. Heraus mit der Sprache«, forderte der Pfarrer sie auf.

Sophie Tappert legte ihren Löffel in den halbvollen Teller und sah zu Max hinüber.

»Es ist wegen der Franzi«, sagte sie schließlich. »Franziska Burgmüller.«

»Was ist mit ihr?« fragte Sebastian.

»Sie war heut’ bei mir und hat mir ihr Herz ausgeschüttet. Sie sollten sich schämen, Maximilian Trenker. Erst brechen Sie dem Madel das Herz, und dann lassen Sie’s links liegen.«

Max hatte sich unwillkürlich geduckt, als die Worte auf ihn herniederprasselten. Jetzt sah ihn auch sein Bruder strafend an.

»Max, Max«, sagte er kopfschüttelnd. »Es wird noch mal ein schlimmes Ende nehmen.«

Maximilian Trenker war wieder einmal seinem Ruf gerecht geworden. ›Ich brech die Herzen der stolzesten Frauen…‹ war sein Lieblingslied, und wo immer Spaß und Gaudi waren, war auch Max zu finden. Seinem Charme konnte kaum eine widerstehen. Brach die Verflossene dann in Tränen aus, weil’s vorbei war, konnte der Herzensbrecher so lieb schauen, daß ihm niemand mehr bös’ sein konnte.

Auch Sophie Tappert net.

»Ich werd’ für Sie beten«, sagte die Haushälterin und stand auf.

»Dank’ schön«, antwortete Max verdutzt.

Die Frau war schon an der Tür.

»Und dafür, daß es eines Tages die Theresa Keunhofer sein wird, die Sie zum Traualtar führen«, rief sie im Hinausgehen.

Max erschauderte, während sein Bruder sich köstlich amüsierte – Theresa war ein altjüngferliches Fräulein, das mit aller Macht auf der Suche nach einem Mann war – der Schrecken der männlichen Jugend in Sankt Johann. Jeder war froh, wenn er von Resl’s Liebesbezeugungen verschont blieb!

»So ganz unrecht hat die Frau Tappert net!« meinte Sebastian und blickte seinen Bruder strafend an. »Ich fürcht’ nämlich auch, daß es noch einmal bös enden wird, wenn net bald eine kommt, die es schafft, dich in den Hafen der Ehe zu lotsen.«

»Das werd’ ich zu verhindern wissen«, versprach Max augenzwinkernd und nahm noch eine Kelle von dem Eintopf.

*

Christian Wiltinger war ratlos. Vor drei Tagen hätte seine Verlobte ihre Arbeit wieder aufnehmen sollen, doch sie schien verschollen, denn sie war weder in dem Zug gewesen, mit dem sie hätte ankommen sollen –, Christian hatte vergeblich auf dem Bahnhof auf sie gewartet – noch hatte sie sich sonst irgendwie gemeldet. Seine Angst und Sorge um das geliebte Madel wuchsen stündlich. Was konnte da nur geschehen sein? Er hatte schon bei der Polizei und in verschiedenen Krankenhäusern angerufen, doch nirgendwo fand sich eine Spur von ihr. Der junge Filialleiter war sicher, daß Veronika nicht in der Lage war, ein Lebenszeichen von sich zu geben. Sie hatte überhaupt keinen Grund, so sang- und klanglos zu verschwinden. Beide waren sich ihrer Liebe sicher, sogar der Hochzeitstermin stand schon fest, und in der Bank, wo Veronika in der Kreditabteilung arbeitete, stand ebenfalls alles zum besten.

Was also war nur geschehen?

Nachdenklich ging Christian Wiltinger an die große Karte, die an der Wand hinter seinem Schreibtisch hing. Sie zeigte den Freistaat Bayern mit den angrenzenden Ländern. Suchend fuhr sein Finger über das Papier.

Wie hieß doch gleich das Dorf, in dem Veronika diesen Verwandten, Urban Brandner, hieß er, vermutete? Richtig – Sankt Johann. Wo mochte das nur liegen?

Typisch, dachte der junge Mann, im Urlaub fliegt man nach Mallorca oder sonstwohin, aber in der Heimat, da kennt man sich net aus. Endlich fand er es, mitten in den Alpen.

Jemand klopfte an seine Bürotür, und auf seinen Ruf traten Ines Ambach und Andreas Föringer ein. Sie arbeiteten ebenfalls in der Bank und waren mit Christian und Veronika auch privat befreundet. Die beiden hatten sich An­dreas und Ines als Trauzeugen ausgesucht.

»Noch immer keine Nachricht?« fragte Andreas.

Sowohl er, als auch Ines machten ein besorgtes Gesicht.

Christian schüttelte den Kopf.

»Es ist wie verhext!«

Er deutete auf die Karte.

»Ich überlege, ob ich nicht hinfahren und sie suchen soll«, sagte er.

»Ich glaube, das ist eine gute Idee«, stimmte Ines zu. »Wer weiß, was dahintersteckt, daß Veronika sich nicht meldet. Vielleicht ist es nur dort zu klären.«

»Nur zu«, ermunterte Andreas den Freund. »Die Bank ist bei mir in besten Händen.«

Er war der stellvertretende Filialleiter.

»Ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann«, erwiderte Christian Wiltinger und schaute auf die Uhr. »Es ist erst zehn. Wenn ich gleich losfahre, kann ich am frühen Abend dort sein.«

Er zeigte den beiden, wo Sankt Johann lag.

»Hoffentlich findest du Veronika«, sagte Ines. »Irgendwie unheimlich ist es schon. Alleine der Gedanke – ein Mensch verschwindet doch net so einfach!«

Christian verabschiedete sich von ihnen und fuhr nach Hause. Eilig packte er ein paar Sachen in eine Reisetasche und stieg wieder in seinen Wagen. Wenig später war er schon auf der Autobahn. Obwohl er sich auf den Verkehr konzentrieren mußte, waren seine Gedanken doch immer wieder bei dem Madel. Er brannte darauf, Veronika zu finden und herauszubekommen, was da geschehen war.

Hoffentlich…, nein, den schlimmsten Gedanken wollte er gar nicht erst denken. Eine innere Stimme sagte ihm, daß es seiner Verlobten gut ging. Diese Hoffnung wollte er nicht verlieren.

*

Wie nach jeder Messe, stand Pfarrer Trenker an der Kirchentür und verabschiedete die Gläubigen. Am letzten Sonntag waren einige von ihnen mit gesenkten Köpfen aus dem Gotteshaus geschlichen, nach dem Donnerwetter, das der Herr Pfarrer auf sie hatte niederprasseln lassen.

Von Selbstherrlichkeit hatte er gesprochen, und von der Dummheit in den Köpfen mancher Leute. Natürlich ohne einen Namen zu nennen, aber die, welche er meinte, wußten Bescheid und fühlten sich auch angesprochen.

Burgl Anderer kam als eine der letzten heraus. Sie gab Sebastian Trenker die Hand.

»Dank’ schön, Herr Pfarrer, für alles, was Sie für meinen Buben getan haben«, sagte sie mit Tränen in den Augen.

»Ist schon recht, Burgl«, nickte Sebastian ihr aufmunternd zu.

»Er ist kein schlechter Junge«, sprach Burgl weiter. »Es lief nur net alles so, wie er es sich gedacht hatte.«

»Ich weiß, und ich werd’ alles tun, was in meiner Macht steht, um ihm zu helfen.«

»Danke, Hochwürden, vielen, vielen Dank.«

Die verhärmte, vor Kummer und Plagen gebeugte Frau, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet hatte und doch nie auf einen grünen Zweig gekommen war, kämpfte sichtbar mit den Tränen.

»Ich wünsch dir noch einen schönen Sonntag«, verabschiedete der Geistliche sie und ging dann in die Kirche zurück.

Die Meßdiener hatten schon ihre Utensilien abgelegt und warteten darauf, entlassen zu werden. Sebastian steckte jedem von ihnen ein Geldstück zu.

»Für ein Eis. Aber erst nach dem Mittagessen.«

»Dank’ schön, Hochwürden«, riefen die beiden und rannten los.

Sebastian hängte die Soutane in den Schrank in der Sakristei und machte sich dann auf den Weg in das Pfarrhaus, wo Sophie Tappert schon mit dem Sonntagsbraten wartete. Natürlich war auch Max da, und eben kam Dr. Wiesinger um die Ecke. Er war heute im Pfarrhaus zum Essen eingeladen, hatte aber nach dem Kirchgang noch nach einem Patienten sehen müssen, der bettlägerig war. Sebastian fiel die kummervolle Miene des Arztes auf.

»Wie geht’s dem Teubner-Franz?« fragte er.

»Oh, recht gut«, antwortete der Arzt. »Ich denke, in ein paar Tagen ist er wieder ganz gesund.«

Franz Teubner hatte sich bei der Apfelernte einen Hexenschuß zugezogen und war dabei von der Leiter gefallen. Zum Glück hatte er sich nichts gebrochen, aber schmerzhaft war es ohnegleichen.

»Ich dachte schon… Sie schauen ein wenig bedrückt. Ist sonst etwas nicht in Ordnung?«

»Das kann man wohl sagen«, schnaubte der junge Arzt. »Ich mache mir große Sorgen um den Lärchner.«

»Wieso, was ist mit ihm? Er war doch schon wieder auf dem Wege der Besserung.«

Sebastian ließ seinen Gast in das Eßzimmer eintreten, wo Max schon wartete. Dieser Raum wurde meistens nur dann benutzt, wenn weiterer Besuch da war, oder an Feiertagen. Sebastian saß und aß auch gerne in der gemütlichen Wohnküche des Pfarrhauses. Doch heute hatte Sophie Tappert den Tisch im Eßzimmer festlich gedeckt und eine Flasche Wein kalt gestellt. Das Essen dauerte noch ein paar Minuten, und so hatten die Männer Zeit, sich noch etwas über den Lärchner-Bauern zu unterhalten.

»Man müßte diesem Scharlatan das Handwerk legen«, schimpfte Toni Wiesinger.

Der junge Arzt hatte ohnehin keinen leichten Stand bei den Dörflern, und nun noch dies!

Dem Pfarrer schwante, wen der Arzt mit Scharlatan meinte.

»Doch net etwa der Brandhuber-Loisl?« fragte er.

»Doch, genau der«, nickte der Arzt und nahm dankend das Glas Sherry entgegen, das Max ihm reichte.

Und dann erzählte er, welchen Kummer er mit Alois Brandhuber hatte.

Ähnlich wie die Familie Anderer, hauste der Brandhuber in einer Holzhütte, etwas außerhalb des Dorfes. Niemand wußte, wovon der Alte lebte. Er sah immer unrasiert und schmuddelig aus, und stand in dem Ruf ein ›Wunderheiler‹ zu sein. Angeblich zog er bei Vollmond los, um bestimmte Kräuter und Blumen zu sammeln, die er zu den verschiedensten Tees und Salben verarbeitete, die er an die Leute verhökerte.

Nicht nur Touristen gaben ihr Geld dafür her, auch Einheimische ließen sich immer wieder darauf ein, Loisls Wunderkuren zu probieren.

Und nun war der Doktor dahintergekommen, daß der Brandhuber ebenfalls den Lärchner-Bauern »behandelte«!

»Eine Lungenentzündung in dieser Jahreszeit ist schon schlimm genug. Aber ich hätte sie beinahe im Griff gehabt«, ärgerte Toni Wiesinger sich. »Und dann muß ich erfahren, daß man sich mehr auf die Erfahrung des ›Heilers‹ verläßt. Ich kann’s noch immer net glauben.«

Sophie Tappert hatte inzwischen das Essen aufgetragen.

»Werden die Leute nimmer gescheit?« seufzte Sebastian und deutete auf den Tisch. »Kommen S’, Herr Doktor, lassen S’ uns essen. Ich glaub, ich werd’ sowohl mit dem Lärchner, als auch mit dem Brandhuber ein ernstes Wörtchen reden müssen.«

*

Dazu hatte der Geistliche schon am Nachmittag Gelegenheit. Eigentlich hatte er den in den Bergen verbringen wollen, doch die Angelegenheit um den Lärchner-Bauern war natürlich wichtiger. Schweren Herzens verschob er die ersehnte Bergtour. Statt dessen setzte er sich in seinen Wagen und fuhr zu dem Bauernhof hinauf.

Der Lärchnerhof war ein mehr als zweihundert Jahre alter Berghof, der schon immer im Besitz der Familie war. Der Altbauer, Ignazius Lärchner, war schon weit über die sechzig, dachte aber nicht daran, den Hof seinem Sohn zu übergeben.

»Wenn du so weitermachst, brauchst auch net mehr aufs Altenteil zu ziehen«, tadelte Sebastian Trenker den Kranken, an dessen Bett er saß.

Auf dem Nachtkästchen, daneben, standen ein paar Schachteln mit Tabletten und eine große Flasche mit einer dunkelblauen Flüssigkeit darin. Wahrscheinlich das Gebräu vom Brandhuber-Loisl.

»Wie meinen’s denn das, Hochwürden?« fragte der Alte mit schwacher Stimme.

Aschgrau sah er aus, im Gesicht, und seine Hände zitterten.

Beim letzten Besuch hatte er deutlich besser ausgesehen, dachte Sebastian. Er deutete auf die Flasche.

»Wenn du weiterhin das Zeug da säufst, Lärchner-Bauer, dann braucht dein Sohn das Altenteil net mehr herrichten. Dann kannst gleich sagen, an welcher Stelle auf dem Kirchhof du liegen willst. Die Flasche ist doch vom Brandhuber, nicht wahr?«

Ignaz machte ein verzweifeltes Gesicht.

»Ich will’s ja gar net«, jammerte er. »Aber meine Alte, die hat sich die Flasche aufschwatzen lassen, weil sie meint, daß der junge Doktor keine Ahnung hat. Es schmeckt überhaupt ganz scheußlich!«

Der Pfarrer hätte lachen können, wenn die Sache nicht so ernst gewesen wäre.

»Der junge Doktor hat immerhin ein paar Jahre studieren müssen, bevor er auf die Menschheit losgelassen wurde. Ich bezweifel, daß der Brandhuber-Loisl jemals eine Universität auch nur aus der Ferne gesehen hat.«

Der Geistliche schüttelte den Kopf über soviel Unverstand.

»Ich nehme die Flasche mit und schütte den Inhalt weg«, fuhr er bestimmt fort. »Und du nimmst wieder die Tabletten, so, wie Doktor Wiesinger es dir gesagt hat. Eine Lungenentzündung ist kein einfacher Schnupfen. Und mit deiner Frau rede ich noch ein ernstes Wörtchen. Ich verstehe sowieso net, warum du auf sie hörst? Das ist doch sonst net deine Art. Hier hätte es einmal Sinn gehabt, nicht das zu tun, was sie will.«

Er wünschte noch eine gute Besserung und verließ das Krankenzimmer. Auf der Diele saß Mechthild Lärchner. Sebastian nahm sie ins Gebet. Die Frau beteuerte zwar, sich nach den Anweisungen des Arztes richten zu wollen, doch der Pfarrer bezweifelte die Ernsthaftigkeit. Ihm fiel auf, daß die Bäuerin immer wieder an ihm vorbei aus dem Fenster schaute. Grad so, als erwarte sie Besuch…

Als Sebastian durch die Tür ins Freie trat, sah er, auf wen Mechthild Lärchner gewartet hatte. Eben bog der Brandhuber-Loisl um die Ecke des Stalles. Als er den Pfarrer erkannte, wollte er auf der Stelle kehrtmachen.

»Komm’ nur her, du alter Heide«, rief der Geistliche den Alten.

Loisl zögerte, kam dann aber doch herangeschlurft. Natürlich war er nicht rasiert, und Hemd und Hose waren bestimmt keine Sonntagstracht. Sebastian konnte sich allerdings auch nicht erinnern, Loisl jemals in anderen Sachen gesehen zu haben.

Der ›Wunderheiler‹ stand vor ihm und schielte nach der Flasche, die Sebastian in der Hand hielt.

»Kannst du mir mal erzählen, was das für hier für ein Zeug ist?« forderte er den Alten auf.

»Scha… Scha… Schafgarbe und Brennesselsaft«, stotterte der.

»Igitt, und das soll helfen?«

»So steht’s in meinem Buch«, erwiderte Loisl trotzig.

»In welchem Buch denn? Etwa einem medizinischen Werk?«

Loisl zögerte mit der Antwort.

»Nun red’ schon.«

»Das sechste und siebente Buch Moses«, sagte er schließlich und duckte sich dabei, als fürchtete er, geschlagen zu werden.

»Ich hätt’s mir denken können«, schüttelte der Pfarrer seinen Kopf. »Und für diesen Unsinn geben die Leute ihr Geld aus. Es ist nicht zu fassen!«

Er hielt dem Alten die Flasche unter die Nase.

»Vielleicht hilft dein Gebräu wirklich bei irgend etwas. Ganz bestimmt aber nicht bei einer ausgewachsenen Lungenentzündung, und die hat der Lärchner nämlich. Es tät dir net schaden, wenn du den lieben Gott dafür danken würdest, daß er dich davor bewahrt hat, einen Menschen vorzeitig ins Grab zu bringen. Das wäre nämlich passiert, wenn der Doktor Wiesinger net dahintergekommen wäre, was du hier treibst. Also, schleich’ dich. Deine Medizin behalt’ ich besser. Du wärst imstande, sie noch ’mal zu verkaufen.«

Alois Brandhuber drehte sich um und machte, daß er davonkam, heilfroh, daß es nicht mehr, als diese Standpauke gegeben hatte.

Dabei grinste er über das ganze Gesicht.

*

»Großvater, ich bitt’ dich, nimm doch Vernunft an!«

Veronika war der Verzweiflung nahe. Seit Tagen versuchte sie vergeblich, dem alten Senner klarzumachen, daß sie wieder abreisen müsse. Urban wollte einfach nicht zuhören und tat jede ihrer Bitten mit einer unwirschen Handbewegung ab.

Gott sei Dank hatte er sie zumindest wieder aus dem Verschlag herausgelassen. An die Nacht, die sie dort drinnen hatte zubringen müssen, wollte das Madel gar nicht mehr denken.

Was sollte sie nur tun? Fortlaufen?

Davon hielten sie zwei Dinge ab. Zum einen wurde ihr allmählich klar, daß der Großvater krank war und Hilfe brauchte, zum anderen kannte sie sich hier oben überhaupt nicht aus. Als sie vor mehr als einer Woche angekommen war, da hatte ein freundlicher Bauer sie aus dem Tal mit heraufgenommen und bis an den Weg gebracht, der direkt zu der Sennerhütte führte. Veronika hatte damals nicht auf den Weg geachtet, dazu war sie viel zu nervös gewesen. Immerhin sollte sie in wenigen Augenblicken einem nahen Verwandten gegenüberstehen, den sie noch nie gesehen hatte. Jetzt würde sie den Weg zurück alleine niemals finden.

Es war aber auch wie verhext. In den vergangenen Tagen waren fast immer Wanderer zur Hütte gekommen, doch seit dem Wochenende hatte sich niemand mehr blicken lassen. Dann hätte sie Christian zumindest eine Nachricht zukommen lassen können.

Bestimmt machte er sich die größten Sorgen um sie. Er hatte sie ohnehin nicht allein fahren lassen wollen. Doch war es ihm unmöglich gewesen, sie zu begleiten – zwei Tage später sollte er ein paar wichtige Kunden der Bank empfangen, mit denen er die ganze Woche zu tun hatte –, so daß er schweren Herzens einwilligte.

Immerhin konnte sie sich relativ frei bewegen, Urban Brandner schien sicher zu sein, daß sein Enkelkind nicht fortlaufen würde.

*

Christian war überrascht, wie schön das Dorf gelegen war. Etliche kleine Häuschen, ein paar Läden und die große weiße Kirche prägten das Bild. Mit den majestätischen Bergen im Hintergrund bildete es ein romantisches Panorama – ein richtiges Bergdorf eben.

Veronikas Verlobter fuhr langsam auf den Parkplatz eines Hotels, dessen Schild er schon am Ortseingang gesehen hatte. ›Zum Goldenen Löwen‹. Er stieg aus und reckte sich. Beinahe sieben Stunden hatte er nun ununterbrochen im Auto gesessen, und er spürte, wie verspannt er war. Bestimmt auch eine Folge seiner inneren Anspannung.

Der Wirt selber stand am Empfang und begrüßte den Gast.

»Wie lange möchten S’ denn bleiben?« fragte er.

Christian hatte keine Ahnung, wie lange die Suche nach Veronika dauern würde.

»Erst mal drei Tage«, sagte er. »Eventuell verlängere ich dann noch mal.«

»Ist recht«, nickte Sepp Reisinger und händigte die Schlüssel aus. »Der kleine ist für den Nebeneingang des Hotels, falls wir schon mal geschlossen haben. Der größere ist der Zimmerschlüssel. Es ist im ersten Stock.«

Christian nahm die Schlüssel entgegen und holte seine Reisetasche aus dem Auto. Dann ging er die Treppe hinauf. Das Zimmer lag am Ende eines langen Flurs, von dem noch weitere abgingen. Der junge Mann schloß auf und trat ein.

Auch hier wurde er angenehm überrascht. Das Zimmer war hell und freundlich, es roch nach Frische und Sauberkeit. Das Bett machte einen verlockenden Eindruck, und auf dem Tisch am Fenster stand eine Vase mit frischen Blumen.

Christian ging in das angrenzende Bad und wusch sich Gesicht und Hände. Derart erfrischt wäre er am liebsten sofort losgezogen, um Veronika zu suchen, doch er wußte, daß es keinen Zweck haben würde, einfach blindlings loszurennen. Er hatte ja überhaupt noch keine Ahnung, wo er nach ihr suchen sollte. Außer den Namen des Mannes, in dem das Madel seinen Großvater vermutete, hatte er ja gar keinen Anhaltspunkt.

Zudem forderte der Körper sein Recht. Vor lauter Angst und Sorge um Veronika hatte Christian seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen und gegessen. Hinzu kam die anstrengende Autofahrt. Das beste würde sein, zunächst etwas im Restaurant zu essen und sich dann auszuruhen. Inzwischen war es beinahe neun Uhr abends geworden. Der Verkehr war enorm gewesen, außerdem hatte es auf der Autobahn zwei Baustellen gegeben, so daß er für die Fahrt doch länger gebraucht hatte, als er zunächst dachte.

Es waren nur wenige Gäste anwesend, als Christian Wiltinger das Restaurant betrat. Eine freundliche Bedienung brachte ihm gleich die Speisekarte und nahm seine Getränkebestellung auf.

Der junge Mann entschied sich für eine kalte Platte, die heimische Wurst- und Käsesorten versprach. Dazu gab es deftiges Bauernbrot und süßen Senf. Erst jetzt bemerkte Christian, wie hungrig er eigentlich war. Trotzdem ließ er sich Zeit beim Essen und dachte über seine weiteren Schritte nach.

Wohin wendete man sich am besten, wenn man jemanden suchte, von dem man wußte, daß er existierte, aber nicht genau, wo?

Am besten in der Kirche, dachte er. Wenn die Polizei nicht helfen konnte – in der Kirche gab es Bücher, in denen alles verzeichnet war. Geburten, Hochzeiten, Beerdigungen.

Diese Idee schien ihm am besten. Gleich morgen früh wollte er den Pfarrer aufsuchen und nach einem Mann namens Urban Brandner fragen. Wenn er wirklich hier geboren war und noch immer lebte, würde der Geistliche wissen, wo Christian ihn finden konnte.

Zufrieden suchte Veronikas Verlobter sein Zimmer auf. Einen Moment stand er am offenen Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Die Sterne standen wie gesät am nächtlichen Himmel, und der Mond breitete sein Licht über den Bergen aus. Christian hätte alles darum gegeben, Veronika jetzt in seinen Armen zu halten, und als er sich schlafen legte, da war er in Gedanken immer noch bei ihr.

*

An der Westseite der Kirche St. Johann wuchs ein herrlicher Rosenstrauch. Er reichte von der Kirchenmauer bis an den schmiedeeisernen Zaun, der den Friedhof begrenzte.

Sebastian Trenker war gerade damit beschäftigt, die Rosen zu beschneiden, als ein junger Mann über den Kiesweg ging und auf ihn zukam. Sebastian kannte ihn nicht.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer«, sagte er freundlich. »Mein Name ist Christian Wiltinger. Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen.»

Er deutete zum Pfarrhaus hin­über.

»Ihre Haushälterin sagte mir, daß ich Sie hier finde.«

Der Geistliche wischte sich die Hand an der grünen Schürze ab, die er zum Schutz seiner Kleidung trug, und reichte dem Mann die Hand.

»Pfarrer Trenker. Was kann ich für Sie tun, Herr Wiltinger?«

»Ich bin auf der Suche nach einem Mann…«

Er brach lächelnd ab.

»Nein, eigentlich bin ich auf der Suche nach meiner Verlobten.«

Christian hob die Hand.

»Also, denken Sie jetzt bitte nicht, sie wäre mir fortgelaufen. Das ist wirklich nicht der Fall. Aber ich suche auch noch einen Mann…«

Jetzt schmunzelte auch der Pfarrer.

»Am besten ist es, wir gehen hinüber in mein Arbeitszimmer, und Sie erzählen mir alles in Ruhe«, schlug er vor.

Christian nickte und folgte dem Geistlichen.

»Möchten Sie etwas trinken?« fragte er Sebastian, als sie im Arbeitszimmer saßen. »Einen Kaffee vielleicht?«

»Gerne«, nickte Christian.

Er hatte zwar im Hotel ein ausgezeichnetes und ausgiebiges Frühstück genossen, aber Kaffee konnte er zu jeder Tageszeit trinken. Wahrscheinlich brachte das sein Beruf so mit sich. In der Bank stand die Kaffeemaschine jedenfalls nie still, wenn dort Privatkunden empfangen wurden.

Pfarrer Trenker bat Sophie Tappert um eine Kanne Kaffee und etwas Gebäck und widmete sich dann seinem Besucher.

Veronikas Verlobter hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht, der zu der kleinen Sitzgruppe am Fenster gehörte. Der Geistliche setzte sich ihm gegen­über.

Und dann berichtete Christian Wiltinger, was ihn nach Sankt Johann gebracht hatte. Sebastian Trenker hörte ihm aufmerksam zu. Als der Name Urban Brandner fiel, nickte er.

»Ich kenne den alten Urban«, sagte er. »Er wohnt oben in den Bergen in einer Sennerei, die er bewirtschaftet.«

Inzwischen hatte die Haushälterin Kaffee und Kekse gebracht, und der Pfarrer schenkte seinem Besucher ein.

»Ich hab’ net gewußt, daß Urban noch Familie hat«, erklärte er dann. »Wobei ich sagen muß, daß der Kontakt net so besonders gut ist. Der Alte ist net immer leicht zu nehmen. Er kann ein ziemlicher Querkopf sein. Er wirft schon mal jemanden hinaus, wenn ihm dessen Nase net paßt.«

»Na, dann kann ich mich ja vielleicht auf etwas gefaßt machen.«

Christian verzog das Gesicht.

»Wie komme ich denn zu der Alm? Ist es weit von hier?«

»Wenn Sie es möchten, dann begleite ich Sie gerne«, bot Sebastian an.

Sein Besucher nickte erfreut.

»Ich nehme Ihr Angebot herzlich gerne an. Allein würd’ ich mich wahrscheinlich verlaufen.«

*

»Dort drüben liegt der Himmelsspitz, und der Zwilling daneben ist die Wintermaid«, deutete Sebastian Trenker auf zwei imposante, schneebedeckte Berggipfel, die auf der anderen Seite in die Höhe ragten.

Sie selber standen auf einem Felsplateau und schauten sich um. Über ihnen ragte eine bewaldete Anhöhe. Sebastian drehte sich um und zeigte in die Höhe.

»Dort ist der Höllenbruch, und dahinter führt ein schmaler Weg zur Alm hinauf. Für einen Fremden wäre es gewiß net leicht, sie zu finden. Der große Wirtschaftsweg führt von der anderen Seite heran. Da ist es schon leichter.«

»Nie und nimmer hätt’ ich’s gefunden«, sagte Christian und japste nach Luft. »Aber schön habt ihr’s hier droben!«

»Ich schlage vor, wir machen erstmal eine Pause«, meinte der Pfarrer mit Rücksicht auf Veronikas Verlobten.

»Ja, ja«, nickte Christian. »Ich weiß schon, was Sie jetzt denken: Der Städter! Aber Sie haben ja recht, Hochwürden. Ich bin ein Büromensch und müßte viel mehr von meiner Freizeit draußen in der Natur verbringen. Wenn ich Sie dagegen anschaue – richtig durchtrainiert sind Sie.«

Sebastian öffnete schmunzelnd seinen Rucksack und entnahm zwei Getränkeflaschen, von denen er eine Christian reichte. Es war nicht das erste Mal, daß er einen Menschen, der ihn nicht näher kannte, mit seiner sportlichen Art verblüffte.

Sie rasteten eine Viertelstunde, dann machten sie sich wieder auf den Weg. Es würde noch eine gute halbe Stunde brauchen, bis sie die Sennerhütte sehen konnten. Je höher sie kamen, um so mehr rang Christian nach Luft. Er nahm sich vor, wirklich mehr für seine körperliche Ertüchtigung zu tun, wenn das hier alles überstanden war. Er konnte nur staunen über den Geistlichen, der beinahe leichtfüßig vor ihm herlief und offenbar jeden Stein, Baum und Strauch kannte.

Nachdem sie den Höllenbruch passiert hatten, gingen sie über einen schmalen, nicht befestigten Weg, der weiter in die Höhe führte. Kurze Zeit später führte dieser Weg aus dem Dickicht heraus, und vor ihnen tat sich eine grüne Wiese auf.

»Dort oben«, zeigte Sebastian hinauf zu der Hütte. »Das ist die Sennerei vom alten Urban.«

Christian spürte sein Herz schneller klopfen, und das kam nicht allein von der Anstrengung. Würde er dort oben endlich seine Veronika wieder in die Arme schließen können?

*

Urban Brandner hatte in all den Jahren, die er hier oben verbracht hatte, einen sechsten Sinn entwickelt. Er wußte nicht wie es geschah, aber manchmal hatte er eine Eingebung, und dann bereitete er ein Mittagessen für mehr als zehn Leute zu, und dann kam mittags wirklich eine große Wandergruppe! Genauso konnte es umgekehrt der Fall sein – nämlich daß er gar nichts vorbereitete und auch niemand die Sennerei besuchte. Mit der Zeit hatte Urban ein untrügliches Gespür dafür entwickelt, ob Besuch zu erwarten war oder nicht.

Und heute war Besuch unterwegs, spürte er.

Urban saß mit einem Fernglas bewaffnet vor der Hütte und schaute in die Landschaft. Veronika war in der Käserei und bürstete die gelagerten Laibe mit Salzwasser ab. Mit irgend etwas mußte sie sich ja beschäftigen, hatte sie gedacht, und die Arbeit machte ihr sogar Spaß. Dabei sann sie immer noch über einen Ausweg nach. Liebend gerne wäre sie einfach davongelaufen, doch die Furcht, sich zu verirren, war zu groß. Längst hatte sie es aufgegeben, auf den Großvater einzureden und ihn doch noch umzustimmen. Er schien gar nicht mehr zu hören, was sie sagte, und Veronika gewann immer mehr den Eindruck, daß der alte Mann geistig verwirrt war. Manchmal kam es vor, daß er sie mit Maria anredete und dann völlig erstaunt guckte, wenn Veronika darauf bestand, mit ihrem Namen angesprochen zu werden.

Ihre einzige Hoffnung, von hier fortzukommen, blieb eine Wandergruppe, der sie sich anschlie­ßen konnte. Doch seit Tagen blieben die Touristen aus, was wohl auch damit zusammenhing, daß die Ferien inzwischen beendet waren. Die andere Möglichkeit, auf die das Madel gehofft hatte, hatte sich zerschlagen. Am Abend nach ihrer Ankunft auf der Alm, hatte Großvater davon erzählt, daß alle paar Wochen die Bauern kamen und Butter und Käse abholten. Das war auch vorgestern der Fall gewesen. Allerdings hatte Urban sie vorsorglich wieder in den Verschlag gesperrt, und ihre Hilferufe waren ungehört geblieben. Denn wenn es auch nur eine Holzhütte war – die Wände waren dick und schluckten jedes Gespräch.

Seufzend legte sie den schweren Käselaib zurück in das Regal, wo er noch ein paar Wochen lagern mußte, bis er die nötige Reife hatte.

Da trat der Großvater ein.

»Komm«, sagte er nur und zog sie mit sich.

Veronika versuchte, sich zur Wehr zu setzen, doch der Alte war stärker als sie. Ohne ein Wort sperrte er sie wieder in den Verschlag hinter seiner Kammer und ging dann hinaus.

Veronika trommelte wütend gegen die verschlossene Tür und rutschte dann in die Hocke, wo sie ihr Gesicht in den Händen vergrub. Es war ja sinnlos. Von draußen hörte sie nur dumpfes Gemurmel. Offenbar sprach der Großvater mit jemandem.

Hätte sie nur geahnt, wer da draußen stand…

*

Urban Brandner sah durch das Fernglas und wußte, daß sein Gefühl ihn wieder einmal nicht getrogen hatte. Über den Höllenbruch sah er zwei Gestalten, die heraufkamen und sich der Alm näherten.

Eilig lief er in die Hütte und schloß seine Enkelin ein. Dann setzte er sich auf die Bank und stopfte seine Pfeife.

»Gott zum Gruß, Brandner«, sagte Sebastian, als sie heran waren.

»Grüß euch«, nickte der Alte.

Der Pfarrer deutete auf Christian.

»Das ist Herr Wiltinger. Er ist auf der Suche nach einer jungen Frau.«

»Und warum sucht er sie hier oben?« gab der Senner gereizt zurück.

»Die Frau heißt Veronika Seebacher und ist die Verlobte von Herrn Wiltinger«, erklärte Sebastian, ohne auf Urbans Ton einzugehen. »Außerdem soll sie deine Enkeltochter sein. Stimmt das?«

Der Alte spuckte aus.

»Wer erzählt denn solchen Schmarr’n?«

»Veronika hat’s erzählt«, rief Christian. »Sie hat’s aus den Papieren, die sie nach dem Tod ihrer Mutter gefunden hatte.«

Er war mehr als enttäuscht. Hatte er doch gehofft, das geliebte Madel hier zu finden, und nun stand er vor diesem unzugänglichen Alten, und von Veronika keine Spur.

»Sie wollte hierher zu Ihnen, Sie kennenzulernen. Wollen Sie etwa behaupten, sie wäre nicht hiergewesen?«

Urban Brandner schüttelte den Kopf.

»Das muß ein Irrtum sein«, sagte er beinahe sanft. »Bestimmt verwechseln Sie mich mit einem, der ebenso oder ähnlich heißt.«

Pfarrer Trenker strich sich nachdenklich über das Kinn.

Sollte der junge Mann sich so geirrt haben? Dann waren sie wirklich vergeblich hierher gekommen. Dabei schien Christian Wiltinger sich seiner Sache so sicher.

»Da kann man wohl nichts machen«, sagte er zu Christian und wandte sich wieder Urban zu. »Sag’ Urban, hättest du denn ein Glas Milch für uns? Das wäre eine gute Stärkung für uns, bevor wir uns wieder an den Abstieg machen.«

»Freilich«, nickte der Alte und deutete auf die Bank. »Hockt’s euch nur her. Ich bring’ gleich die Milch.«

»Meinen Sie, daß er die Wahrheit sagt?« fragte Veronikas Verlobter, nachem Urban in der Sennerhütte verschwunden war.

»Was für einen Grund hätte er, zu lügen?« fragte Sebastian zurück. »Wenn’s wirklich die Enkelin wär’, bräuchte er sie nicht zu verleugnen, oder wüßten Sie einen einleuchtenden Grund?«

Christian zögerte. Immer wieder waren ihm in den letzten Stunden die schlimmsten Gedanken gekommen, doch er wollte ja gar nicht an sie denken.

Allerdings drängten sie sich immer wieder auf.

»Höchstens wenn etwas ganz Schreckliches geschehen ist«, sagte er schließlich. »Dann würde er abstreiten, Veronika zu kennen.«

Er verstummte, denn Urban Brandner trat aus der Tür, zwei Gläser Milch in den Händen. Er setzte sie auf dem Tisch ab.

»Laßt’s euch schmecken«, sagte er und schaute zu, wie sie die kühle Milch in einem Zug tranken.

»Das schmeckt, was?« freute er sich.

Der Pfarrer stand auf und gab Christian ein Zeichen.

»Dank schön, Urban«, sagte er und reichte dem Alten die Hand. »Auch für die Auskunft. Wir machen uns wieder auf den Heimweg.«

Der alte Senner winkte ihnen hinterher.

»Ich habe eine Idee«, meinte Sebastian, nachdem sie außer Hörweite waren. »Die Mutter ihrer Verlobten hieß mit Vornamen Maria, sagten sie. Ich werde einmal in den Kirchenbüchern nachschauen, ob ich da etwas finde. Ich bin zwar schon ein paar Jahre hier als Pfarrer, aber Ereignisse, die mehr als zehn Jahre zurückliegen, kenne ich nur vom Hörensagen. Eine Maria Brandner ist mir nicht bekannt. Aber, wer weiß – in den Kirchenbüchern wird alles dokumentiert. Wenn der Urban eine Tochter mit diesem Namen gehabt hat, dann werden wir es herausbekommen.«

*

Allerdings kam Sebastian erst am Abend dazu, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Gleich nach dem Mittagessen fuhr er in den Nachbarort, und besuchte dort ein Altenheim. Dieser wöchtliche Besuch war eine gern vollbrachte Pflicht. Die alten Leute freuten sich, wenn sie ihren Pfarrer sahen, der für manches seelische Wehwehchen einen guten Rat zur Hand hatte, und nachdem er mit einigen gesprochen hatte, saßen sie den ganzen Nachmittag zusammen, tranken Kaffee und sangen und musizierten, oder jemand fand sich bereit, eine Geschichte vorzulesen.

Sebastian fuhr immer mit dem befriedigenden Gefühl nach Sankt Johann zurück, den alten Leuten mit seinem Besuch eine Freude gemacht zu haben.

Gleich nach der Abendmesse vertiefte der Geistliche sich in der Sakristei in den Kirchenbüchern. Seit mehr als dreihundert Jahren wurden in den großen ledergebundenen Folianten Aufzeichnungen gemacht. Ganze Generationen waren hier bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen.

Sebastian suchte den neuen Band heraus.

Er war um die Jahrhundertwende begonnen worden und würde wohl noch einige Jahrzehnte reichen. Sorgfältig suchte er Spalte für Spalte die betreffende Jahreszahl ab.

Etwa vierzig Jahre mußte es jetzt her sein, daß Veronikas Mutter geboren wurde. Wenn dies hier geschehen war, dann stand es auch in diesem Buch.

Endlich fand er einen Eintrag, der sich auf Urban Brandner bezog.

Seine kirchliche Trauung mit der Jungfrau Theresa Brandner, geborene Hofstetter.

Und dann – ein Jahr später – war die Geburt ihrer Tochter Maria in das Kirchenbuch eingetragen worden.

Sebastian Trenker lehnte sich aufatmend zurück. Dies war der eindeutige Beweis, daß der alte Senner ihn und Christian Wiltinger belogen hatte.

Aber warum? Und vor allem, was war mit Veronika Seebacher geschehen?

Er blätterte weiter und fand den Eintrag über den Tod der Theresa Brandner, da war das Kind kaum vier Jahre alt gewesen. Hatte der Alte seine Tochter ganz alleine aufgezogen?

Sebastian klappte das Kirchenbuch zu und stellte es in das Regal zu den anderen. Dann ging er ins Pfarrhaus hinüber.

Nachdenklich saß er am Abendbrottisch und überlegte, welche Gründe Urban Brandner wohl haben mochte, zu leugnen, daß er Veronika kannte.

Es konnte doch kein Zufall sein – eine Namensgleichheit, gut, die hätte Sebastian durchaus einsehen können, doch daß der Senner und seine Frau eine Tochter hatte, die den selben Namen trug, wie Veronikas verstorbene Mutter – nein, das konnte kein Zufall sein.

Sophie Tappert spürte, daß den Pfarrer etwas beschäftigte. Ob es mit dem Besuch des jungen Mannes zusammenhing, der heute morgen ins Pfarrhaus gekommen war?

Sebastian bemerkte den forschenden Blick, mit dem seine Haushälterin ihn ansah. Plötzlich hatte er eine Idee. Frau Tappert – wußte sie vielleicht etwas über Urban Brandner und seine Frau Theresa?

»Aber natürlich hab ich die Theresa gekannt«, sagte sie auf Sebastians Frage. »Wir sind ja zusammen in die Schule gegangen. Sie ist früh’ verstorben. Ich wüßt’ gern, was aus dem Madel geworden ist.«

»Aus der Maria, der Tochter der beiden?«

Sophie Tappert sah ihn erstaunt an.

»Ja. Woher wissen Sie etwas von Maria Brandner? Sie ist doch damals verschwunden. Der Alte hat sie fortgejagt, bei Nacht und Nebel.«

»Das hab’ ich net gewußt. Aber, es ist interessant.«

Er glaubte kein Geheimnis zu verraten, wenn er Frau Tappert den Grund für Christians Besuch erzählte. Die Haushälterin hob warnend die Hand.

»Mit dem Alten stimmt etwas net«, sagte sie. »Der Mensch muß ja wunderlich werden, wenn er jahrein, jahraus da oben herumhockt und net richtig unter Menschen kommt. Hoffentlich hat er dem Madel nix angetan. Zutrau’n würd’ ich’s ihm.«

»Noch ist nicht erwiesen, daß Veronika Seebacher überhaupt bei ihm war oder noch ist«, beruhigte der Pfarrer sie.

Merkwürdig war die Angelegenheit trotzdem.

Das dachte er immer noch, als er zum »Löwen« hinüberging, wo er zum wöchentlichen Stammtisch erwartet wurde. Die Runde bestand aus Sebastian Trenker, aus dem Apotheker, Hubert Mayr, Josef Terzing, dem Bäckermeister und Maximilian Trenker. Manchmal kam der eine oder andere Bauer hinzu, oder der Bürgermeister Markus Bruckner. Seit kur­zem zählte auch Toni Wiesinger dazu.

»Na, Doktor, wie steht’s mit dem alten Lärchner inzwischen?« erkundigte der Pfarrer sich.

»Dank Ihrer Hilfe, Hochwürden, steht’s wieder besser«, antwortete der Arzt. »Der Mann kann froh sein, daß Sie mit seiner Frau ein ernstes Wort gesprochen haben. Wer weiß, was der Brandner denen sonst noch alles angedreht hätte.«

Das Gespräch drehte sich noch eine ganze Weile um den alten Loisl und seine Mixturen. Dann betrat Christian Wiltinger den Gast­raum. Er tat Sebastian leid, wie er da so elend ausschauend in seinem Essen herumstocherte. Nachdem der junge Mann seinen Teller beiseite geschoben hatte, holte Sebastian ihn an den Stammtisch.

»Das ist Christian Wiltinger«, stellte er ihn den anderen vor. »Herr Wiltinger hat ein ganz besonderes Problem.«

Er sah Veronikas Verlobten an.

»Möchten Sie darüber sprechen?« fragte er. »Vielleicht weiß der eine oder andere Rat.«

Christian würde alles getan haben, um weiterzukommen. Hastig erzählte er vom Verschwinden seiner Braut und der vergeblichen Suche auf der Alm.

Allerlei Vermutungen wurden laut, und der allgemeine Tenor war, daß der Brandner sowieso ein merkwürdiger Kauz sei, dem man nicht über den Weg trauen konnte.

Aber er machte einen verdammt guten Kas’!

Sebastian berichtete, was er in dem Kirchenarchiv herausgefunden hatte.

»Trotzdem bleibt das Madel verschwunden«, sagte einer.

»Von welchem Madel redet ihr?« fragte Markus Bruckner, der eben hinzugetreten war und nur den Rest des Gespräches mitbekommen hatte.

»Aber natürlich hab ich das Madel gesehen«, rief er aus.

Christian sprang auf und hätte beinahe einen Stuhl umgerissen.

»Wann? Wo haben Sie Veronika gesehen?« rief er erregt.

Der Bürgermeister von Sankt Johann setzte sich und winkte nach Sepp Reisinger.

»Vor einer guten Woche. Bei mir drüben, im Rathaus«, erwiderte er auf Christians Fragen. »Sie hat sich nach dem alten Brandner erkundigt.«

Der Wirt nahm die Bestellung auf und Markus Bruckner erzählte, wie er Veronika Seebacher kennengelernt hatte.

*

»Sie kam ins Rathaus und erkundigte sich nach Urban Brandner. Sie sagte, er wäre ihr Großvater, sie sei die Tochter von Maria Seebacher, geborene Brandner«, sagte der Bürgermeister und trank einen kräftigen Zug aus seinem Bierkrug.

Er wischte sich den Schaum von den Lippen.

»Ich hab’ ihr den Weg zur Alm beschrieben, und dann hat sie der Lenz, der Knecht vom Sterzinger, ein Stück auf dem Wagen mitgenommen«, fuhr er fort. »Und nun ist das Madel verschwunden?«

»Der Alte behauptet, daß sie nicht dort gewesen wäre«, fuhr Christian auf. »Ja, er kenne sie nicht einmal.«

»Unsinn«, schüttelte der Bruckner-Markus seinen Kopf. »Das Madel ist hinauf zu ihm. Da wett’ ich meine beste Kuh drauf.«

Christian hielt es nicht mehr länger aus.

»Den Burschen kauf ich mir«, rief er. »Jetzt gleich!«

Pfarrer Trenker ergriff ihn beim Arm und zog ihn sanft auf den Stuhl zurück.

»Beruhigen Sie sich, Christian«, sagte er. »Heut abend werden S’ net mehr viel ausrichten können. Es ist viel zu dunkel, um noch nach oben zu gehen. Morgen früh steigen wir noch einmal hinauf und stellen Urban zur Rede. Dann kann er sich nicht mehr in Ausflüchte retten.«

Natürlich wußte Christian, daß Pfarrer Trenker recht hatte, aber die Sorge um seine Braut raubte ihm jedes logische Denken.

»Aber, Veronika – wenn der Alte sie dort oben gewaltsam festhält, oder Schlimmeres – wenn sie gar nicht mehr lebt…«, protestierte er.

»Nein, nein«, widersprach Sebastian.

Während des Gespräches war ihm ein Gedanke gekommen, den er immer weiter gesponnen hatte.

»Vielleicht liege ich völlig falsch, mit meinen Gedanken«, sagte er. »Aber ich könnte mir vorstellen, daß der Alte Veronika nicht gehen lassen will, weil er nicht noch einmal ein Kind verlieren will.«

Die anderen sahen ihn verständnislos an.

»Urban hat vor Jahren seine einzige Tochter Maria davongejagt«, fuhr Sebastian fort. »Maria ist Veronikas Mutter und bestimmt sahen die beiden sich ähnlich. Ich bin überzeugt, daß der alte Brandner in den Jahren, die er nun schon da oben verbringt, mehr als einmal bereut hat, so hart gegen sein eigen Fleisch und Blut gewesen zu sein. Er muß vom Auftauchen seiner Enkeltochter völlig überrascht gewesen sein. Vielleicht hat er im ersten Moment sogar geglaubt, Maria sei wieder zu ihm zurückgekehrt. Und nun, so könnte ich mir vorstellen, will er an seiner Enkelin wiedergutmachen, was er bei Maria versäumt hat.«

»Das scheint mir eine interessante Überlegung«, gab Christian Wiltinger zu. »Veronika und ihre Mutter hatten wirklich eine große Ähnlichkeit. Man hätte sie für Schwestern halten können.«

»Sehen Sie«, nickte Sebastian Trenker. »Daher glaube ich, daß Ihre Verlobte wohlauf ist. Der alte Fuchs da oben wird sie vor uns versteckt haben, aber ein Leid wird er ihr ganz bestimmt nicht zufügen.«

»Also gut«, stimmte Christian schweren Herzens zu. »Dann versuchen wir es morgen noch einmal.«

»Gleich nach der Frühmesse geht’s los«, sagte Sebastian.

»Ich würd’ euch ja begleiten«, warf Max ein. »Aber ich muß morgen in Sachen Madonnenraub in die Kreisstadt. Wenn wir Glück haben, bekommen wir das gute Stück schon bald zurück.«

»Vielleicht sollte Doktor Wiesinger mitkommen – vorsichtishalber«, schlug Christian vor.

»Keine schlechte Idee«, stimmte Sebastian zu.

»Ich bin gerne bereit«, erklärte der Arzt. »Auch in Hinsicht auf den Gesundheitszustand des alten Mannes. Ihre Theorie, Hochwürden, hat durchaus etwas für sich. Ich bin zwar kein Psychiater, aber ein paar Semester habe ich dieses Fach studiert. Es ist durchaus möglich, daß Urban Brandner in dem Wahn lebt, seine Enkeltochter vor dem zu bewahren, was seiner Tochter widerfahren ist. Das kann unter Umständen gefährliche Züge annehmen. Daher komme ich selbstverständlich mit, für den Fall, daß medizinische Betreuung erforderlich ist.«

»Gut, dann wäre das ja geklärt«, freute Sebastian sich.

Er schaute auf die Uhr.

»Ich verabschiede mich«, sagte er und stand auf. »Morgen früh klingelt der Wecker erbarmungslos.

Die anderen beschlossen, den Stammtisch aufzuheben und ebenfalls zu gehen.

*

Veronika hatte zum wiederholten Male ihren Rucksack ein- und wieder ausgepackt. Immer noch sann sie über eine Möglichkeit nach, Reißaus zu nehmen. Besonders seit der Großvater sich seit dem gestrigen Besuch noch merkwürdiger benahm. Wer mochte es nur gewesen sein, der den Alten aufgesucht hatte, und was wollte er vom Großvater?

Das Madel trat hinaus. Urban Brandner saß vor der Hütte an seinen Schnitzarbeiten. Veronika setzte sich zu ihm.

»Es sind wunderschöne Figuren, die du da machst«, sagte sie, ihn ehrlich bewundernd.

Urban lächelte und reichte ihr das handtellergroße Werkstück, an dem er gerade arbeitete. Es war ein Mädchenkopf. Als sie ihn näher betrachtete, sah Veronika verblüfft in ihr eigenes Antlitz.

»Das ist ja, als würd’ ich in den Spiegel schau’n«, flüsterte sie.

Es war alles da, der Haarschopf, die kleine Stupsnase, sogar das Grübchen auf der rechten Wange fehlte nicht.

»Ich schenk’s dir, Maria«, sagte Urban.

Das war zuviel. Wutentbrannt sprang das Madel auf und warf das Schnitzwerk mit einer heftigen Bewegung auf den Boden.

»Ich heiß’ Veronika«, schrie sie außer sich. »Geht das net in deinen sturen Schädel ’nein?«

Urban erhob sich. Er schaute sie böse an.

»Schäm’ dich, Kind«, schimpfte er. »Wenn du net gehorchst, sperr’ ich dich ein.«

»Dann tu’s doch«, antwortete Veronika trotzig.

»Du willst es ja net anders«, raunzte Urban und zog sie mit sich.

Wieder der Verschlag. Urban sperrte sie ab.

»Ich laß dich erst wieder raus, wennst artig bist«, drohte er. »Und der Mutter sag’ ich auch, daß du net artig warst, Maria.«

»Veronika! Ich heiße Veronika!« schrie sie verzweifelt und brach in Tränen aus.

Der Alte schlurfte hinaus und kümmerte sich nicht um ihr Geschrei.

Veronika beruhigte sich nur langsam. Sie wischte sich die Tränen ab.

»Christian«, flüsterte sie im Selbstgespräch. »Wo bist du nur?«

Er mußte sie doch vermissen! Suchte er denn nicht nach ihr?

In den letzten Tagen war die Vorstellung, ihr Verlobter könne sich auf die Suche nach ihr gemacht haben, ihre letzte Hoffnung gewesen. Dann mußte ihn sein Weg doch unweigerlich hierher führen.

Ja, bestimmt würde er kommen und sie aus den Fängen dieses Wahnsinnigen befreien. An diese Hoffnung klammerte sie sich. Sie mußte nur Geduld haben. Vor wieviel Tagen hätte sie wieder zur Arbeit kommen müssen? Veronika wußte es nicht mehr. Sie hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren. Aber Christian, er würde sich fragen, warum sie nicht kam und wo sie steckte.

Langsam beruhigte sie sich wieder. Sie lauschte auf die Geräusche, die von draußen hereindrangen. Sie hob den Kopf. Waren da nicht noch andere Stimmen, außer dem Großvater?

Ich will hier endlich raus! schrie es in ihr und sie warf sich mit aller Kraft gegen die Tür des Gefängnisses.

*

Als Urban Brandner vor die Tür trat, sah er sich drei Männern gegenüber. Pfarrer Trenker und der andere von gestern, und noch ein dritter, den der Alte nicht kannte. Mißtrauisch sah er sie an.

»Was wollt’s ihr denn schon wieder«, fragte er grimmig und zog seine Stirn in Falten.

»Mit dir reden, Urban«, erwiderte Sebastian Trenker.

»Ich hab’ nix mit euch zu reden«, gab der Senner zurück und trat in die Tür zurück.

»Nimm Vernunft an, Urban«, sagte der Pfarrer eindringlich. »Wir wissen, daß das Madel, die Veronika, bei dir ist.«

Der Senner machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Ich kenn’ keine Veronika«, brüllte er. »Ich hab’s euch schon gestern gesagt. Bei mir ist nur meine Tochter, die Maria, und die bekommt ihr net!«

Damit sprang er in die Hütte und schlug die Tür zu. Die drei Männer draußen hörten, wie er den schweren Balken vorschob, der die Tür von innen verriegelte. Sie sahen sich vielsagend an.

»Offenbar stimmt unsere Vermutung«, sagte Dr. Wiesinger. »Er hält das Mädchen für seine verstorbene Tochter Maria.«

Christian sprang an die Tür und hämmerte dagegen.

Dabei rief er laut den Namen seiner Braut.

Drinnen stemmte Urban sich zusätzlich gegen die Tür, aus Furcht die Männer könnten sie einschlagen und ihm seine Maria wegnehmen.

Aber das würd’ ihnen net gelingen, eher würd’ er sterben und seine Tochter mit ihm!

Der Alte sah sich um. Die Eingangstür führte direkt in den Gast­raum der Sennenwirtschaft. Sein Blick fiel auf die Petroleumlampen, die über den Tischen hingen.

Und ihm kam eine furchtbare Idee.

Hastig goß er den flüssigen Brennstoff aus den Lampen über Tische, Stühle und Fußboden. Sollten sie nur kommen. Sie würden schon merken, was sie damit anrichteten.

*

Pfarrer Trenker und seine Begleiter beratschlagten sich. Ihnen kam es vor allem darauf an, den alten Senner nicht zu einer unbedachten Handlung herauszufordern, was womöglich eine Gefahr für ihn und das Madel bedeuten konnte.

»Ich werde noch einmal versuchen, in Ruhe mit ihm zu reden«, sagte der Geistliche. »Er war zwar noch nie in unserer Kirche, doch immer wenn ich ihn hier mal besuchte, haben wir interessante Gespräche geführt. Urban kennt mich, und ich glaube, daß wir eigentlich ein gutes Verhältnis zueinander aufgebaut haben.«

Er näherte sich langsam der Sennerhütte. Es stimmte, was er gesagt hatte. Irgendwie schien Urban Brandner ihn zu respektieren, was aber seinen Grund nicht in der Tatsache hatte, daß Sebastian Geistlicher war. Der Pfarrer hatte nie versucht, den Einsiedler zu bekehren, sondern immer das Gespräch, den Dialog mit ihm gesucht. Leider, so mußte er einsehen, hatte er dabei zu wenig über den Menschen Urban Brandner erfahren. Sonst hätte die ganze Geschichte vielleicht einen anderen Verlauf genommen.

»Urban, ich bin’s, Pfarrer Trenker«, rief er gegen die verschlossene Tür. »Komm heraus. Wir wollen dir nichts Böses. Du weißt doch, daß du mir vertrauen kannst.«

»Macht, daß ihr fortkommt!« rief der Alte zurück. »Sonst geschieht ein Unglück!«

Sebastian spürte sein Herz schneller schlagen. Was hatte der Alte vor?

Christian und Toni waren näher gekommen. Sie hatten mitgehört, was der Senner gedroht hatte.

»Um Himmels willen, was meint er?« fragte Veronikas Bräu­tigam.

Der Geistliche hob die Arme.

»Ich weiß es nicht.«

»Hört ihr mich?« brüllte Urban Brandner.

»Ja, wir hören dich.«

»Verschwindet endlich, sonst zünd’ ich die Hütte an. Das ist mein Ernst.«

Es war, als bliebe ihnen allen das Herz stehen, so groß war der Schock. Verzweifelt rannte Christian um die Hütte herum und rief immer wieder Veronikas Namen.

»Was sollen wir tun?« fragte der Arzt. »Ich fürchte, in seinem Zustand ist der Mann zu allem fähig. Wir dürfen seine Drohung, die Hütte anzuzünden, nicht unterschätzen. Er hat das Gefühl, wir wollen ihm etwas wegnehmen, etwas, das sein größter Besitz ist. Das wird er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verhindern wollen.«

»Christian, kommen Sie her«, rief Sebastian dem jungen Mann zu.

Nun galt, sich erst einmal zurückzuziehen und zu beraten, wie sie diese gefährliche Situation entschärfen konnten.

Abseits der Hütte standen sie beisammen und überlegten.

»Notfalls schlage ich ein Fenster ein, um hineinzukommen!« drohte Christian.

»Besser nicht. Wir wissen nicht, was der Alte da drinnen angestellt hat«, wandte Sebastian ein. »Jede unüberlegte Handlung könnte Veronikas Leben gefährden.«

*

Veronika spürte in ihrem Gefängnis, daß da draußen etwas geschah, das ungewöhnlich war. Mehrere Stimmen, von denen sie nur eine als die vom Großvater heraushörte, stritten miteinander. Eine vage Hoffnung keimte in ihr auf.

War das jemand, der sie hier herausholen wollte? Vielleicht sogar – Christian?

Das Madel rief so laut es konnte, den Namen des Verlobten und warf sich mit aller Kraft gegen die Tür, daß es krachte und splitterte. Sie wollte, sie mußte aus diesem Verschlag heraus, und der Groß­vater mußte endlich in ein Krankenhaus. Sein Zustand war immer schlimmer geworden und Veronika wußte, daß hier nur noch ein Arzt helfen konnte.

Doch die Tür gab nicht nach. Wütend und verzweifelt hämmerte die junge Frau dagegen und brach dann weinend zusammen. Schluchzend lag sie auf dem Boden ihres engen Verlieses und flüsterte Christians Namen.

Dann wurde es auch draußen still. Veronika hob lauschend den Kopf.

»Großvater?« rief sie, erhielt aber keine Antwort.

Aber sie ahnte, daß da eine Gefahr war, die sich über der Sennerhütte zusammenbraute.

*

»Ich versuche trotzdem, durch eines der hinteren Fenster einzusteigen«, beharrte Christian Wiltinger.

Die Warterei, daß endlich etwas geschehe, zerrte an seinen Nerven.

»Wenn Sie den Alten vorne ablenken, dann merkt er nicht, was hinter ihm geschieht.«

»Also gut«, willigte der Pfarrer ein. »Versuchen wir’s.«

Er lief zur Tür und redete auf den alten Senner ein, während Christian um die Sennerhütte schlich. Dahinter war der Pferch in dem die Kühe nachts standen. Der junge Mann kletterte über den halbhohen Zaun, durchquerte das Gehege und tastete sich vorsichtig an die Rückseite der Sennerhütte heran.

Dort gab es mehrere Fenster und – Christian frohlockte – eines davon stand halb offen. Vorsichtig schlich er näher und untersuchte das Fenster. Es war von innen mit einem Haken gesichert, der den Flügel festhielt und verhinderte, daß es ganz aufschwang. Christian steckte seine Hand hindurch, und mit einiger Mühe gelang es ihm, den Haken zu lösen. Das Fenster stand weit offen. Es war ein leichtes für ihn, sich hinaufzuschwingen. Er spähte hindurch und sah einen einfachen Raum, eingerichtet mit Tisch und Bettkasten. Eines der Gästezimmer, wie es sie auf jeder Hütte gab, vermutete Christian. Er stieg vollends ein und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Sie quietschte ein wenig, als er sie öffnete, Veronikas Verlobter zuckte unwillkürlich zusammen. Er war der Meinung, das Geräusch müsse man in der ganzen Sennerhütte gehört haben.

Einen Moment lauschte er mit angehaltenem Atem, doch es blieb alles ruhig, bis auf die Stimme des alten Urban, der irgend etwas nach draußen rief, das Christian nicht verstehen konnte. Er hoffte, daß der Pfarrer den Alten lange genug in ein Gespräch verstricken konnte, damit er, Christian, unbemerkt nach Veronika suchen konnte.

Flüsternd rief er nach seiner Braut. Er war aus dem Zimmer getreten und stand nun auf einem kleinen Flur, von dem vier Türen abgingen. Die erste, die er öffnete, führte in einen hellen gekachelten Raum, der größer war, als man von draußen annehmen konnte. Es war die Käserei, wie Christian später noch erfahren sollte. Darin gab es eine weitere Tür, die ins Käselager führte.

Hinter der zweiten Tür war ein kleiner Raum, mit Tisch und Bett. Auf dem Boden lag ein Rucksack, der Christian bekannt vorkam. Mit klopfendem Herzen bückte er sich und hob ihn auf.

Kein Zweifel – dieser Rucksack gehörte Veronika! Er selber hatte ihn ihr in das Zugabteil getragen.

Christian triumphierte innerlich. Das Madel war also hier irgendwo in der Hütte. Der Alte hatte ihn und den Pfarrer belogen, warum auch immer. Nun galt es, so schnell wie möglich, Veronika zu finden und hier herauszubringen, bevor ihr Großvater in seinem Wahn noch ein Unheil anrichtete.

Christian Wiltinger öffnete die dritte Tür und trat ein.

»Christian!« hörte er den Aufschrei seiner Braut.

Verwirrt schaute er sich um. Die Stimme hatte er gehört, das Madel allerdings konnte er nirgends sehen.

»Hilfe, hier bin ich«, rief Veronika und klopfte gegen die Tür ihres Gefängnisses. Plötzlich war sie überzeugt, daß jemand da war. Sie klopfte energischer.

Endlich sah ihr Verlobter die Tür, die sich kaum von der Bretterwand abhob, die den Verschlag vom Rest des Zimmers abtrennte.

»Himmel, wie kommst du denn da hinein?« rief er entsetzt aus und machte sich daran, Veronika zu befreien.

Halb lachend und halb weinend fiel sie ihm um den Hals und drückte ihre Lippen auf seinen Mund.

*

»Der Großvater hat mich dort eingesperrt«, erzählte sie, nachdem sie sich begrüßt hatten.

Christian schüttelte den Kopf.

»Was ist nur in den Mann gefahren?« sagte er. »Der gehört eingesperrt.«

»Du darfst ihm net böse sein«, wendete Veronika ein. »Er ist krank, glaube ich. Er muß unbedingt von einem Arzt untersucht werden.«

Ihr Verlobter sah sich um.

»Wir müssen sehen, daß wir hier rauskommen«, sagte er. »Dein Großvater hat gedroht, die Hütte anzuzünden. Wenn er bemerkt, daß ich hier drin bin – wer weiß, was er dann alles anstellt.«

Veronika hatte unterdrückt aufgeschrien, als Christian ihr von Großvaters Drohung berichtete. Ihr Verlobter zog sie hastig in das Zimmer, durch das er eingestiegen war, da wurde die Tür aufgerissen und Urban Brandner stellte sich in den Weg. Offenbar hatte er doch etwas gehört.

Er sah schrecklich aus. Die Haare standen wirr von dem Kopf ab, und seine Augen flackerten unstet. Man mußte kein Mediziner sein, um zu erkennen, daß der Mann nicht mehr Herr seiner Sinne war.

Doch am schlimmsten war das brennende Holz, das er in den Händen hielt.

Christian schnupperte. Aus dem Gastraum zog der Geruch von Petroleum herein. Der Alte hatte es also wirklich ernst gemeint mit seiner Drohung, die Hütte anzuzünden.

»Großvater, ich bitt’ dich, gib mir den Scheit«, sagte Veronika.

Sie war furchtlos dem alten Senner gegenübergetreten, der sie merkwürdig durchdringend anschaute.

»Maria…?« kam es fragend von den Lippen.

Das Madel sah ihren Verlobten an. Christian nickte ihr aufmunternd zu.

»Ja, Vater«, antwortete sie da. »Was ist denn?«

Der Senner schaute von Veronika auf Christian, und wieder zurück.

»Die Kühe müssen gemolken werden«, sagte er und drehte sich um.

Die beiden jungen Leute sahen sich an, während der alte Urban in den Gastraum zurückging. Immer noch hielt er den brennenden Holzscheit in der Hand. Veronika und Christian folgten ihm vorsichtig. Plötzlich drehte er sich um und stierte sie beide an.

»Du bist net meine Tochter!« schrie er ungestüm und böse und warf das brennende Holz hinter sich.

»Großvater!« schrie das Madel entsetzt.

Hinter dem Alten breitete sich in Sekundenschnelle das Feuer aus.

*

Pfarrer Trenker und Dr.Wiesinger wurden allmählich unruhig. Seit einigen Minuten reagierte Urban Brandner nicht mehr auf ihre Rufe. Zuvor hatten sie sich noch mehr oder weniger unterhalten. Die Unterhaltung bestand im wesentlichen darin, daß Sebastian versuchte, Vorschläge zu machen, damit der Alte die Tür freiwillig öffnete, während Urban dies kategorisch ablehnte und weiterhin drohte, das Haus in Brand zu setzen.

Und von Christian Wiltinger war auch nichts zu sehen oder zu hören.

»Was geschieht darinnen nur?« sagte Toni Wiesinger. »Diese Stille ist beinahe unheimlich.«

Und Sekunden später schien die Hölle loszubrechen. Schreie und Gepolter waren aus der Hütte zu hören. Die beiden Männer sahen sich kurz an, dann stürzten sie zur Tür.

Sie war immer noch geschlossen, aber von irgendwoher drang Brandgeruch.

»Das Fenster«, zeigte der Arzt neben sich.

Ohne weiter zu fragen, nahm er den Ellenbogen und schlug die Scheibe ein. Den Haken zu lösen und das Fenster zu öffenen war eins. Dicker Rauch quoll nach draußen. Sebastian schwang sich nach dem Arzt in die Hütte hinein.

Die Flammen hatten sich weiter ausgebreitet, während Christian und Urban miteinander rangen. Toni Wiesinger kam Veronikas Verlobtem zur Hilfe, während Pfarrer Trenker sich dem Madel anschloß, das aus der Küche Wasser, Feuerlöscher und Decken heranschleppte, um das Feuer zu löschen.

Urban schlug und trat um sich. Es schien, als verleihe ihm seine Wut auf die Eindringlinge Bärenkräfte. Doch gegen zwei Männer konnte er nichts ausrichten. Gemeinsam brachten sie den Alten nach draußen, wo er vor der Hütte zusammenbrach.

Die beiden Männer liefen wieder hinein, und halfen das Feuer unter Kontrolle zu bringen. Gottlob gelang es ihnen schnell und sie konnten verhindern, daß noch größerer Schaden angerichtet wurde. Der Gastraum sah zwar schlimm aus mit den verkohlten Balken und den Spuren von Rauch, aber alles andere war heil geblieben. Lediglich der Brandgeruch würde noch einige Zeit bemerkbar sein.

Erschöpft, aber glücklich trat Veronika ins Freie. Dr. Wiesinger hatte sich um den Großvater gekümmert und ihm eine Spritze gegeben. Beinahe apathisch saß er auf der Bank, in eine Decke gehüllt, die der Arzt aus seinem Wagen geholt hatte.

»Wird er wieder gesund werden?« fragte das Madel angstvoll.

»Es braucht alles seine Zeit«, erwiderte der Arzt. »Aber ich habe gute Hoffnung. Wenn man Ihren Großvater begreiflich machen kann, daß er Sie nicht verlieren wird, was auch immer geschieht, wenn Sie ihm das sagen, und er Sie wirklich versteht, dann glaube ich, daß er eines Tages wieder ganz gesund sein wird.«

Veronika wischte die Tränen aus den Augen und nahm Christians Hand. Zusammen traten sie vor Urban Brandner.

»Großvater, das ist Christian, mein Verlobter«, sagte das Madel. »Ich hab’ dir doch von ihm erzählt. Du mußt jetzt schnell gesund werden, Großvater. Der Christian und ich wollen doch heiraten, und du mußt unbedingt dabeisein.«

Urban hob den Kopf und schaute nur stumm.

»Es stimmt, was die Veronika gesagt hat«, bestätigte Christian. »Und wir wollen Sie net nur bei unserer Hochzeit dabei haben. Wenn Sie es wollen, dann würden die Vroni und ich uns freuen, wenn Sie ganz zu uns kämen.«

Das Madel drückte die Hand ihres Verlobten ganz fest. Es ­schien, als habe er ihre geheimsten Gedanken erraten. Denn, den Großvater zu sich zu nehmen, daran gedacht hatte sie auch schon, aber nicht gewagt, es auszusprechen.

Daß Christian es nun von sich aus vorschlug – war das schönste Geschenk, das er ihr machen konnte.

Sebastian Trenker klopfte dem alten Brandner auf die Schulter.

»Was sagst’ zu diesem Vorschlag?« fragte er. »Lang’ genug hast’ ja gearbeitet. Wird Zeit, daß du dich zu einem geruhsamen Lebensabend zurückziehst.«

Urban sah erst ihn an, dann schaute er auf Veronika und ihren Bräutigam, und ein leises Lächeln huschte über seine Lippen.

*

Ich dank dir, Herr, daß du noch alles zum Guten gewendet hast, betete Sebastian stumm. Allerdings steht mir noch ein schwerer Gang bevor.

Es war noch vor der Abendmesse, als der Pfarrer dieses Gebet verrichtete, und der schwere Gang, an den er dachte, sollte ihn zum Sterzinger-Bauern führen. Er hatte ja Kathie versprochen, sich für sie bei ihrem Vater einzusetzen. Sebastian wußte, daß das kein leichtes Unterfangen werden würde.

Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr zu dem alten Bauernhof hinauf. Es war ein stolzes Anwesen, zu dem eine weitere Alm gehörte, die der Bauer verpachtet hatte, und mehrere Äcker, die er mit zwei Knechten bearbeitete.

Einen Sohn hatte der Sterzinger nicht, obgleich dies sein größter Wunsch gewesen ist. Statt dessen hatte seine Frau ihm ein Madel geschenkt, das der ganze Stolz des Vaters geworden ist.

Und das machte die Angelegenheit so schwierig. Wer immer auf dem Hof einheiratete – er würde schon etwas Geld mitbringen müssen, oder mit anderen Worten – so einer wie der Thomas Anderer kam für den Sterzinger schon gar nicht in Betracht!

Daran dachte Pfarrer Trenker, als er den Wagen vor der großen Scheune abstellte und ausstieg. Katharina Sterzinger kam aus dem Haus gelaufen und begrüßte ihn.

»Der Vater ist in der Wohnstube«, sagte sie, und ihre Augen flackerten aufgeregt.

»Sei ganz ruhig«, klopfte der Pfarrer ihr auf die Schulter.

»Ich hab solche Angst!«

»Das mußt du net.«

Sie gingen hinein. Über die große Diele gelangten sie in das Wohnzimmer. Es war im typischen Stil der bayerischen Bergbauern eingerichtet. Beim Eintreten des Geistlichen stand Joseph Sterzinger auf und kam ihm entgegen.

»Gott zum Gruß«, sagte er und reichte Sebastian die Hand.

Der erwiderte den Gruß und setzte sich auf den angebotenen Sessel.

»Du weißt, warum ich komme, Sterzinger«, begann der Geistliche das Gespräch.

»Weil meine einzige Tochter mit diesem Andererlumpen, diesem Taugenichts, herumzieht«, raunzte der Bauer.

»Nicht ganz«, widersprach Sebastian. »Aber deswegen auch. Zuerst möcht’ ich noch ein paar Worte dazu sagen, was mit dem Thomas vorgefallen ist. Versteh’ mich richtig, was in der Nacht geschehen ist, daran hast du keine unmittelbare Schuld, aber an dem Gerede vorher, der Thomas sei der Kirchenräumer – daran bist auch du net ganz unschuldig.«

Der Sterzinger rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her. Er wußte, daß der Pfarrer recht hatte.

»Es tut mir ja auch leid«, sagte er. »Wenn ich’s mit einer Spende wieder gutmachen könnt’…«

»Ich bin kein Ablaßverkäufer«, antwortete Sebastian.

Er machte eine Pause und schmunzelte über das enttäuschte Gesicht des Bauern.

»Allerdings glaube ich net, daß unser Herrgott etwas gegen eine Spende einzuwenden hat, wenn sie von Herzen kommt.«

Dann kam er zum eigentlichen Grund seines Besuches.

»Du weißt, Sterzinger, daß deine Kathie den Thomas liebt. Die beiden wollen heiraten, und der Thomas will sich eine Arbeit suchen. Meinst net, daß du eine Einwilligung geben solltest?«

Der Bauer zog ein Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen.

»Meine Frau liegt mir schon seit Tagen in den Ohren«, antwortete er. »Aber, ich kann doch mein Madel net einem dahergelaufenen Schläger, wie der Thomas einer ist, geben.Was ist, wenn er eines Tages die Hand gegen die Kathie erhebt?«

»Das wird er gewiß net«, erwiderte Sebastian. »Dafür leg’ ich meine Hand ins Feuer. Außerdem ist der Thomas kein Schläger. Das was da im ›Löwen‹ geschehen ist, ist kein Maßstab, woran man den Anderer messen kann. Ich will ihn net in Schutz nehmen, den Thomas, gewiß ist er kein Musterknabe, und ich hab’ ihn auch viel zu selten in der Kirch’ gesehen. Aber er hat mir versprochen, daß er sich ändern wird.

Und was den Prozeß angeht, den der Bachmeier gegen ihn angestrengt hat – da wird wohl alles auf Notwehr hinauslaufen. Immerhin mußte Thomas sich gegen eine Übermacht wehren. Wenn er überhaupt bestraft wird, dann kann man wohl davon ausgehen, daß diese Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird.«

Der Sterzinger-Bauer stand auf und ging an den Wohnzimmerschrank.

Mit einer Flasche Enzian und zwei Stamperl kam er wieder.

»Also gut«, willigte er ein. »Bevor ich mich noch mit meiner Frau herumstreite – der Thomas fängt bei mir auf dem Hof an, als einfacher Knecht, ohne Sonderrechte, nur weil er mein Schwiegersohn wird. Wenn er tüchtig ist, dann werd’ ich, vielleicht, eines Tages den Kindern den Hof übergeben. Wenn sich herausstellt, daß er nix taugt, dann muß er gehen.«

Sebastian nahm das angebotene Glas.

»Das ist eine kluge Entscheidung, Sterzinger«, lobte er. »Und was deine Spende angeht, die du so großzügig angeboten hast – der Spielkreis im Gemeindehaus benötigt drigend neue Tisch’ und Stühle. Vielleicht kannst dich ja da irgendwie mit einbringen.«

Joseph Sterzinger schluckte, machte aber lieber eine gute Miene zum bösen Spiel.

»Ich werd sehen, was ich da machen kann.«

Pfarrer Trenker verabschiedete sich und ging hinaus.

Auf der Diele wartete Katharina mit bangem Herzen.

»Was hat der Vater gesagt?« fragte sie. »Man hat ja nix gehört.«

»Du hast gelauscht?« tadelte der Pfarrer sie.

»Nur ein bißchen…«

Sebastian lächelte. Er hatte Verständnis dafür, daß Menschen ihre Schwächen eingestanden, und besonders in diesem Fall.

»Der Vater ist einverstanden mit deiner Wahl«, sagte er. »Zwar gibt es da die eine oder andere Bedingung, aber das geht schon in Ordnung.«

Kathie fiel ihm um den Hals.

»Danke, Hochwürden, tausend Dank«, rief sie und lief los, ihrem Thomas zu sagen, daß der Vater wirklich und wahrhaftig einverstanden war.

*

Arm in Arm spazierten Veronika und Christian durch Sankt Johann. Es war ein wundervoller Sommerabend, und die beiden Verliebten genossen ihn wie einen letzten Urlaubstag. Morgen würden sie nach Hause fahren.

Sie überquerten die Straße und kamen an der Kirche vorbei. Drinnen brannte noch Licht, und durch die geschlossene Tür erklang Orgelmusik.

»Sollen wir?« fragte Christian.

Veronika nickte, und sie betraten das Gotteshaus. Die Abendmesse war vorüber, und der Organist nutzte noch ein wenig die Zeit, um in Übung zu bleiben. Die beiden Verlobten setzten sich in eine Bank und lauschten den Klängen. Wie ein Orkan brausten sie durch das Hohe Kirchenschiff.

Veronika und Christian bewunderten die Innenausstattung der St. Johannkirche. Rot- und Blau-töne herrschten vor, und unendlich viel Blattgold. Rechts und links der Bänke hatten die Apostel ihre Plätze, und an den Wänden hingen Gemälde verschiedenster Epochen, die Szenen aus dem Leben der Heiligen wiedergaben. Beeindruckend war das große, schmiedeeiserne Kreuz, das über dem Altar hing mit der Figur des Erlösers darauf.

Die Musik verstummte, und wenig später kam der Organist die Empore herunter. Er verabschiedete sich von den beiden Besuchern mit einem Kopfnicken und ging hinaus.

Veronika und Christian vermuteten, daß sie die letzten wären und wollten ebenfalls gehen, als Pfarrer Trenker aus der Sakristei trat.

»Guten Abend«, begrüßte er sie. »Das ist aber schön, daß Sie unsere Kirche besuchen. Ich freue mich immer, wenn Fremde hereinkommen.«

»Sie ist aber auch ausnehmend schön«, versicherten Veronika und Christian.

»Haben Sie schon Nachricht von Ihrem Großvater?« erkundigte Sebastian sich.

»Ich habe heute abend mit dem Professor gesprochen, der Großvater behandelt«, nickte das Madel. »Er hat mir Hoffnungen gemacht, daß er wieder ganz gesund wird. Großvater hat sogar schon nach mir gefragt. Stellen Sie sich das vor, nach Veronika, net nach meiner Mutter.«

»Wie schön«, freute Sebastian Trenker sich mit den beiden. »Dann wollen wir dankbar sein, daß sich alles so gefügt hat. Ich habe heute übrigens auch eine gute Nachricht erhalten.«

Er führte sie zu dem Bogengang, unter dem die Madonna ihren Platz hatte, und erzählte, was mit der Statue geschehen war.

»Gottlob hat man die Einbrecher ausfindig machen und verhaften können«, berichtete er. »Man hat die Madonna und andere sakrale Gegenstände, die aus weiteren Kircheneinbrüchen stammen, bei den Männern gefunden. In einigen Wochen, wenn die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft beendet sind, bekommen wir unsere Madonna zurück. Natürlich werden wir das mit einem großen Dankgottesdienst feiern.«

»Das ist wirklich ein guter Tag heute«, meinte Christian. »Und ich habe noch einen Wunsch, Herr Pfarrer.«

»Nur zu. Äußern Sie ihn.«

»Sie wissen ja, daß Veronika und ich heiraten wollen, und ich glaube, ich spreche auch im Namen meiner Verlobten, wenn ich Sie bitte, die Trauung vorzunehmen. Wir würden gerne in Ihrer herrlichen Kirche heiraten.«

Sebastian lächelte erfreut.

»Das ist ein Wunsch, den ich Ihnen gerne erfüllen will«, sagte er. »Ich weiß schon heute, daß Sie beide ein glückliches Paar sein werden. Der alte Urban hat es für seinen Lebensabend glücklich getroffen.«

Er reichte ihnen die Hand und verabschiedete sich.

»In einem Vierteljahr sehen wir uns wieder«, versprachen die beiden.

*

Sebastian Trenker hätte jauchzen mögen, so gut ging es ihm. Noch bevor die Sonne aufgegangen war, war er losgezogen. Über steile Hänge und blumenübersäten Wiesen führte sein Weg. Murmeltiere und Marder, Gamsböcke und Wildschafe kreuzten seinen Weg, und der Pfarrer konnte sich gar net satt sehen, an der Vielfalt der göttlichen Schöpfung.

Auf einer bewaldeten Anhöhe rastete er. In der Thermoskanne war heißer Kaffee, und in einer Dose befanden sich Speck und Käse. Dazu gab es das herrliche Brot, das die Haushälterin selber backt. Sebastian machte es sich am Stamm einer Birke bequem und ließ es sich schmecken. Er war mit sich und der Welt zufrieden. Wieder einmal hatte sich alles zum Guten gefügt, und Kummer und Sorgen waren vergessen.

Schon bald würde die Madonnenstatue wieder ihren Einzug in die Kirche feiern, und dann stand ja das große Fest an, an dem Urbans Enkeltochter vor den Traualtar trat.

Auch Kathie und Thomas hatten ihre Hochzeit schon angemeldet, und Sebastian war überzeugt, daß es eine glückliche Ehe werden würde.

Überhaupt war er mit seinen Schäfchen zufrieden, wenn es auch das eine oder andere schwarze Schaf darunter gab – wie den Brandhuber-Loisl mit seinen Arzneien.

Dennoch, das Schicksal meinte es gut mit den Leuten von Sankt Johann, dem liebenswerten Dorf in den Bergen, und wenn doch mal etwas schief lief, dann hatten sie ja immer noch ihren Bergpfarrer…

Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman

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