Читать книгу Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 9

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Es war eine laue Vollmondnacht, als eine dunkel gekleidete Gestalt durchs schlafende Sankt Johann schlich. Immer wieder schaute sie sich um und vergewisserte sich, daß ihr niemand folgte.

Alois Brandhuber, allgemein nur der »Brandhuber-Loisl« genannt, hatte seine Gründe dafür. Wieder einmal war es – nach den Geboten seines geheimnisvollen Zauberbuches – an der Zeit, auf die Suche nach Kräutern, seltenen Pflanzen und Wurzeln zu gehen, die der selbsternannte Wunderheiler des kleinen Bergdorfes

zur Herstellung seiner Tees, Salben und Tinkturen benötigte. Um die Wirksamkeit dieser Heilmittel zu garantieren, bedurfte es

bestimmter Faktoren, von denen das gesamte Gelingen abhing. Zum einen mußte es der rechte Zeitpunkt sein – unbedingt Vollmond –, es mußten die richtigen Worte gesprochen werden, um die Pflanzenkräfte zu beschwören, und es durfte niemand dabeisein und die Zauberworte hören, der nicht ein Eingeweihter war. Deshalb schlich Loisl kurz nach Mitternacht los – in der Hand einen Korb aus Weidenruten – wenn er sicher sein konnte, daß die Leute friedlich in ihren Betten lagen und schliefen.

Der Wunderheiler, wie er sich gerne von seinen Kunden nennen ließ, hatte schon sehnlichst auf diese Nacht gewartet, war sein Vorrat an Salben und Tees seit der letzten Dekade doch beträchtlich geschrumpft. Dies verdankte er weniger seinen dubiosen Künsten, als vielmehr seiner Fähigkeit, den Leuten Krankheiten einzureden, die sie gar nicht hatten, und ihnen dann seine Mittelchen zu verkaufen. Nicht wenige seiner »Patienten« sorgten durch Mundpropaganda für reißenden Absatz. Sehr zum Leidwesen des jungen Dorfarztes Dr. Toni Wiesinger.

Der sympathische Mediziner hatte größte Mühe, die Leute davon zu überzeugen, daß er ein ›richtiger‹ Arzt war. In Sankt Johann war man der Meinung, wer keine grauen Haare hatte und nicht gebückt ging, konnte kein Arzt sein. So war nämlich das Bild des verstorbenen Arztes, Dr. Bechtinger, gewesen, der mehr als vierzig Jahre in Sankt Johann praktiziert hatte. Vor einem guten halben Jahr war Dr. Bechtinger gestorben, noch bevor er den verdienten Ruhestand antreten konnte, und Dr. Wiesinger hatte die Praxis übernommen. Seitdem kämpfte er um seine Anerkennung gegen Aberglaube und Kurpfuscherei. Ein scheinbar aussichtsloser Kampf, denn immer wieder mußte er erleben, daß die Leute, anstatt zu ihm in die Praxis zu kommen, die armselige Tagelöhnerhütte aufsuchten, in der der Brandhuber-Loisl hauste.

Immerhin wurde Toni Wiesinger in seinem Kampf von Sebastian Trenker unterstützt. Der Pfarrer der St. Johanniskirche und der junge Dorfarzt waren sich schon beim ersten Augenblick ihres Kennenlernens sympathisch gewesen, und Pfarrer Trenker wurde nicht müde, von der Kanzel herunter gegen die Dummheit der Leute anzureden.

Doch nickten sie in der Kirche noch beifällig und schüttelten den Kopf über den Leichtsinn anderer, sich dem Loisl anzuvertrauen, so liefen sie bestimmt nach dem Kirchgang in seine Hütte, wenn ein Zipperlein sie plagte.

*

Toni Wiesinger wälzte sich schlaflos in seinem Bett hin und her. Das Haus mit der Praxis stand in einer kleinen Straße, die zum Kirchplatz führte, und genau darüber stand der volle Mond, dessen Licht in das Schlafzimmer des Arztes fiel.

Dr. Wiesinger sah auf den Wecker auf dem Nachtkästchen. Gerade Mitternacht vorbei. Vielleicht würde es etwas helfen, wenn er ein Glas Milch trank und dann noch ein wenig in der Zeitung blätterte. Seufzend warf er die Bettdecke ab und setzte sich auf. Die Hausschuhe standen vor dem Bett. Der Arzt schlüpfte hinein und ging hinunter in die Küche. Mit dem Milchglas in der Hand öffnete er die Tür zum Wohnzimmer. Den Lichtschalter brauchte er nicht zu betätigen, das Mondlicht erhellte den Raum genügend. Neben dem Fenster stand ein Tisch, auf dem allerlei Zeitungen und Illustrierte lagen, darunter auch eine medizinische Fachzeitschrift, die zu lesen Toni noch nicht die Zeit gehabt hatte.

Während er nach der Zeitschrift suchte, fiel sein Blick aus dem Fenster. Stirnrunzelnd nahm er die dunkle Gestalt wahr, die eben an seinem Haus vorbeischlich, in Richtung Kirche.

Dr. Wiesinger wurde sofort aufmerksam. Wenn jemand um diese Zeit so durch das Dorf ging, konnte das nichts Gutes bedeuten, und vor nicht allzu langer Zeit hatte es erst einen Einbruch in die Kirche gegeben, bei dem eine wertvolle Madonnastatue geraubt worden war.

Die Polizei hatte die Diebe zwar dingfest machen können, und die Statue war längst wieder an ihrem angestammten Platz, doch Nachahmer gab es immer wieder. Allerdings wollte der Doktor, ohne einen konkreten Verdacht, nicht gleich die Pferde scheu machen, darum beschloß er, die merkwürdige Gestalt zunächst einmal alleine zu verfolgen und herauszufinden, wer sie war und was sie vorhatte.

Er eilte ins Schlafzimmer und zog sich blitzschnell an. Dann rannte er die Treppe hinunter, schloß die Haustür auf und lief auf die Straße. Von der Gestalt war nichts zu sehen, doch der Arzt ahnte die ungefähre Richtung, in die sie gegangen sein mußte. Und richtig – als Toni Wiesinger an der Kirche um die Ecke bog, schlurfte sie in einigen Metern Entfernung vor ihm.

Die Kirche war also nicht das Ziel, dennoch war Toni neugierig geworden, zumal ihm die geheimnisvolle Gestalt zumindest von der Statur her bekannt vorkam. Der Arzt folgte in einigem Abstand und achtete darauf, immer im Schatten der Häuser und Bäume zu bleiben, an denen er vorüberkam.

Es war schon sehr merkwürdig, wie der Dunkelgekleidete sich verhielt. Ab und zu blieb er stehen, schaute sich um, warf einen Blick zum Himmel und schlurfte dann weiter, aus dem Dorf hinaus. Einmal, als er wieder zum Himmel hinaufschaute, drehte er sich dabei in Tonis Richtung, und der Arzt erkannte, wen er da vor sich hatte.

Den Brandhuber-Loisl!

Na, Bursche, dir bleib’ ich auf den Fersen, dachte der junge Mediziner, wenn du hier nächtens durch die Gegend schleichst – dann willst’ bestimmt irgendeinen Schabernack aushecken!

*

Der Brandhuber war an einer großen Wiese angekommen, die bis an den Berghang heranreichte. Unmengen von Blumen und Wildkräutern wuchsen auf ihr. Bärlauch und Enzian, Rittersporn und Fingergut, Ringelblumen. Loisl hüpfte von einer Stelle zur anderen, pflückte Pflanze um Pflanze und gab dabei ein beschwörend klingendes Gemurmel von sich.

Toni Wiesinger hatte sich hinter den Pfosten eines Weidezaunes gedrückt, der einen Teil der Wiese begrenzte. Zuerst konnte er gar nicht verstehen, was der Alte da vor ihm tat, doch dann dämmerte es ihm allmählich, und er wußte nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Schließlich war das, was Loisl da machte, auch gegen ihn, den Mediziner, gerichtet. In erster Linie sogar.

Nach einer guten Weile hatte der Wunderheiler offenbar seinen Korb gefüllt, denn er reckte und streckte sich, um seinen, vom vielen Bücken angestrengten Rücken zu entspannen. Dann jedoch machte er sich nicht auf den Heimweg, wie Toni annahm, sondern Loisl stellte den gefüllten Korb mitten auf der Wiese ab, so daß er vom vollen Licht des Mondes beschienen wurde, und tanzte dann einen sonderbaren Reigen um den Korb herum. Dabei sprang er von einem Bein auf das andere und rief irgendwelche Worte, die der Arzt zwar hören, deren Sinn er aber nicht verstehen konnte.

Toni richtete sich auf und schlich näher heran.

»Summcum – rummdum, Kräfte des Mondes, Geister der Nacht – gebt diesen Pflanzen eure Kraft«, rief der Alte und stierte dabei den Mond an, so daß er gar nicht bemerkte, daß Toni Wiesinger hinter ihm stand.

Alois Brandhuber meinte, sein Herz rutschte ihm in die Hose, als er plötzlich eine Stimme vernahm, die ihm ins Ohr brüllte.

»Da schau her«, rief Dr. Wiesinger ärgerlich. »Mummenschanz und fauler Zauber. Damit willst’ also Kranke heilen, du Scharlatan!«

Er stieß wütend mit dem Fuß gegen den Korb, der samt Inhalt umkippte und sich entleerte.

Loisl hatte sich von seinem ersten Schrecken erholt und erkannt, daß es net der Leibhaftige war, der ihn in seiner Zeremonie störte. Trotzdem stand er immer noch verdattert da und rang mühsam nach Fassung. Endlich hatte er sich wieder in der Gewalt.

»Meine Kräuter, meine Blumen«, jammerte er, und plötzlich wuchs ein unerbittlicher Haß gegen den Arzt in ihm.

»Des wirst’ mir büßen«, sagte er mit gefährlich klingender Stimme.

Der Arzt schaute ihn nur, spöttisch lächelnd, an. Einen Moment lang fixierten sie sich mit ihren Blicken, schienen einen stummen Kampf auszufechten, dann drehte Dr. Wiesinger sich um, ging davon.

Loisl sah ihm hinterher, dann schaute er auf den umgestürzten Korb, und erneute Wut stieg in ihm auf. Nicht nur, daß dieser Arzt ihn in seiner Handlung gestört hatte – Dr. Wiesinger war zudem kein Eingeweihter, und somit hatte er durch seine Anwesenheit die Kräfte, die auf die Pflanzen übergegangen waren, unwiederbringlich zerstört! War dies schon schlimm genug, so kam hinzu, daß Loisl nun bis zum nächsten Vollmond warten mußte, bevor er erneut auf die Suche gehen konnte.

Und sein Vorrat schrumpfte zusehends.

Loisl ballte die Hände zu Fäusten und blickte in die Richtung, in die der Arzt gegangen war.

»Des zahl’ i’ dir heim!« rief er. »Bis auf den letzten Heller!«

*

»Hochwürden, einen müssen S’ aber noch mittrinken«, rief Vinzenz Leitner und schwenkte die Flasche mit dem Obstler in Sebastians Richtung.

»Laß’ gut sein«, schüttelte der Pfarrer den Kopf. »Einen hab’ ich gern’ mitgetrunken, aber der reicht mir.«

Sebastian Trenker war anläßlich des achtzigsten Geburtstages der Altbäuerin, Maria Leitner, Gast auf dem Bauernhof. Seit dem Nachmittag hatte sich dort eine fröhliche Gesellschaft versammelt, die die Jubilarin hochleben ließ. Und dazu mußte immer mit Selbstgebranntem angestoßen werden. Das Rezept dazu stammte noch vom Großvater selig, der es von seiner Wanderschaft in Tirol mitgebracht hatte, als er sich seinerzeit als Knecht verdingte, bevor er den alten, maroden Hof, in der Nähe von Sankt Johann, erwarb und wieder auf Vordermann brachte.

Heute war Vinzenz der Bauer. Er hatte den Hof nach dem Tode des Vaters übernommen und bewirtschaftete ihn zusammen mit seiner Schwester Theresa, während sich die noch rüstige Mutter auf dem Altenteil ausruhte.

Beinahe das ganze Dorf war auf den Beinen, und man hatte die große Scheune ausräumen müssen, um Platz für alle Gäste zu schaffen. Sebastian Trenker hatte man, so wie es sich gehörte, den Ehrenplatz neben Maria Leitner zugewiesen, während sein Bruder Max am anderen Ende der langen Tafel saß.

Der Dorfpolizist war bester Laune und feierte kräftig mit. Schon bald hatte sich ein Kreis junger Burschen um ihn geschart, und die Stimmung war auf dem Höhepunkt. Da war Max in seinem Element. Der Bruder des Pfarrers war noch nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, und man konnte ihn überall finden, wo eine Gaudi war.

Witze wurden gerissen und nach den Madeln geschaut, und schließlich marschierte die Blaskapelle ein, um der Altbäuerin ein Ständchen zu bringen. Danach spielten die Musikanten zum Tanz auf.

Max wirbelte nur so über die Tanzfläche, und sein Übermut riß das Leitner-Resl mit. Mit feurigen Augen schaute das Madel ihn an, während es sich in seinen Armen wiegte, und ebenso glutvoll sah Max zurück.

»Der nächste Tanz gehört mir auch«, rief er, als die Musik endete und er sie an die Bar führte.

Resl warf stolz die braunen Haare zurück. Sie fühlte sich geschmeichelt, daß der gutaussehende Polizist sie so umwarb.

»Mit einem Schnapserl ist’s aber net getan«, sagte sie kokett und sah ihn augenzwinkernd an.

»Ich bleib’ nix schuldig«, lachte Max zurück. »Was immer du willst – du bekommst es.«

Theresas Herz pochte schneller. Schon immer hatte sie ein Aug’ auf den feschen Max geworfen, doch bisher schien er sie noch net so recht wahrgenommen zu haben. Bis heute.

»Für’s erste reicht mir ein Busserl«, flüsterte sie in sein Ohr und schaute sich verstohlen um.

Ihr älterer Bruder stand drüben bei der Musik und sah nicht herüber. Bestimmt hätte er es net gelitten, wenn sie sich so eng an den Bruder des Herrn Pfarrer schmiegte.

Die Bar war eine provisorische Theke am anderen Ende der Scheune, hinter der Lorenz, der Altknecht, stand und Bier und Schnaps ausschenkte. Daneben führte ein schmaler Gang in den Kuhstall hinüber. Max drängte das Madel in diesen Gang, und gleich darauf fanden sich ihre Lippen zum Kuß.

»Max, Max, schenkst du mir dein Herz?« seufzte Theresa zwischen zwei Küssen.

»Ich tät’ dir auch zwei schenken, wenn ich zwei hätte«, lachte Max Trenker und schwenkte sie herum.

»Ist das wirklich wahr?« fragte das Madel. »Du hast mich wirklich gern?«

»Aber natürlich«, nickte der Dorfpolizist und lugte durch den Gang in die Scheune.

Es wäre ihm unangenehm gewesen, wenn Vincents Leitner sie beide so gesehen hätte. Es war im Dorf allgemein bekannt, daß der Bauer keinen Spaß verstand, wenn es um die Ehre seiner Schwester ging, und Resl’s Liebesschwüre gingen selbst dem guten Max, der wahrlich kein Kostverächter war, zu weit. Aber bevor er sich verabschieden konnte, hing sie sich bei ihm ein und seufzte:

»Ich hab’ mein ganzes Leben auf dich g’wartet.« Max rieb sich nervös das Ohr, in das sie eben geseufzt hatte.

Sie kamen gerade aus dem Gang und standen wieder an der Bar. Max sah sich um und schaute geradewegs in das Gesicht des Bauern, der verschwörerisch grinste und ihnen beiden zuzwinkerte.

Puh, dachte der junge Polizeibeamte, so langsam mußt’ aber wieder einen klaren Kopf bekommen! Er schlug das angebotene Glas aus und wand sich aus Theresas Arm. Leicht wankend suchte er den Weg nach draußen.

»Wo willst denn hin?« rief das Madel ihm nach.

»An die Luft«, gab er zurück. »Ist so heiß hier drinn’.«

»Na komm’, ich bring dich heim«, sagte sein Bruder, der neben ihn getreten war und ihn am Arm packte.

Sebastian Trenker schüttelte halb belustigt, halb bös’ den Kopf und setzte Max in seinen Wagen.

Wann würde der Bruder Leichtfuß endlich vernünftig werden?

*

Unter den Feiernden war auch ein junges Madel, das etwas abseits des ganzen Trubels saß. In der Hand hielt es ein Weinglas und schaute zu den Tanzenden hinüber. Gern hätte Christel Hornhauser sich ebenfalls in den Armen eines feschen Burschen über den Tanzboden gleiten lassen, doch bisher hatte niemand sie aufgefordert. Dabei war Christel wahrlich kein Mauerblümchen. Mit den dunkelbraunen Augen wirkte sie zwar wie ein scheues Reh, doch das kleine kecke Näschen und die vollen roten Lippen konnten einen Mann schon verzaubern.

Das mußte wohl auch Tobias Hofer gedacht haben. Der Bursche, Knecht im dritten Jahr auf dem Lechnerhof, schob sich an den Tanzenden vorbei, direkt auf das Madel zu, das er schon eine ganze Weile im Blick hatte.

»Möchtest’ tanzen?« fragte er Christel.

Die schaute ihn überrascht an.

»Wie bitte?«

»Ob du tanzen möchtest?«

Das Madel sprang auf und stellte das Glas ab.

»Sehr gerne.«

Die Kapelle spielte gerade einen Walzer, und Christel glaubte zu schweben. Stundenlang hätte sie so tanzen mögen, und dazu mit solch einem feschen Partner.

Unverschämt gut schaute er aus, der Tobias. Christel hatte ihn einige Male gesehen, wenn sie auf den Hof kam.

Das Madel war mehr als sechs Monate im Jahr droben auf der Jenner-Alm, wo es zusammen mit der Mutter die Sennenwirtschaft betrieb. Nur heuer, zum Geburtstag der Altbäuerin, war sie heruntergekommen.

Ja, fesch ist er schon, und du mußt aufpassen, daß du dich net in ihn verguckst, dachte Christel. So einer war doch bestimmt schon in festen Händen. Die anderen Madeln mußten ja mit Blindheit geschlagen sein, wenn sie so einen frei herumlaufen ließen!

Sie seufzte innerlich. Was soll’s, morgen war sie wieder droben auf der Alm, und der Tobias würde sie sicher schon nach diesem Tanz vergessen haben.

Aber Tobias dachte gar nicht daran. Er tanzte diesen Walzer mit ihr, und den nächsten Tanz und den übernächsten, und Christel spürte ihr Herz vor Aufregung pochen. Dann führte er sie an die Theke, und sie tranken prickelnden Sekt, und nach dem zweiten Glas ging es zurück auf die Tanzfläche.

»Wirst’ gar net müd?« fragte das Madel lachend, als Tobias auch weiterhin auf dem Tanzboden blieb.

»Du etwa?« fragte er zurück und zwinkerte mit dem Auge.

»Nein, aber ich glaub’ ich muß bald gehen, es ist schon spät.«

»Schad’. Wo wohnst denn? Ich bring’ dich heim.«

»Eigentlich auf der Jenner-Alm, aber heut’ übernachte ich bei der Tante, drüben, in Sankt Johann.«

Wie selbstverständlich hakte er sie unter und brachte sie aus der Scheune.

»Da drüben steht mein Wagen«, zeigte er auf ein kleines rotes Auto.

*

Christels Herz klopfte noch schneller, als sie neben ihm saß. Viel zu schnell waren sie in Sankt Johann angekommen, und nun hielt der Wagen vor dem Haus der Tante.

»Ja, also, ich geh’ dann mal«, sagte sie und reichte ihm zum Abschied die Hand. »Vielen Dank fürs Herbringen.«

Tobias nahm ihre Hand und zog sie ganz zu sich heran.

»Weißt du eigentlich, daß du wunderschöne Augen hast?«

Christel erschauerte unwillkürlich. Langsam zeichnete sein Finger die Konturen ihres Gesichts nach, und seine Augen schienen auf den Grund ihrer Seele zu blicken. Sie ließ es geschehen, daß er sie in die Arme nahm, und sein suchender Mund fand ihre Lippen.

Christel löste sich aus seinen Armen. Sie lächelte.

»Ich muß gehen.«

»Sehen wir uns wieder?« fragte er hoffnungsvoll.

»Wenn du willst…«

»Ob ich will?« rief Tobias aus. »Madel, ich bin bis über beide Ohren in dich verliebt. Natürlich will ich dich wiedersehen. Morgen, übermorgen – jeden Tag, den der Herrgott werden läßt!«

Er hielt inne und schaute sie fragend an.

»Magst’ mich auch? Vielleicht ein bissl’?«

Christel nickte glücklich.

»Ja, Tobias, und net nur ein bissel, sondern sehr.«

Er küßte sie noch einmal, und für Sekunden war die Welt um sie herum versunken.

Daher bemerkten sie auch nicht die Gestalt, die in einiger Entfernung hinter einem Baum stand und den kleinen roten Wagen beobachtete.

Ein paar Meter weiter stand ein anderes Auto, das dem der Christel und Tobias vom Lechnerhof gefolgt war. Lore Inzinger kochte vor Wut, als sie Tobias den ganzen Abend mit dem anderen Madel tanzen sah, und als er dann die andere dann auch noch nach Hause brachte, da war der Kessel kurz vorm explodieren. Tobias war ihr Freund, seit mehr als einem Jahr! Gut, sie hatte, wie schon so oft, einen Streit vom Zaun gebrochen und ihn wieder einmal zum Teufel gejagt. Aber das war doch nicht ernst gemeint, und Tobias wußte das! Sich gleich an eine andere heranzumachen – wart’ Bursche, so haben wir net gewettet.

So leicht wirst’ mich net los, dachte Lore. Du wirst noch an mich denken – ihr beide werdet an mich denken. Die Flausen werd’ ich euch austreiben!

Wütend stieg sie in ihren Wagen und brauste davon. Die beiden jungen Menschen, die sich gerade erst gefunden hatten, ahnten nichts von der dunklen Wolke, die da auf sie zuschwebte.

*

Das beständige Klopfen an die Tür seiner Dienststelle riß Max Trenker aus tiefstem Schlummer. Um ihn herum drehte sich alles, und sein Schädel dröhnte, als marschiere eine ganze Armee darin.

Verschlafen zog er seine Uniform an und eilte zur Tür.

»Was gibt’s denn? rief er und drehte den Schlüssel um. Draußen stand Dr. Wiesinger. Er sah ziemlich wütend aus.

»Herr Doktor, ist was passiert?«

»Das kann man wohl sagen«, schnaubte Toni. »Ich möchte eine Anzeige erstatten.«

Max gähnte und sah auf die Uhr, während er Toni Wiesinger eintreten ließ. Schon halb acht. Wäre der Arzt nicht gekommen, dann hätte er glatt seinen Dienst verschlafen!

Mühsam versuchte der Polizeibeamte sich zu erinnern, was am Vortag geschehen war, und langsam fiel es ihm auch wieder ein – die Geburtstagsfeier bei Maria Leitner…

»So, eine Anzeige wollen Sie erstatten«, wiederholte er die Worte des Arztes. »Gegen wen denn, und warum?«

Sie waren mittlerweile im Dienstzimmer angekommen, und Max bot den Stuhl vor seinem Schreibtisch an, während er sich auf seinen dahinter setzte.

»Gegen Alois Brandhuber«, sagte Toni erregt. »Wegen Kurpfuscherei und Schlarlatanerie.«

Max sah den Beamten nichtverstehend an.

»Was ist denn vorgefallen?« fragte er.

Dr. Wiesinger schilderte, wie er den selbsternannten Wunderheiler verfolgt und beobachtet hatte.

»In der Nacht zu gestern, sagen Sie?«

Max Trenker zuckte die Schulter. Zwar hatte er ein Blatt Papier in die Schreibmaschine eingespannt, um das Protokoll aufzunehmen, aber noch kein Wort geschrieben.

»Also wissen S’, Herr Doktor, ich glaub’ net, daß wir weit damit kommen«, sagte er und riß das Papier wieder aus der Maschine. »Es gibt kein Gesetz, das dem Brandhuber-Loisl verbietet, nachts Kräuter zu sammeln, egal ob bei Mondschein oder Regen.«

Er hob beide Hände, als der Arzt protestierend den Mund öffnete.

»Ich weiß, die Sache mit dem Lärchner-Bauern.«

Ignaz Lärchner, ein Bauer aus Sankt Johann, wäre beinahe an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben, weil seine Frau mehr an die Künste des Brandhuber-Loisl geglaubt hatte, als an die des Mediziners Toni Wiesinger. Erst das Eingreifen des Pfarrers hatte das Schlimmste verhüten können.

»Aber sehen Sie, Herr Doktor, der Lärchner ist wieder gesund, und er selber müßte Anzeige gegen den Loisl erstatten, wegen Körperverletzung, oder was weiß ich – dann gäbe es vielleicht einen Staatsanwalt, der sich damit befaßt. Aber so – Blumenpflücken im Mondenschein und Beschwörungsformeln – das mag zwar verrückt sein, verboten ist’s aber net.«

Toni Wiesinger atmete tief durch. Er hatte beinahe geahnt, daß er mit seinem Vorhaben, den Brandhuber anzuzeigen, keinen Erfolg haben würde. Aber, nachdem er in der Nacht wieder nach Hause gegangen war, hatte er kein Auge mehr zugebracht, und den ganzen Sonntag über hatte er sich so geärgert, daß er sich endlich Luft machen mußte. Doch im Grunde wußte er, daß der Polizist recht hatte.

»Ich seh’s ein«, nickte er resigniert und stand auf. »Aber die Leut’ soll’n sich net wundern, wenn sie wie die Fliegen wegsterben, weil sie sich solch dubiosen Künsten anvertrauen.«

Auf dem Weg in seine Praxis schaute er in der Kirche vorbei. Betrübt erzählte er Pfarrer Trenker von seinen Erlebnissen mit dem alten Kauz. Sebastian konnte auch nicht mehr tun, als verständnislos mit dem Kopf schütteln.

»Des Menschen Dummheit ist oft grenzenlos«, sagte er tröstend und lud den Arzt für den Abend auf ein Glas Wein ein.

Toni Wiesinger sagte freudig zu und verabschiedete sich.

*

Nachdem der Arzt gegangen war, steckte Max Trenker seinen Kopf erst einmal unter den Wasserhahn. Schnaufend und prustend ließ er sich das kalte Wasser darüber laufen.

Der Tag fängt ja gut an, dachte er, wenn man wegen solch einer Lappalie aus dem Bett geholt wird. Das einzig Gute daran war, daß er so seinen Dienst nicht verschlafen hatte. Vielleicht hätte es sogar niemand bemerkt, Max arbeitete in der Dienststelle alleine, doch war es in den beinahe fünfzehn Dienstjahren, die Max nun schon Polizeibeamter war, noch nie vorgekommen, daß er zu spät kam.

Wäre ja auch noch schöner, wenn so ein bißchen feiern einen von seinen Pflichten abhalten könnte!

Das Telefon klingelte. Max trocknete sich das Haar mit einem Tuch ab und nahm gleichzeitig den Hörer ab.

»Polizeidienststelle Sankt Johann, Maximilian Trenker am Apparat«, meldete er sich.

»Grüß Gott, Max, ich bin’s, die Theresa«, vernahm er die fröhliche Stimme seiner gestrigen Tanzpartnerin.

»Grüß’ dich, Resl«, sagte er, ein wenig verdutzt. »Was verschafft mir die Ehre deines Anrufes?«

»Du warst gestern plötzlich verschwunden«, klagte das Madel. »Ohne dich zu verabschieden. Das war net schön von dir!«

Max schmunzelte, eingedenk der wilden Küsse im Gang hinter der Bar. Busseln konnte das Madel, das mußte man ihm lassen.

»Tut mir leid, Resl«, entschuldigte er sich. »Weißt’, mir war net gut. Mein Bruder hat mich nach Haus’ gefahren.«

»Aber, das versteh’ ich doch«, flötete Theresa. »Aber sag’, wann sehn’ wir uns denn wieder?«

Max schluckte schwer. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Sollte sich das Madel wirklich in ihn verliebt haben?

Heiliger Valentin, steh’ mir bei, nur das net!

»Ja…, also weißt’…«, stotterte er. »Eigentlich hab’ ich gar kein’ rechte Zeit. Heut’ net und morgen auch net. Mein Bruder, also, der Herr Pfarrer, ja also, der braucht mich unbedingt in einer wichtigen Angelegenheit. Da braucht er meine Hilfe…«

Theresa schwieg einen Augenblick.

»Also gut, dann übermorgen«, sagte sie entschieden. »Am Abend. Der Vinzenz hat ’was mit dir zu bereden, meint er. Wegen uns – da gäb’ es noch allerhand zu regeln.«

Max glaubte, nicht recht verstanden zu haben.

»Was meinst du?« rief er ins Telefon. »Wieso wegen uns? Was heißt das?«

Er spürte, wie es ihm heiß und kalt wurde, aber Theresa antwortete nicht mehr. Statt dessen hauchte sie ihm einen Kuß durch die Leitung und legte auf.

Max stand einen Moment wie ein begossener Pudel da und starrte den Telefonhörer an, den er immer noch in der Hand hielt. Was das Madel da gerade gesagt hatte – das verhieß nichts Gutes. Der junge Polizist spürte förmlich körperlich, wie sich da eine Falle um ihn zusammenzog.

*

»Sind wir net bald da?« fragte Hubert Brunnenmayr und verzog das Gesicht vor Schmerzen.

Er saß auf der hintersten Bank des kleinen Reisebusses und hoffte, daß die Fahrt bald zu Ende sein möge. Lange würde er es nicht mehr aushalten, die Schmerzen im Bauch wurden immer unerträglicher.

»Ich frag’ mal«, sagte Heinrich Burghaller.

Der junge Mann stand auf und ging nach vorne zum Busfahrer. Die zehn anderen Reisegefährten bekamen von alledem nichts mit. Es war eine fröhliche Runde von zwölf gestandenen Mannsbildern, Mitglieder des Kegelclubs »Alle Neune«, die zu einem Ausflug unterwegs waren. Ihr Ziel war St. Johann, wo sie im Hotel »Zum Löwen« Zimmer gebucht hatten. Sie wollten einmal ein Wochenende ohne ihre Ehefrauen verbringen. Dementsprechend ging es in dem Reisebus hoch her, und die Stimmung war gleich nach der Abfahrt auf dem Höhepunkt angelangt.

Hubert Brunnenmayr plagten bereits seit ein paar Tagen arge Bauchweh, und er hatte schon überlegt, ob er nicht besser zu Hause bleiben sollte. Doch dann hatten die Kegelbrüder auf ihn eingeredet, und die Schmerzen waren zeitweise sogar ganz fort gewesen, so daß er sich entschloß, doch mitzufahren. Nun waren die Bauchweh wiedergekommen, ärger als zuvor. Hubert verzog wiederholt das Gesicht und krümmte sich.

»Der Fahrer meint, in einer Viertelstunde sind wir da«, verkündete Heinrich Burghaller und setzte sich wieder. »Sind wohl sehr schlimm, die Schmerzen, was?«

Hubert Brunnenmayr nickte nur stumm.

»Komm, trink’ einen Schluck, das hilft«, meinte Heinrich und hielt ihm die Enzianflasche hin.

Hubert schüttelte den Kopf.

»Besser net«, antwortete er. »Ich leg’ mich gleich ins Bett, wenn wir da sind. Vielleicht hilft ein Kamillentee.«

Heinrich schüttelte sich, mußte dem Kegelbruder aber recht geben – Enzian war vielleicht doch nicht die richtige Medizin.

Endlich hielt der Bus auf dem Parkplatz des Hotels. Die Männer stiegen aus, und der Fahrer holte das Gepäck aus der Luke an der Seite.

»Also, dann wünsche ich ein schönes Wochenende«, sagte er zum Abschied. »Am Sonntag abend hol’ ich euch wieder ab.«

Der Löwenwirt, Sepp Reisinger, und seine Frau, Irma, begrüßten die Gäste und verteilten die Zimmer. Hubert Brunnenmayr bestellte ein Glas Kamillentee und legte sich gleich ins Bett, während die anderen der Reisegruppe es sich erst einmal im Gastraum gemütlich machten. Heinrich Burghaller, der das Zimmer mit Hubert teilte, vergewisserte sich, daß es dem Kegelbruder etwas besser ging, bevor er sich zu den anderen gesellte.

»Brauchst’ wirklich nix mehr? Oder sollen wir besser einen Arzt kommen lassen?«

»Nein, nein«, wehrte Hubert ab. »Es geht schon. Wirklich, mach’ dir keine Gedanken.«

Die Gruppe hatte für den morgigen Tag eine Wanderung in die Berge geplant, und Hubert freute sich schon riesig darauf. Bestimmt würden die Schmerzen nach ein paar Stunden Schlaf wie fortgeblasen sein.

*

Im Gastraum herrschte Hochstimmung. Die beiden feschen Kellnerinnen, die große Platten und Schüsseln mit Braten, Knödeln und Kraut servierten, fanden den Beifall der männlichen Gäste.

»Wie geht’s dem Hubert?« fragte einer, nachdem Heinrich sich gesetzt hatte.

Er winkte ab.

»Er sagt zwar, daß es ihm besser geht, aber ich weiß net recht…«, erwiderte Heinrich Burghaller. »Vielleicht sollten wir doch besser einen Arzt rufen.«

»Ach was«, rief ein anderer. »Der Hubert braucht bloß einen ordentlichen Schnaps, dann ist er schnell wieder auf den Beinen.«

»Bloß nicht!« rief der nächste dazwischen. »Mit solchen Magenkrämpfen ist net zu spaßen.«

Drüben von der Theke stand einer auf und trat zu der Gruppe.

»Entschuldigen S’, wenn ich mich einmische«, sagte er. »Ich hab’ da Ihre Unterhaltung mit angehört. Habt’s ihr einen Kranken dabei?«

»Wieso?« fragte Joseph Vierlinger. »Sind Sie am End’ gar ein Doktor?«

Der Mann gefiel ihm nicht so recht, er sah ein bißchen heruntergekommen aus.

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Net direkt«, meinte er. »Aber ich versteh’ ein bissel was davon.«

Er zog eine Tüte aus der Jackentasche.

»Dieser Tee wirkt wahre Wunder«, pries er sein Kraut an. »Ich hab’ ihn selbst zusammengestellt.«

»Meinen Sie, das Zeug wirkt?« fragte Heinrich eine der Kellnerinnen.

Die blonde Ines nickte.

»Ja, freilich«, rief sie im Brustton der Überzeugung. »Das ist der Brandhuber-Loisl. Der ist doch so etwas wie ein Wunderdoktor.«

»Was soll der Tee denn kosten?« wollte Heinrich wissen.

Loisl grinste innerlich, offenbar hatte er es wieder einmal geschafft, einen von seinen Zaubertränken zu überzeugen.

»Fünfzig Mark«, sagte er frech und hielt die Hand auf.

»Ein stolzer Preis«, meinte Heinrich Burghaller und zückte seine Geldbörse. »Aber wenn’s hilft…«

»Sie werden’s sehen«, versprach der Brandhuber-Loisl. »Es sind ganz seltene Kräuter darin, die muß man lange suchen. Deshalb ist’s auch so teuer – und wegen der Wirkung.«

Heinrich gab den Tee an die Kellnerin weiter.

»Bitt’schön, sein S’ so gut, und lassen S’ etwas davon aufbrühen und meinem Kollegen aufs Zimmer bringen«, bat er.

Ines nickte und verschwand, während Alois Brandhuber mit einem Grinsen auf den Lippen zurück an den Tresen ging, wo er einen weiteren Enzian bestellte.

*

Sophie Tappert goß das Gemüse ab und schwenkte es anschließend in reichlich Butter. Dann arrangierte sie die gedämpften Pastinaken auf der Platte mit dem gekochten Fisch und träufelte zusätzlich etwas Butter darüber. Auf dem Tisch dampften schon die Kartoffeln, und Max Trenker bekam große Augen, als die Haushälterin seines Bruders die Platte dazustellte. Ein herrlich blau gekochter Waller lag darauf. Der Gendarm war froh, es wieder einmal so eingerichtet zu haben, daß er rechtzeitig zum Mittagessen im Pfarrhaus ankam.

Allerdings hatte Frau Tappert die Portionen ohnehin so berechnet, daß es immer für einen Esser mehr reichte.

Sebastian Trenker schaute seinen Bruder an. Irgendwie machte Max an diesem Tag einen merkwürdig abwesenden Eindruck auf ihn.

»Ist etwas?« fragte der Geistliche.

Max schüttelte den Kopf.

»Was soll sein?« fragte er zurück.

»Ich weiß nicht«, sagte der Pfarrer. »Du wirkst so nachdenklich.«

Max aß augenscheinlich langsamer als sonst.

»Also, net direkt…«

»Nun komm, ich seh’ dir doch an der Nasenspitze an, daß dich etwas beschäftigt.«

Max warf einen Blick zu Sophie Tappert hinüber, es wäre ihm mehr als unangenehm gewesen, würde die Haushälterin erfahren, in was er da hineingeraten war. Der Bruder des Pfarrers war beinahe so etwas wie ein Sohn für die Frau, und Sophie Tappert ließ es sich nicht nehmen, Max zurechtzuweisen, wenn sie der Meinung war, daß er wieder einmal allzusehr über die Strenge geschlagen habe.

Doch gerade in diesem Moment stand sie auf und räumte die Schüsseln und Teller ab. Dann verschwand sie in der Speisekammer, wo sie den Pudding zum Auskühlen hingestellt hatte.

»Ich bräuchte da mal deinen Rat«, druckste Max herum und schielte dabei auf die Speisekammertür.

Sebastian Trenker verstand.

»Wir reden nachher in meinem Arbeitszimmer«, raunte er seinem Bruder zu.

Sophie Tappert kam mit dem Pudding zurück. Max Trenker schaute sie forschend an. Hatte sie etwas bemerkt? Wohl nicht. Die Haushälterin füllte ihm seinen Dessertteller besonders voll und goß reichlich von dem Himbeersirup über den Vanillepudding.

»Das Essen war wieder einmal ein Genuß«, bedankte der Geistliche sich bei seiner Haushälterin.

»Es schmeckt himmlisch!« bestätigte auch Max und nahm sich noch einen Löffeln voll.

Sophie Tappert sah ihn eine Sekunde schweigend an, dann stand sie auf.

»Essen Sie nur, Max, Sie werden es brauchen«, sagte sie und ging hinaus.

Der Gendarm sah seinen Bruder verdutzt an.

»Wie, wie meint sie denn das?« fragte er.

Sebastian hob die Schulter.

»Keine Ahnung«, antwortete er. »Vielleicht weiß Frau Tappert mehr als du ahnst…«

*

Beim Abendessen ging es Hubert Brunnenmayr schon sehr viel besser.

»Dieser Tee hat wahre Wunder bewirkt«, meinte er.

»Na ja, teuer genug war er auch«, sagte Heinrich Burghaller.

»Dann stimmt das also mit dem Wunderdoktor?« fragte ein anderer, zwischen zwei Bissen Schinkenbrot. »Dann muß ich unbedingt für meine Frau was von dem Tee mitbringen. Vielleicht hilft’s ja auch bei ihrem Ischias.«

Alle waren sich einig, am nächsten Morgen unbedingt den Wunderdoktor aufzusuchen und dieses oder jenes für die Ehefrauen daheim zu kaufen.

»Wer weiß«, witzelte einer, »vielleicht wirkt das Zeug ja auch verjüngend.«

»Oder unsere Frauen werden so schön, wie die Madeln, die immer bei den Modeschauen herumlaufen.«

»Bloß net«, schrie ein anderer dazwischen. »Dann wollen’s auch die teuren Klamotten anziehen. Des kann i mi net leisten.«

Sie lachten und witzelten durcheinander, und hinter dem Tresen stand Sepp Reisinger und rieb sich die Hände. Diese Truppe lohnte! Was die allein an Schinkenbroten verzehrte, war unglaublich – von den Getränken ganz zu schweigen. Und für morgen hatten sie alle Privatpakete geordert – doppelte Portionen!

Nach dem Abendessen hatte die Gruppe zwei der vier Kegelbahnen reserviert, da würden bestimmt noch mal etliche Maß getrunken werden. Insgeheim bedankte Sepp sich bei seiner Frau. Irma war es nämlich gewesen, die den Vertrag mit einem Reisebüro abgeschlossen hatte, um in der Nebensaison die Zimmer nicht leerstehen zu haben. Alles in allem lag der Tourismus in St. Johann noch ziemlich brach. Es gab außer dem Hotel noch einige Pensionen, aber das richtig große Geschäft mit Sommer- und Winterurlaubern, wurde in den Orten gemacht, in denen es Attraktionen wie Seilbahnen, Sklifte und Eisbahnen gab.

Sepp schaute nachdenklich auf das Treiben der Kegelbrüder – noch ein paar von der Sorte konnte das Hotel ganz gut vertragen. Außerdem hatte der Bürgermeister – unter der Hand natürlich – so einiges anklingen lassen. Der Bruckner-Markus hatte noch allerhand vor mit dem kleinen aufstrebenden Ort St. Johann. Dazu war es natürlich notwendig, daß er wieder in sein Amt gewählt wurde. Nun, an Sepp Reisinger sollte es net liegen, seine Stimme würde der amtierende Bürgermeister bekommen, und der Löwenwirt war sicher, daß die anderen Geschäftsleute sich seiner Meinung anschlossen. Schließlich profitierte jeder davon, wenn noch mehr Touristen hierher kamen.

Mit diesen Gedanken zog der Wirt sich in sein Büro zurück und überließ die Arbeit seinen Angestellten. Bei einem Glas Rotwein träumte er vom Ausbau des Tourismusgeschäftes und von den satten Gewinnen, die er einstreichen würde.

*

Auf der Jenner-Alm ging alles seinen gewohnten Gang. Maria und Christel Hornhauser betrieben die Almwirtschaft seit dem Tode des Mannes und Vaters nun schon sechs Jahre alleine. Besonders Maria zog es vor, hier droben zu bleiben, wo alles an den geliebten Mann erinnerte. Sie mochte net hinunter ins Dorf ziehen, wenngleich sie wußte, daß es für das Madel net gut war, hier in der Einsamkeit der Berge zu sein, ohne all die anderen jungen Leute, die an den Wochenenden ihren Vergnügungen nachgingen. Darum hatte sie der Christel auch gerne erlaubt, zum Geburtstag der Leitner-Bäuerin ins Tal hinunter zu gehen.

Doch etwas beunruhigte die Sennerin. Seit ihrer Rückkehr aus St. Johann, wo sie bei Kathie Herlinger, Marinas Schwester, übernachtet hatte, schien Christel irgendwie verändert. Sie wirkte manchmal abwesend und schaute oft versonnen lächelnd vor sich hin, und Maria argwöhnte, daß das Madel sich verliebt haben könnte…

Net, daß sie ihr das net gönnen täte – aber vielleicht schwang auch ein bisserl Furcht darin mit, eines Tages hier oben alleine bleiben zu müssen.

Beim Mittagessen, es gab eine einfache, aber köstliche Mahlzeit aus Pellkartoffeln und Quark, versuchte Maria behutsam ihre Tochter auszufragen.

»Wie war’s denn auf dem Geburtstag der Leitnerin?« fragte sie. »Du hast ja noch nichts erzählt. Und die Tante Kathie, hat sie keine Grüße ausrichten lassen?«

Christel wurde mitten aus ihren Gedanken gerissen, in denen sie natürlich beim Tobias war. Es war ein herrliches Gefühl, verliebt zu sein. Das Herz klopfte schneller, und die Welt schien noch bunter und schöner zu sein, als sie es ohnehin schon war.

»Schön war’s«, beantwortete das Madel die Frage seiner Mutter. »Und natürlich soll ich Grüße von der Tante ausrichten.«

Maria Hornhauser schaute Christel eindringlich an. War sie nicht leicht rot geworden, fragte sich die Mutter.

»Und sonst war nix?«

»Was meinst’ denn?«

Christel spürte, wie ihr die Röte heiß ins Gesicht schoß.

»Geh’, Madel, stell dich net so an. Du weißt genau, was ich meine.«

Christel sah das Schmunzeln im Gesicht der Mutter und konnte nicht anders. Sie fiel Maria um den Hals.

»Wie heißt er denn?« fragte die Sennerin.

»Tobias. Tobias Hofer. Er arbeitet im dritten Jahr auf dem Leitnerhof.«

Maria Hornhauser strich der Tochter über das Gesicht.

»Dann möchtest morgen wohl wieder ins Tal hinunter?«

Christel nickte.

»Aber nur, wenn du nix dagegen hast«, sagte sie. »Ich würd’ schon gerne mit Tobias zum Tanzen gehen.«

»Ach, woher«, antwortete ihre Mutter. »Die Arbeit ist getan, und so viele Wandersleut’ erwarte ich in dieser Saison net mehr. Geh nur, wenn die Tante dich wieder bei ihr schlafen läßt, weiß ich, daß du in guten Händen bist. Und vielleicht stellst ihn mir mal vor, deinen Tobias.«

»Bestimmt«, nickte Christel. »Er will mich ja abholen.«

Fröhlich und beschwingt brachte sie den Rest des Tages hinter sich. Heut’ war ja schon Freitag, und schon morgen abend würde sie in Tobias Armen liegen.

*

Auch Tobias Hofer dachte jede Minute an das Madel. Er war nie ein Kind von Traurigkeit gewesen und hatte so mancher das Herz gebrochen. Aber bei Christel hatte es ihn selbst zum erstenmal so richtig erwischt. Sein Herz brannte lichterloh, und er freute sich unbändig auf den morgigen Tag, an dem er sie wiedersehen würde. Bereits am Nachmittag wollte er zur Jenner-Alm hinauf und Christel abholen, und für den Abend hatten sie verabredet, zum Tanzen in den ›Löwen‹ zu gehen.

Himmel, was würden die anderen für Augen machen! Besonders Lore Inzinger.

Einmal hatte Tobias geglaubt, Lore sei die Liebe seines Lebens. Das attraktive Madel arbeitete in einem großen Hotel in der Kreisstadt. Dorthin war es gegangen, nachdem Lore ihre Lehre beim Löwenwirt absolviert hatte. Doch immer wieder zog es sie nach St. Johann zurück, und jeden freien Tag, den sie hatte, verbrachte sie hier. So hatten sie und Tobias sich eines Samstags kennengelernt. Bei beiden schien es Liebe auf den ersten Blick zu sein. Doch schon nach ein paar Monaten war der erste Zauber verflogen, und Lore zeigte, daß sie launisch und zänkisch sein konnte. Immer öfter wurde Tobias zur Zielscheibe ihrer Streitlust. Einmal war es völlig unbegründete Eifersucht, die sie dazu trieb, ein anderes Mal gefiel ihr das momentane Wetter nicht und war deshalb Anlaß für einen Streit, der damit enden konnte, daß sie Tobias den Laufpaß gab.

So war es auch vor einer guten Woche gewesen.

Aus dem Nichts heraus hatte Lore wieder einmal einen Streit vom Zaun gebrochen. Tobias, der gute Miene zum bösen Spiel machte, versuchte nicht darauf einzugehen, doch darüber wurde das Madel nur noch böser, und schließlich und endlich sagte Lore ihm, es sei aus!

Das hatte sie schon einige Male getan, aber dann hatte es sich doch immer wieder eingerenkt, was zum großen Teil an Tobias’ Gutmütigkeit lag, mit der er Lores Launen ertrug. Doch so langsam hatte sich auch seine Geduld erschöpft. Er war es leid, immer wieder den Anfang zu machen und hatte sich nicht wieder bei Lore gemeldet.

Für ihn war es wirklich beendet.

Als er dann auf der Feier der Leitner-Bäuerin dieses junge, scheue Madel entdeckte, das da so abseits saß, da verschwendete er keinen Gedanken mehr an Lore Inzinger.

Tobias hatte gerade den großen Traktor in die Scheune gefahren, als Monika Leitner, Vinzenz’ Frau, nach ihm rief.

»Tobias, Telefon für dich«, sagte sie, als er an der Haustür ankam. »Lore möchte dich sprechen.«

Der Knecht verzog in gespielter Verzweiflung das Gesicht. Monika wußte um die Geschichten der beiden und quittierte sein Mienenspiel mit einem Lächeln.

»Hallo, Tobias«, vernahm er ihre Stimme, nachdem er sich gemeldet hatte. »Ich hab’ solche Sehnsucht nach dir. Warum meldest du dich net?«

Tobias schüttelte den Kopf.

»Was soll das, Lore?« fragte er ärgerlich. »Wenn ich mich recht erinnere, dann ist es aus mit uns beiden. Du selber hast gesagt, ich soll mich zum Teufel scheren. Hast du das schon vergessen.«

»Ach, geh«, säuselte sie durch das Telefon. »Das war doch net so gemeint. Du kennst mich doch. Ich bin eben temperamentvoll und manchmal ein bisserl leicht reizbar.

Aber, darüber können wir doch ein anderes mal reden. Weißt’, ich rufe an, weil ich morgen den Dienst tauschen könnt’. Dann hätt’ ich am Abend und Sonntag frei und könnte nach Sankt Johann rüberkommen. Was hältst du davon. Wir waren schon lange net mehr im Löwen tanzen.«

Tobias verzweifelte innerlich. Das war das letzte, was er wollte. Und das sagte er auch recht deutlich.

»Da halte ich gar nichts davon«, sagte er energisch. »Ich werd’ zwar morgen abend im Löwen tanzen, aber net mit dir. Und wenn’s das immer noch net begreifst – ich werd’ dich nimmer wiedersehen!«

Damit hängte er ein.

Er hatte so laut gesprochen, daß Monika Leitner, die in der Küche wirtschaftete, jedes seiner Worte verstehen konnte. Als Tobias aus dem Wohnzimmer kam, wo das Telefon stand, nickte sie ihm aufmunternd zu.

»Recht so«, meinte sie. »Die Christel paßt auch viel besser zu dir.«

Ihr Knecht sah sie überrascht an.

»Du weißt…?«

»Freilich«, lachte sie. »Ich hab’ euch beide doch am Geburtstag meiner Schwiegermutter gesehen und beobachtet. Du hast ja keinen Tanz auslassen wollen. Und später hast du die Christel heimgefahren. War’s denn schön?«

Den letzten Satz hatte sie mit einem Augenzwinkern gesagt.

Tobias schmunzelte. Seit er auf dem Hof angefangen hatte, war Monika Leitner so etwas wie eine große Schwester für ihn geworden, mit der er über alles reden konnte, was ihn bedrückte. Und so manches Mal hatte er ihr sein Leid geklagt, wenn er wieder unter Lores Launen zu leiden hatte.

»Wunderschön«, gestand er. »Weißt du, die Christel ist genau das Madel, das ich mir immer gewünscht habe. Ich kenn’ sie zwar erst seit ein paar Tagen wirklich richtig, aber es ist, als hätte der liebe Gott sie für mich gemacht. Ich weiß gar net, wo ich früher meine Augen hatte. Gesehen hab’ ich sie zwar, aber net so richtig wahrgenommen.«

»Du hast dich schon richtig entschieden«, sagte Monika.

*

»Nur noch eine Stunde, dann machen wir Rast«, sagte Heinrich Burghaller, der die Spitze der Wandergruppe übernommen hatte.

Er trug nun den großen Rucksack mit Wanderkarten und Proviant. Eine der Karten hatte er in der Hand und verfolgte darauf den Weg.

»Wenn wir dort drüben weitergehen, dann müßten wir eigentlich gleich die Zwillinge sehen«, deutete er dann nach Osten.

Mit den Zwillingen meinte er das imposante Bergmassiv mit dem Himmelsspitz und der Wintermaid, das beinahe dreitausend Meter in die Höhe ragte.

»Nach zwei Kilometern kommt eine Berghütte, wo wir uns ausruhen.«

Heinrich warf einen besorgten Blick auf Hubert Brunnenmayr. Der nickte ihm aufmunternd zu.

»Alles in Ordnung«, sagte er und klopfte auf die Brusttasche seines Anoraks. »Den Tee hab’ ich auch dabei.«

In einer Thermoskanne, die in einem der anderen Rucksäcke steckt, hatte Irma Reisinger ihnen heißes Wasser mitgegeben, damit Hubert sich während der Wanderpausen von dem Wundertee aufbrühen konnte. Vorsichtshalber hatte er am Morgen weitere zwei Tüten vom Brandhuber-Loisl erstanden.

Überhaupt war der Morgen ein gutes Geschäft für den Hallodri gewesen. Beinahe seinen gesamten Vorrat an Kräutern und Mixturen hatten die Männer des Kegelvereins ihm abgekauft, und Loisl verfluchte Dr. Wiesinger, der ihm die Grundlage seines Geschäftes zerstört hatte. Natürlich waren durch diese »Engpässe« in der Kräuterbeschaffung auch die Marktpreise gestiegen…

So hatte er nur bedauernd mit der Schulter gezuckt, als die Nachfrage nach dem Wundertee seinen Vorrat überstieg.

Hubert Brunnenmayr indes war davon überzeugt, ein wahres Wundermittel gekauft zu haben, und so reute ihn auch das Geld nicht. Schon zum Frühstück hatte er, statt des üblichen Kaffees, Kräutertee getrunken und fühlte sich blendend. Auch jetzt spürte er nichts mehr von den gräßlichen Bauchschmerzen, und er freute sich jetzt schon auf den deftigen Bauernspeck, den es zum Mittagessen geben sollte.

Der Weg zur Berghütte führte über schmale Pfade und ausgetretene Wege. Die Männer mußten immer wieder aufpassen, daß sie nicht daneben traten.

»Im Dunkeln möcht’ ich aber net hier langlaufen«, meinte einer, und die anderen gaben ihm recht.

Schließlich kamen sie bei der Hütte an. Während das Essen und die Getränke verteilt wurden, schaute Heinrich mit zwei anderen die Wanderroute auf der Karte nach.

»Bis jetzt sind wir gut drei Stunden unterwegs«, sagte Heinrich Burghaller. »Die müssen wir für den Rückweg unbedingt einkalkulieren, sonst kommen wir in die Dunkelheit.«

»Richtig«, nickten die beiden anderen. »Also jetzt ist es zwölf – wenn wir gegen eins weitergehen, dann sollten wir uns überlegen, wann wir wieder im Hotel sein wollen. Ich denk’, bis sieben

wird’s einigermaßen hell sein.«

»Das hat der Reisinger-Sepp auch gesagt«, bestätigte Hubert Brunnenmayr, der sich zu ihnen gesellt hatte. »Allerdings hat er auch gemeint, daß es manchmal zu plötzlichen Wetterumschwüngen kommt. Dann sollten wir sehen, daß wir wieder im Tal sind. Mit einem Gewitter in den Bergen ist net zu spaßen.«

In der einen Hand hielt er ein kerniges Bauernbrot, in der anderen den Becher der Thermoskanne mit Tee gefüllt.

»Eigentlich schmeckt das Zeug ja abscheulich«, meinte er. »Aber es scheint zu helfen. Seit gestern abend sind die Schmerzen wie weggezaubert.«

Die Männer kamen überein, nicht weiter als zwei Stunden zu marschieren. Die Warnung vor einem Unwetter hatte den einen oder anderen nachdenklich werden lassen, und sie wollten kein Risiko eingehen. Zumal sie das, was sie bisher gesehen hatten, schon reichlich für die Strapazen ihrer Bergtour entschädigte.

Die majestätischen Gipfel, deren Spitzen den Himmel zu kitzeln schienen, das satte Grün der Berghänge und die Vielfalt an Pflanzen und Tieren erstaunte sie immer wieder. Beinahe alle hatten Fotoapparate dabei, und was immer es an Sehenswürdigkeiten gab, wurde im Bild festgehalten.

*

Gegen drei Uhr nachmittags gab Heinrich Burghaller das Zeichen zur Umkehr. Die Gruppe hatte noch einmal Rast gemacht und lagerte auf einer Wiese, die bis an einen bewaldeten Hang reichte. Oberhalb davon ragten zerklüfftete Felsen in die Luft. Ein Bussardpaar kreiste davor.

Noch einmal wurde der Proviantrucksack geöffnet, doch die meisten hatten keinen Hunger mehr. Ein paar Brote blieben übrig. Schließlich machten sich die Männer wieder auf den Rückweg. Heinrich Burghaller, der fast am Ende der Gruppe marschierte, sah sich nach Hubert Brunnenmayr um. Der Freund war in der letzten Stunde immer schweigsamer geworden. Sollten die Schmerzen zurückgekehrt sein?

Heinrich wußte, daß der Freund eher schweigen würde, als es zuzugeben.

Er wartete, bis die anderen vorbei waren und hielt Hubert dann am Arm fest. Der schaute ihn aus glasigen Augen an und krümmte sich.

»Halt! Anhalten!« rief Heinrich den anderen zu.

Eiligst kamen sie zurückgelaufen.

»Was ist los?«

Hubert preßte die Hände auf den schmerzenden Leib. Um ihn herum schien sich alles zu drehen.

»Ich… ich kann net mehr«, stöhnte er und brach zusammen. Hilfreiche Hände fingen ihn im letzten Moment auf und ließen ihn zu Boden gleiten.

Dann standen sie um ihn herum und sahen sich ratlos an.

Hubert Brunnenmayr zitterte am ganzen Körper.

»Wir müssen ihn zudecken«, rief einer. »Bis der Fieberanfall vorüber ist. Dann müssen wir sehen, daß wir ins Tal zurückkommen.«

Glücklicherweise hatten sie eine Rettungsfolie dabei, die sie über den Kranken legten. Einer goß noch einmal von dem Tee auf und sie flößten Hubert vorsichtig davon ein.

Ein paar schlugen vor, sich zu trennen und aus dem Tal Hilfe zu holen. Andere waren dagegen. Sie meinten, man solle lieber zusammenbleiben. Die Diskussion wurde beendet, als ein Blitz die anbrechende Dämmerung durchfuhr, und gleich darauf ein Donnerschlag von den Berghängen wiederrollte.

»Gütiger Himmel«, murmelte jemand. »Jetzt kommt ein Wetter!«

»Es hilft nichts«, ergriff Heinrich Burghaller die Initiative. »Wir müssen sehen, daß wir die Berghütte erreichen.«

Er warf einen Blick auf Hubert.

»Und dann müssen wir beten, daß es nicht schlimmer wird mit ihm.«

Abwechselnd stützten sie den Kranken, während sie den Weg zur Hütte suchten. Bei einigen machten sich die Anstrengungen der Wanderung jetzt auch bemerkbar. Sie rangen nach Luft, und Pausen mußten öfter eingelegt werden.

Das Gewitter setzte schließlich schneller ein, als sie erwartet hatten. Es überraschte sie, als die Männer gerade wieder weitergehen wollten. Bis zur Hütte mußte es nach ihrer Einschätzung noch eine gute Stunde zu laufen sein. Der Himmel öffnete seine Pforten, und der Regen fiel sintflutartig zur Erde. Dazu blitzte und krachte es, und jeder Donner hallte als vielfaches Echo von den Bergen zurück.

All dies war noch nicht so schlimm. Das größte Übel war, daß es urplötzlich dunkel wurde und man kaum mehr die Hand vor den Augen sehen konnte. Es war mehr ein Tasten, als ein Gehen, und jeder Schritt mußte genau abgewägt werden.

Die Gruppe hatte einen schmalen, vom Regen ausgewaschenen Pfad betreten. Vorsichtig, jeden Fuß einzeln vor den anderen setzend, kam sie voran. Dabei mußten sie noch mehr auf Hubert Brunnenmayr acht geben, der immer noch gestützt wurde. Seine Kräfte alleine reichten nicht mehr aus.

Ewald Obermeyer, der als letzter ging, trug den Rucksack mit den Resten des Proviants und den Wanderkarten über der rechten Schulter. Wie alle anderen, war er bis auf die Haut durchnäßt. Der Regen war so stark, daß er sogar die Windjacken durchdrungen hatte. Die Gruppe schob sich langsam über den Pfad, rechts davon ging es in die Tiefe. Aufgrund der Dunkelheit konnte man nicht erkennen, wie tief es hinunter reichte. Ewald tastete sich langsam an der Felswand entlang, seine Finger rutschten über den nassen Stein. Plötzlich blendete ihn ein greller Blitz, und für einen Moment achtete er nicht darauf, wohin er trat. Sein rechte Fuß trat ins Leere. Ewald schrie auf und griff instinktiv nach einem Halt. Er bekam seinen Vordermann zu packen und krallte sich an ihm fest. Dabei rutschte der Rucksack, der nur locker über der Schulter gehangen hatte, herunter und glitt von seinem Arm. Vergeblich versuchte Ewald, danach zu greifen, er konnte nicht verhindern, daß der Rucksack in der Tiefe verschwand.

Der Vordermann hatte ihn festgehalten. Zitternd lehnte Ewald an dem Felsen und atmete tief durch.

Irgendwo dort unten, wo der Rucksack lag – dort hätte auch er liegen können…

*

Mit merkwürdig weichen Knien stieg Max Trenker aus seinem Dienstwagen. So lange wie möglich hatte er den Besuch auf dem Leitnerhof hinausgeschoben, doch nun gab es kein Zurück.

Beinahe drohend stand das alte Bauernhaus vor ihm in der Abenddämmerung. Keine Menschenseele war zu sehen, und über dem Hof lagen dunkle Wolken. Es schien sich ein Unwetter zusammenzubrauen – und Max hatte das unbestimmte Gefühl, nicht nur über dem Leitnerhof, auch über seinem Kopf könnte heute ein Donnerwetter niedergehen.

Langsam ging er zum Haus hinüber und klopfte an die Tür. Er mußte nicht lange warten, schon nach wenigen Sekunden wurde ihm geöffnet.

»Grüß’ dich, Max«, sagte Vinzenz Leitner und streckte ihm die Rechte entgegen. »Komm herein.«

Max war zwar mit dem Dienstwagen gekommen, trug aber Zivil. Damit es nicht allzu feierlich wirkte, hatte er sich allerdings leger gekleidet. Der gute Anzug hing zu Hause im Schrank.

Vinzenz führte den Gendarm in das Wohnzimmer. Max machte große Augen, als er den gedeckten Kaffeetisch sah.

»Grüß Gott, miteinander«, nickte er.

Um den Tisch herum saßen Monika und Resl Leitner. Ein Gedeck war für den Besucher vorgesehen. Es stand neben Theresas. Max hatte keine andere Wahl, als sich neben das Madel zu setzen. Resl strahlte ihn liebevoll an, und ihr Bruder schmunzelte so merkwürdig, daß es Max immer unbehaglicher wurde.

Monika Leitner schenkte Kaffee ein, und Resl verteilte den Kuchen. Dabei achtete sie darauf, daß Max ein besonders großes Stück bekam. Sie unterhielten sich über dieses und jenes, und Max glaubte schon, einem Irrtum unterlegen zu sein. Offenbar hatte er Resl am Telefon falsch verstanden, und die Einladung hatte gar nichts mit der Geburtstagsfeier und dem, was da zwischen ihm dem Madel gewesen war, zu tun.

Erleichtert aß er seinen Kuchen und sagte auch nicht nein, als ihm ein zweites Stück angeboten wurde. Schließlich kam das Unausweichliche dann doch auf ihn zu.

Die beiden Frauen erhoben sich.

»Wir lassen euch jetzt alleine«, sagte Monika. »Ihr habt ja einiges zu besprechen.«

Resl blinzelte Max zu und folgte ihrer Schwägerin nach draußen. Vinzenz stand ebenfalls auf. Er ging an den alten Bauernschrank und holte eine Flasche Enzian und zwei Gläser heraus. Damit kam er an den Tisch zurück.

»So, Max«, sagte er, nachdem er den Schnaps eingegossen und seinem Gast ein Glas hingestellt hatte, »jetzt wollen wir mal über den eigentlichen Grund für diese Einladung reden.«

Er setzt sich wieder, während dem Polizisten immer mulmiger zumute wurde.

»Obwohl«, winkte Resl’s Bruder ab, »soviel zu bereden gibt’s ja auch wieder net. Wie die Resl sagt, seid ihr euch einig. Was soll ich mich da noch groß einmischen. Geld genug verdienst du, um eine Familie zu ernähren, und eine kleine Mitgift bekommt das Madel natürlich auch.«

Er hob sein Glas und prostete Max zu.

»Also, als Schwager bist mir willkommen. Meinen Segen habt ihr, und den von der Mutter werdet ihr auch bekommen.«

Max hatte sein Glas nicht angerührt. Er räusperte sich. »Also, wenn ich da auch mal was sagen dürft’… ich… ich glaub’, da liegt ein Irrtum vor…«

Vinzenz Leitner beugte sich vor und schaute ihn aus großen Augen an.

»Was? Wie meinst’ denn das, ein Irrtum?«

»Ja,… ich glaub’, die Resl, die…, also, ich weiß net, aber wir haben doch nur getanzt«, stammelte er.

Vinzenz stand auf und baute sich vor Max auf. »Nur getanzt?« brüllte er so laut, daß der arme Max unwillkürlich zusammenzuckte. »Willst du etwa bestreiten, daß ihr euch geküßt habt? Daß du ihr dein Herz schenken wolltest, daß du ihr die Ehe versprochen hast? Ist das alles net wahr?«

Max hob beschwichtigend die Hände.

»Ein Busserl vielleicht«, gab er zu. »Aber das war doch ganz harmlos.«

»So, harmlos nennst du das, einem Madel die Ehre zu nehmen und es dann sitzenzulassen«, rief Vinzenz Leitner, immer noch erregt. »Weißt du, wie man das nennt, Max Trenker? Brechen eines Eheversprechens nennt man das, und das kommt dich teuer zu stehen. Jawohl!«

Max sprang jetzt auch auf.

»Ich hör’ mir diesen Unsinn net mehr länger an«, sagte er empört. »Ich laß’ mich doch net für etwas verantwortlich machen, das ich gar net zu verantworten habe.

Hör’ zu, Leitner-Bauer, da war nix mit deiner Schwester, und da wird auch nie ’was mit ihr sein. Ich fahr’ jetzt heim, und wenn ich noch einmal diesen Quatsch höre, dann steck’ ich dich wegen groben Unfugs in die Zelle. Und die Resi gleich mit!«

Sprach’s und verschwand durch die Tür. Vinzenz Leitner schaute ihm verdattert hinterher.

Draußen auf der Diele stand Resl und schaute Max angstvoll an.

»Was hat’s denn gegeben?« fragte sie. »Der Vinzenz hat ja so laut gebrüllt.«

»Ein Donnerwetter hat’s gegeben«, antwortete Max und sah sie erbost an. »Und wenn dieser Blödsinn net aufhört, gibt’s ein noch viel schlimmeres!«

Mit diesen Worten schlug er die Haustür hinter sich krachend ins Schloß, und wie zur Bestätigung seiner Worte, entlud sich am Himmel ein rollender Donner.

*

Sebastian Trenker saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb an seiner Predigt für den nächsten Tag. Allerdings war er nicht so recht bei der Sache. Was Max ihm da gebeichtet hatte, ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Wenn das stimmte, was der Bruder befürchtete, dann saß Max ganz schön in der Tinte. Sebastian wußte, daß mit Vinzenz Leitner nicht zu spaßen war, und wenn der Bauer annahm, die Resl und Max wären sich einig, dann würde er auch auf eine Hochzeit bestehen. Max konnte sich nicht erklären, was der Leitner-Bauer sonst von ihm wollte. Gut, er hatte mit der Resl geflirtet und getanzt, aber mehr war doch net gewesen.

So recht glauben, daß an der Geschichte etwas dran wäre, mochte der Geistliche auch nicht. Dazu kannte er seinen Bruder viel zu gut. Max würde niemals leichtfertig einem Madel die Ehe versprechen, und wenn es so gewesen wäre – ihm, dem Pfarrer und Bruder, würde er die Wahrheit gesagt haben, davon war Sebastian Trenker überzeugt.

Es klopfte an der Tür, und Sophie Tappert trat ein. Sie brachte den abendlichen Tee. Schon lange hatte Sebastian Tranker es sich angewöhnt, abends, besonders dann, wenn er irgendwelche Bücher studierte, oder seine Predigten schrieb, einen duftenden Tee zu trinken. Erst recht bei solch einem Wetter, wie es heute herrschte. Der Regen hatte erst vor ein paar Minuten nachgelassen.

Die Haushälterin stellte die Kanne auf ein Stövchen, das sie vor Jahren als Urlaubsandenken aus Ostfriesland mitgebracht hatte. Es war einer ihrer wenigen Urlaube gewesen, die sie wirklich weit fort verbracht hatte. Zum ersten Mal war sie damals an der Nordsee gewesen. Es hatte ihr zwar gefallen, im hohen Norden, aber viel lieber fuhr sie in die nähere Umgebung. Weiter, als bis Passau oder Regensburg mochte sie nicht fahren. Dazu hing sie viel zu sehr an der Heimat.

»Vielen Dank, Frau Tappert«, sagte Pfarrer Trenker, während er scheinbar geistesabwesend den Stoß Papiere sortierte, der da vor ihm auf dem Schreibtisch lag.

Die Haushälterin blickte ihn forschend an. In den Jahren, die sie nun schon in seinen Diensten stand, hatte Sophie Tappert ein untrügliches Gespür dafür entwickelt, wenn Pfarrer Trenker mit irgendeinem Problem nicht weiterkam, und Sebastian hatte so manches Mal dankbar auf ihren Ratschlag zurückgegriffen.

»Beschäftigt Sie etwas, Hochwürden?« fragte sie denn auch. Sebastian kannte seine Perle nur zu gut und wußte, daß er nichts vor ihr verheimlichen konnte.

»Ja«, sagte er. »Die Sache mit Max geht mir nicht aus dem Kopf. Ich glaube ihm, daß er der Resl nix versprochen hat.« Er schaute auf die Uhr.

»Eigentlich müßte er ja bald da sein«, meinte er. »Ich hoffe nur, daß der Vinzenz keine Dummheiten macht.«

Sophie Tappert war froh, daß es nichts Schlimmeres war, das den Pfarrer bedrückte. Das war ein Problem, mit dem man fertig werden konnte, und über Max hatte sie ihre eigene Meinung.

Sie mochte ihn, aber jedes Mal, wenn er es zu arg trieb, hätt’ sie ihn am liebsten übers Knie gelegt. Das schadet ihm gar nichts, wenn er mal ein bissel schmoren muß, dachte sie – sagte es aber nicht.

»Das renkt sich schon alles ein«, meinte sie nur und ging hinaus.

Kurz darauf klingelte es, und wenig später stürmte Max herein. Er schnaubte wütend und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Sebastian schmunzelte.

»Ja, lach’ du nur«, sagte Max grimmig, als er das sah.

»Was war denn?« wollte sein Bruder wissen.

»So ein Hirsch, so ein damischer«, raunzte der Polizist. »Hat der wohl allen Ernstes geglaubt, ich käme zum Verlobungskaffee.«

Er berichtete von dem Gespräch zwischen ihm und Vinzenz Leitner, und Sebastian blieb nichts anderes übrig, als ungläubig zuzuhören.

»Aber sag’ mal, wie kann die Resl denn so etwas erzählen?« sagte er schließlich. »Das Madel kann doch net behaupten, du hättest ihr die Ehe versprochen.«

»So muß es aber gewesen sein. Wie käme Vinzenz sonst auf den Gedanken, ich würde seine Schwester heiraten wollen?«

Sebastian strich die Papiere glatt, auf denen er sich Notizen für seine Predigt gemacht hatte, dann stand er auf.

»Ich denke, ich werd’ einmal mit dem Madel sprechen«, meinte er. »Nicht, daß die Resl sich da in etwas hineinsteigert, was nachher nicht wieder gutzumachen ist. Aber jetzt wird es Zeit für die Spätmesse.«

Gemeinsam gingen sie zur Kirche hinüber. Sie wollten eben durch die hohe Tür eintreten, als jemand nach Max rief.

Es war Sepp Reisinger, der über den Kiesweg herangelaufen kam. Er war völlig außer Atem.

»Die Reisegruppe«, japste er. »Sie sind noch immer net zurück, und es ist doch schon dunkel. Wenn da nur nix passiert ist.«

Sebastian und Max brauchten einen Moment, bevor sie aus seinen Worten schlau wurden.

»Eine Reisegruppe?« fragte der Pfarrer. »Sind die etwa auf Bergtour? Bei dem Unwetter vorhin?«

Der Löwenwirt nickte.

»Ja, und – ich weiß ja net, wie es ihm geht, aber einer war dabei, der hatte gestern ziemliche Bauchschmerzen. Er hat dann einen Tee gekauft, beim Loisl, und die Schmerzen waren wohl auch weg…«

Er schaute Sebastian und Max an.

»Aber – es ist ja so eine Sache mit dem Loisl seinen Kräuterkuren…«, sagte er dann.

»Allerdings.«

Sebastian Trenker hatte sich schon öfter den Brandhuber vorgeknöpft, doch leider immer wieder ohne Erfolg.

Er schaute zur Kirche hinüber.

»Dann muß Vikar Mooser die Messe lesen«, entschied er kurzerhand und wandte sich an seinen Bruder. »Max, sag’ Dr. Wiesinger Bescheid, wir treffen uns in fünf Minuten beim Hotel. Bring’ noch ein paar Männer mit und Lampen – eben alles, was wir brauchen. Du weißt schon.«

Der Polizist nickte und eilte mit dem Wirt fort. Sebastian lief in die Küche und unterrichtete den Vikar. Dann ging er ins Pfarrhaus hinüber und zog sich für die Bergtour um.

»Wir können nur hoffen, daß sie einen Unterschlupf gefunden haben«, sagte er, als er beim Hotel angekommen war.

Dort warteten schon Max und Toni Wiesinger, mit weiteren vier Männern.

»Eine Höhle vielleicht, oder eine Berghütte.«

Sie breiteten eine Karte aus.

»Diese Route wollten sie nehmen«, sagte Sepp Reisinger, der sich ebenfalls anschloß, und zeigte den Weg auf der Karte.

»Also, dann los«, gab Sebastian Trenker das Zeichen zum Aufbruch. »Hoffentlich finden wir sie bald, und hoffentlich geht’s dem Kranken einigermaßen.«

»Ja, sonst kann sich jemand auf etwas gefaßt machen!« knurrte Dr. Wiesinger.

*

Auf dem Tanzsaal, im Hotel ›Zum Löwen‹, hatte keiner der Gäste etwas um die Aufregung über die vermißte Wandergruppe mitbekommen. Lediglich ein gedeckter Tisch mit einem Reserviert-Schild darauf, an dem niemand saß, deutete darauf hin, daß die Männer des Kegelvereins noch nicht wieder im Hotel waren.

Irma Reisinger hatte mit ihren Saaltöchtern ihre Hände voll zu tun. Dummerweise war gerade an diesem Abend eine Aushilfe erkrankt und hatte abgesagt. Dazu kam, daß vorne im Restaurant eine Tafelrunde von zwanzig Gästen saß, die ebenfalls bedient werden wollte. Der sonst immer gut gelaunten Wirtin war das Lachen vergangen, schließlich war auch ihr Mann nicht da, so daß vier helfende Hände fehlten. Irma seufzte erleichtert auf, als die Saaltür geöffnet wurde, und Lore Inzinger eintrat. Die Wirtin eilte auf das einstige Lehrmädchen zu.

»Lore, du bist meine Rettung«, sagte sie bittend. »Wir sind völlig unterbesetzt. Die Kathrin ist krank geworden, und mein Mann ist los, eine Wandergruppe suchen, die immer noch net zurück ist. Kannst du uns net ein wenig unter die Arme greifen?«

Lore Inzinger trug einen schicken Hosenanzug und war besonders sorgfältig geschminkt. Am Nachmittag war sie noch beim Friseur gewesen.

»Aber gerne, Frau Reisinger«, antwortete sie. »Wenn es Sie net stört, daß ich keine passende Arbeitskleidung anhab’. Ich hab’ ja net damit gerechnet, daß ich heute…«

»Schon gut«, unterbrach Irma Reisinger sie. »Das ist schon recht so, mit der Kleidung. Wenn du gleich die drei Tische, drüben bei der Musik übernehmen willst.«

»Mach ich, Frau Reisinger«, nickte Lore und verstaute ihre Handtasche unter dem Tresen.

Dann schnappte sie sich Block und Stift, und steckte das Portemonnaie mit dem Wechselgeld ein.

»Zapft’s schon mal ein paar Maß vor«, rief sie den beiden Saaltöchtern zu, die Tresendienst hatten, und rauschte über das Parkett.

Irma Reisinger ging erleichtert nach vorn. Wenigstens hatte sie auf dem Saal jetzt genug Personal. Sie schaute in der Küche nach, und auch dort lief alles zu ihrer Zufriedenheit. Sie gönnte sich einen kleinen Moment der Ruhe und setzte sich nach vorne an die Rezeption. Hier, am Hoteleingang, war alles ruhig, und Irma legte dankbar die Füße auf den kleinen Schemel.

Hoffentlich kommen’s alle wieder heil herunter, dachte sie, und ihre größte Sorge galt natürlich ihrem Sepp.

*

Christels Herz machte einen Sprung, als sie Tobias’ Wagen erkannte, der den Wirtschaftsweg zur Jenner-Alm heraufgefahren kam. Zum Glück hatte sich das fürchterliche Unwetter weiter nach Osten verzogen, und der Wind hatte ganz nachgelassen.

Tobias sprang aus dem Auto und lief zu ihr. Sie begrüßte ihn mit einem liebevollen Blick.

»Magst’ hereinkommen?« fragte sie. »Die Mutter möcht‘ dich kennenlernen.«

»Gern«, erwiderte er. »Aber vorher muß ich dir noch sagen, daß ich mich narrisch auf diesen Abend gefreut hab’.«

Er drückte ihr einen Kuß auf den Mund, dann gingen sie in die Sennerhütte.

Maria Hornhauser stand in der kleinen Küche und hatte gerade den Abwasch beendet, als die beiden eintraten. Sie begrüßte Tobias freundlich, während Christel verschwand, um ihren Mantel zu holen.

»Möchten S’ einen Schnaps’l, Herr Hofer?« fragte die Sennerin.

Tobias winkte ab.

»Das ist sehr nett, Frau Hornhauser, aber wenn ich Auto fahre, dann trinke ich net.«

Maria war erleichtert, das zu hören. Im selben Moment erschien Christel wieder.

»So, ich bin fertig«, sagte

sie und hakte sich bei Tobias

ein.

»Viel Spaß«, rief ihre Mutter ihnen hinterher. »Und grüß’ die Tante.«

»Mach’ ich«, winkte Christel zurück und setzte sich in den Wagen.

Tobias hatte es sich nicht nehmen lassen, ihr galant die Tür zu öffnen.

»Und jetzt los«, sagte er freudig und klatschte in die Hände. »Ich kann’s gar net erwarten, mit dir über den Tanzboden zu schweben.«

Christel schmunzelte und drückte einen Moment ihren Kopf an seine Schulter. Dann fuhren sie ins Tal hinunter, voller Freude auf einen schönen Abend…

*

»Wie geht es dir?«

Heinrich Burghaller beugte sich über den Freund und wischte ihm mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.

Hubert sah ihn aus glasigen Augen an. Offenbar hatte er hohes Fieber, gleichzeitig schlug er auch ständig mit den Zähnen aufeinander. Ein untrügliches Zeichen für Schüttelfrost. Die Rettungsfolie, mit der die Kameraden ihn zugedeckt hatten, spendete nicht genug Wärme.

»Die Schmerzen kommen und gehen«, antwortete Hubert Brunnenmayr. »Jetzt hilft auch der Tee nicht mehr.«

»Wir hätten auch gar kein heißes Wasser mehr, um welchen aufzubrühen«, meinte jemand.

Nachdem der Rucksack mit den Wanderkarten verlorengegangen war, hatte die Wandergruppe mit Mühe und Not zu der Berghütte zurückgefunden, in der sie ihre Mittagsrast gehalten hatte. Es war eine einfache Hütte aus roh gehauenen Stämmen, aber immerhin gab es ein Strohlager, auf das sie den Kranken gebettet hatten.

»Was machen wir jetzt?« fragte Ewald Obermeyer. »Wird Hubert bis zum Morgen durchhalten?«

»Ich weiß net«, antwortete Heinrich. »Es sieht net gut aus. Er muß unbedingt in ein Krankenhaus.«

»Du lieber Himmel«, sagte einer. »Und wir haben noch die ganze Nacht vor uns.«

Sie hatten lange diskutiert und waren übereingekommen, zusammenzubleiben. Keiner von ihnen kannte sich in den Bergen aus, und ohne Wanderkarten und Licht war es zu gefährlich, den Abstieg zu wagen.

»Wir können nur hoffen, daß es schnell Morgen wird«, sagte Heinrich Burghaller.

»Vielleicht ist ja schon Hilfe unterwegs«, meinte jemand hoffnungsvoll. »Schließlich wird man uns im Hotel vermissen.«

Dieser Gedanke richtete die kleine Truppe wieder etwas auf. Sie beratschlagten, was zu tun sei, und kamen überein, daß es das beste wäre, abwechselnd an der Stelle Wache zu halten, an der der Pfad sich teilte. Der eine Weg führte weiter den Berg hinauf, der andere zur Hütte, die aber von der Weggabelung nicht zu sehen war.

»Ich gehe als erster«, schlug Ewald vor und zog sich seinen

Anorak über, der mittlerweile etwas getrocknet war. »Zum Glück hat es aufgehört zu regnen.«

»In Ordnung«, stimmte Heinrich zu. »Ich löse dich dann ab. Hoffen wir, daß wirklich Hilfe unterwegs ist…«

*

Die Männer waren mit zwei Wagen losgefahren. Schließlich kamen sie zu einer Stelle, an der es nicht mehr weiterging, von nun an mußten sie zu Fuß gehen. Nach einer halben Stunde erreichten sie einen Platz unterhalb des Höllenbruchs.

»Ich schlage vor, wir teilen uns«, sagte Pfarrer Trenker und deutete auf einen schmalen Pfad. »Hier wird’s eng. Wer kein geübter Kletterer ist, sollte lieber auf der anderen Seite suchen. Wer weiß, vielleicht ist die Gruppe dort drüben hochgegangen, dann stecken sie möglicherweise in der Stuberhöhle. Wenn sie hier hoch sind, könnten sie in der Berghütte am Riest heruntergekommen sein.«

Die Männer waren einverstanden. Unter der Führung von Max Trenker stiegen drei den einfacheren Wanderpfad hinauf, während die anderen Sebastian folgten, unter ihnen Toni Wiesinger. Zuvor verabredeten sie, Signalpistolen abzuschießen, sollte eine der Gruppe auf die Vermißten treffen.

Der Weg war vom Regen ausgewaschen und entsprechend glatt und rutschig. Die Männer des kleinen Suchtrupps waren ständig in Gefahr, auszugleiten und abzustürzen. Sie kamen nur langsam voran. Als Sebastian einmal zwischendurch auf die Uhr sah, stellte er mit Schrecken fest, daß es beinahe schon Mitternacht war.

»Was glauben Sie, Doktor, was der Kranke haben kann?« wandte der Pfarrer sich zwischendurch an den Arzt.

Toni Wiesinger schnaufte. Im Gegensatz zu Sebastian Trenker, den viele den »Bergpfarrer« nannten, hatte der Mediziner nicht soviel Übung im Bergwandern. Obwohl er auch, so oft es ihm seine Zeit erlaubte, Ausflüge in die nähere Umgebung unternahm.

»So wie Sepp es schilderte, deutet alles auf eine Bauchfellentzündung hin, also Blinddarm«, sagte er. »Die Symptome scheinen eindeutig. Im Anfangsstadium verschwinden die Schmerzen oftmals wieder. Kehren dann aber um so stärker wieder zurück, Fieber, Schüttelfrost und Erbrechen sind typisch. Ich kann nur hoffen, daß wir sie bald finden. Auf jeden Fall muß der Mann in ein Krankenhaus.«

Pfarrer Trenker schaute im Schein seiner Stablampe auf die Karte.

»Nicht mehr lange, dann teilt sich der Weg«, erklärte er. »Der eine führt zu der Hütte, von der ich vorhin sprach. Vielleicht sind sie dort…«

Mit neuer Zuversicht setzten sie ihren Weg fort. Es dauerte eine knappe halbe Stunde, dann hatten sie die Gabelung erreicht.

»Hallo, hallo! Hier sind wir!«

Ein Mann stolperte ihnen entgegen.

»Ich hab’ Sie schon kommen hören«, sagte er erleichtert. »Mein Name ist Ewald Obermeyer. Wir haben einen Kranken dabei.«

»Ich bin Pfarrer Trenker«, stellte Sebastian sich vor und deutete auf Toni Wiesinger. »Wir haben einen Arzt mitgebracht.«

»Gott sei Dank, ich glaub’, dem Hubert geht’s sehr schlecht.«

Dr. Wiesinger nickte.

»Dann wollen wir sehen, daß wir schleunigst zur Hütte kommen.«

*

Den Männern der Wandergruppe stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als Ewald Obermeyer mit dem Suchtrupp eintraf. Toni Wiesinger kümmerte sich sofort um Hubert Brunnenmeyer, während Pfarrer Trenker die anderen begrüßte. Zuvor schossen sie mit der Signalpistole eine weiße Rakete ab, um den anderen anzuzeigen, daß sie die Vermißten gefunden hatten.

»Wir waren schon auf dem Rückweg, als uns das Unwetter überraschte«, berichtete Heinrich Burghaller. »Und kurz zuvor ist der Hubert zusammengebrochen.«

Ebenso berichtete er vom verlorengegangenen Rucksack.

Inzwischen hatten die Männer des Suchtrupps heißen Kaffee und Tee aus Thermoskannen verteilt. Dankbar wärmten sich die Mitglieder der Wandergruppe an den Getränken.

»Das ist eine Verkettung unglücklicher Umstände«, sagte Sebastian Trenker. »Gottlob ist nichts Schlimmeres geschehen.«

Der Geistliche wandte sich an Toni Wiesinger.

»Wie sieht es aus, Doktor?«

Der Arzt machte ein ernstes Gesicht.

»Nicht gut«, sagte er. »Der Unterbauch ist prall und hart. Wie ich vermutet habe, handelt es sich um eine Blinddarmentzündung. Der Mann muß sofort in ein Krankenhaus gebracht und operiert werden.«

Sebastian war sofort alarmiert.

»Wir können ihn nicht hinunterschaffen«, erwiderte er. »Nicht bei dieser Dunkelheit. Selbst mit unseren Lampen haben wir zu wenig Licht.«

Er schaute sich in der Hütte um.

»Eine Trage zu bauen, wäre das geringste Problem«, meinte er dann. »Es gibt genug Material hier, das wir dazu benutzen können. Aber wir können sie niemals ins Tal bringen.«

»Dann muß jemand hinunter und die Bergwacht benachrichtigen. Notfalls müssen die mit dem Hubschrauber kommen. Es ist höchste Eile geboten. Der Mann stirbt uns sonst.«

Sebastian Trenker überlegte nicht lange. Wenn überhaupt, dann kam nur er dafür in Frage, diese Aufgabe zu übernehmen. Seine Erfahrung als Bergsteiger und Kletterer gab hier den Ausschlag.

»Wenn der Max hier ist, soll er die anderen hinunterführen«, sagte er, bevor er aufbrach.

»Ist gut«, stimmte der Arzt zu. »Ich kümmere mich solange um den Kranken und versuche, das Fieber zu senken.«

»Alles Gute«, wünschten die Zurückgebliebenen, als Sebastian in die Dunkelheit hinausging.

*

Lore Inzinger beobachtete das verliebte Paar, das an einem der Tische saß, die sie bediente, mit wütenden Blicken. Tobias hatte seinen Arm um Christel gelegt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das Madel schaute ihn verliebt an und lächelte glücklich. Ein Lächeln, das Lores Wut und Ärger nur noch mehr anstachelte. Ausgerechnet diese Sennerstochter hatte sich ›ihren‹ Tobias geangelt. Aber darüber war das letzte Wort noch net gesprochen! Mit energischen Schritten ging sie auf den Tisch zu und stellte sich davor.

»Die Herrschaften wünschen?« fragte sie, und ihr Blick, mit dem sie Christel Hornhauser bedachte, sprach Bände. »Ein Glas Milch vielleicht für das Fräulein Braut? Frisch von der Alm, natürlich.«

Dabei grinste sie frech. Christel schaute einen Moment verdutzt, dann konterte sie. Was bildete sich diese Person überhaupt ein? Tobias hatte sie ja schon gewarnt, als er Lore Inzinger entdeckte, und Christel hatte sich innerlich für einen ›Zweikampf‹ gewappnet.

»Vielen Dank«, antwortete sie. »Heut’ nehm ich ausnahmsweise einen Wein. Einen Franken, wenn’s recht ist. Aber trocken – falls Sie so etwas haben.«

Sie beugte sich vor und fixierte Lore.

»Sie wissen doch, was ein Frankenwein ist – oder?«

Tobias konnte sich das Lachen nicht ganz verkneifen und prustete los.

Lore drehte sich wutentbrannt um und ging zum Tresen hinüber.

»Ich hätt’ noch gern’ eine Maß«, rief Tobias ihr hinterher. Die beiden Saaltöchter, die den Tresen bedienten, hatten von der ganzen Angelegenheit nichts mitbekommen. Sie wunderten sich nur über Lores schlechte Laune, und die ärgerte sich noch mehr. Eigentlich war sie hergekommen, um sich mit Tobias auszusöhnen. Statt dessen mußte sie mit ansehen, wie er und diese andere wie verliebte Tauben turtelten.

Und sie, Lore, mußte die beiden auch noch bedienen!

Krampfhaft überlegte sie, wie sie ihrer Konkurrentin eins auswischen konnte. Hier auf dem Saal würde sie sich zurückhalten müssen, da konnte sie keinen Streit vom Zaun brechen. Also mußte sie erst einmal gute Miene zum bösen Spiel machen. Aber es war ja noch net aller Tage Abend!

»So, bitt’ schön, die Herrschaften«, sagte sie mit einem erzwungenen Lächeln auf den Lippen, während sie die Getränke auf den Tisch stellte. »Eine Maß und ein Schoppen Frankenwein. Trocken, ganz wie die Dame es gewünscht hatte.«

»Komm, wir wollen tanzen«, sagte Tobias, nachdem sie den ersten Schluck getrunken hatten.

Das brauchte er nicht zweimal sagen. Christel sprang auf und zog ihn auf die Tanzfläche. Dort drehten sie sich nach einem flotten Foxtrott.

Lore Inzinger stand an eine Säule des Saales gelehnt und schaute ihnen zu. Wie immer hatte sie geglaubt, leichtes Spiel mit Tobias zu haben. Doch jetzt mußte sie einsehen, daß sie sich offenbar verrechnet hatte. So, wie es den Anschein hatte, standen ihre Chancen schlechter als je zuvor. Dieses Mädel von der Alm hatte Tobias ganz in seinen Bann gezogen.

Lore spürte, wie der Mut, mit dem sie am Abend noch hergekommen war, sie verließ. Doch dann regte sich Widerstand in ihr. Sollte sie Tobias wirklich aufgeben müssen? Das konnte und wollte sie nicht glauben. Bis jetzt hatte sie immer alles bekommen, was sie sich wünschte – und bei Tobias würde es nicht anders sein! Irgend etwas mußte sie sich einfallen lassen…

*

Sebastian Trenker tastete sich vorsichtig an dem Felsen entlang. Unter seinen Bergschuhen rutschte der schlammige Boden weg, und seine Fingerspitzen rissen an dem rauhen und spitzen Gestein auf. Der Aufstieg war um ein Vielfaches leichter gewesen.

Bestimmt wäre er unter anderen Umständen vorsichtiger gewesen, doch die Sorge um Hubert Brunnenmayr trieb ihn zur Eile an. Nach den Worten des Arztes, kam es auf jede Minute an.

Um beide Hände frei zu haben, hatte der Pfarrer auf eine Stablampe verzichtet. Lediglich eine kleine Lampe, die mittels einer Lederschlaufe vor der Brust befestigt war, spendete etwas Licht. Es reichte gerade eben, um den Boden direkt vor den Füßen zu erkennen.

Sebastian schaute zum Himmel hinauf. Wenn es wenigstens aufklaren würde, das Mondlicht hätte für einen sicheren Abstieg ausgereicht. Doch immer noch war der Himmel mit dunklen Wolken verhangen.

Beinahe glaubte er, es schon geschafft zu haben, als es geschah. Der Regen hatte den sandigen Pfad ausgewaschen. Sebastian merkte noch, wie er abglitt und das rechte Bein ins Leere ragte. Bevor er sich jedoch abstützen oder zurückwerfen konnte, stürzte er den Abhang hinunter.

Ein lauter Schrei kam über seine Lippen, dann wurde es für einen Moment dunkel um ihn.

Sekundenlang blieb der Geistliche benommen liegen, dann raffte er sich auf. Arme und Beine schienen heil, auch der Kopf hatte nichts abbekommen. Nur das Gesicht brannte ein wenig. Offenbar hatte er bei dem Fall irgendwelches Astwerk gestreift, Sebastian meinte sich daran zu erinnern. Außerdem war die Kleidung schmutzig geworden, aber das war das kleinere Übel. Pfarrer Trenker nestelte die kleine Lampe ab, die den Sturz ebenfalls heil überstanden hatte, und hielt sie in die Höhe. Da sah er den großen Strauch, der an dem Berghang wuchs. Der Strauch hatte vermutlich den Sturz abgefangen und Schlimmeres verhütet.

Sebastian dankte dem Herrgott für die Fürsorge und schaute sich weiter um. Dabei stellte er fest, daß er Glück im Unglück gehabt hatte – in einiger Entfernung standen die Wagen, mit denen der Suchtrupp hergekommen war. Für eines der Fahrzeuge hatte er einen Schlüssel. Jetzt war es nur noch eine Frage von Minuten, bis er die Bergwacht benachrichtigen konnte.

In weniger als einer Viertelstunde hatte der Geistliche die Kreisstadt erreicht, wo die Bergwacht ihren Stützpunkt hatte. Noch während er die Lage schilderte, alarmierte der Diensthabende den Piloten des Rettungshubschraubers. Von nun an lief alles wie am Schnürchen. Ein eingespieltes Team hatte bereits den Hubschrauber startklar gemacht, als der Pilot eintraf. Zusammen mit dem Notarzt und zwei Rettungssanitätern kletterte Pfarrer Trenker an Bord, und der Pilot startete sofort.

»Es gibt keine Möglichkeit, bei der Hütte zu landen«, erklärte der Geistliche.

»In Ordnung«, nickte der Arzt. »Dann werden wir die Seilwinde nehmen.«

Einer der Sanitäter ging nach vorn und unterrichtete den Piloten, während der Arzt Sebastian erklärte, wie die Winde funktionierte. Dabei wurde eine »Rettungshose« herabgelassen, in der Verletzte transportiert werden konnten.

»Alles kein Problem«, meinte der Mediziner. »Das haben wir schon hundertmal gemacht.«

»Wir sind da«, gab der Pilot über den Bordlautsprecher bekannt.

»Dann wollen wir mal.«

Die Männer der Crew nickten sich zu, und dann saß jeder Handgriff. Während der Hubschrauber in der Luft auf der Stelle stand, öffnete sich eine Luke im Boden und die Winde wurde in Position gebracht.

Dr. Wiesinger war aus der Hütte gekommen, als er den Hubschrauber hörte. Mit Hilfe zweier Stablampen zeigte er an, wo genau die Hütte stand.

Der Notarzt wurde heruntergelassen, dann folgten die Sanitäter. Die beiden Ärzte sprachen sich ab, dann wurde Hubert Brunnenmayr an Bord gebracht. Das alles lief so schnell und unkompliziert ab, daß Sebastian Trenker nur staunen konnte. Er begrüßte Toni Wiesinger an Bord und deutete auf Hubert, der, ohne Bewußtsein, auf einer Trage lag.

»Wird er durchkommen?« fragte er.

»Ich denke schon«, erwiderte der Arzt. »Das Fieber ist gesunken, und wenn er sofort operiert wird, dann hat er gute Chancen.«

Er sah das zerkratzte Gesicht des Pfarrers.

»Dank Ihrer Hilfe, Bergpfarrer. Aber so ganz einfach dürfte Ihr Abstieg auch net gewesen

sein.«

Sebastian schmunzelte, als der Arzt den Spitznamen gebrauchte. Er berichtete von dem Sturz und ließ es zu, daß Dr. Wiesinger eine kurze Untersuchung vornahm.

Dann landete der Hubschrauber auch schon.

Müde und erschöpft, aber rundum glücklich, flogen Pfarrer Trenker und Dr. Wiesinger wieder zurück. Der Arzt, der die Operation durchführte, hatte versprochen, sofort anzurufen, wenn der Eingriff beendet war.

Als Sebastian das Pfarrhaus betrat, graute der Morgen schon. Sophie Tappert saß, im Morgenrock schlafend in einem Sessel im Wohnzimmer. Als der Pfarrer eintrat, schreckte sie hoch.

»Um Himmels willen, Frau Tappert, was machen Sie denn hier? Warum liegen Sie denn nicht im Bett?«

»Wie könnt’ ich denn schlafen, bei all der Aufregung«, erwiderte sie.

Ihr Blick fiel auf sein Gesicht, erschreckt schlug sie die Hände vor den Mund, als wollte sie einen Schrei unterdrücken.

»Was ist denn mit Ihnen geschehen?«

»Nichts weiter«, winkte Sebastian ab. »Aber sagen Sie, hat der Max sich gemeldet?«

»Ja, darum bin ich ja so unruhig. Er hat ’was von einem Hubschrauber erzählt. Daß Sie da mitfliegen. Tausend Ängste hab’ ich ausgestanden.«

Sie schüttelte den Kopf, als könne sie es gar nicht glauben. Sebastian Trenker lachte.

»Es ist ja nichts passiert«, sagte er. »Der Hubschrauber ist nicht abgestürzt, und die paar Kratzer verheilen wieder. Aber was ist mit den Wanderern? Sind sie alle gut heruntergekommen?«

»Ach so, ja. Ich bin ganz durcheinander. Ja, sie sind alle wohlbehalten im Hotel angekommen, läßt der Max ausrichten.«

»Schön«, nickte der Geistliche. »Dann seien Sie so gut und kochen Sie uns einen schönen starken Kaffee, und ich gehe erst einmal ins Bad.«

*

Vor der Frühmesse stand Max Trenker in der Tür des Pfarrhauses. Er erzählte, wie der Abstieg verlaufen war, und erkundigte sich nach Hubert Brunnenmayr. Der hatte die Operation gut überstanden, wie Sebastian berichten konnte. Noch bevor er sich am Morgen für ein paar Stunden schlafen gelegt hatte, war der Anruf aus dem Krankenhaus gekommen.

»Er ist zwar noch auf der Intensivstation, aber das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte der Geistliche seinem Bruder.

Gemeinsam gingen sie zur Kirche hinüber. Auf dem Weg dorthin trafen sie Toni Wiesinger. Der Arzt war ebenfalls von seinem Kollegen über den Gesundheitszustand des Operierten in Kenntnis gesetzt worden. Wie Sebastian und Max, war auch er erleichtert, daß alles so glimpflich abgelaufen war.

»Seine Kegelfreunde wollen ihn schon heute nachmittag besuchen«, sagte Dr. Wiesinger. »Sie haben extra den Bus früher bestellt. Außerdem haben sie Brunnenmayrs Frau informiert. Sie wird wohl ebenfalls am Nachmittag im Krankenhaus sein.«

Vor dem Kirchenportal blieben sie stehen. Sebastian hatte den Eindruck, daß der Arzt noch etwas auf dem Herzen hatte. Als er danach fragte, nickte Toni Wiesinger.

»Ja«, sagte er. »Mich beschäftigt da wirklich etwas. Es geht um meinen ›Freund‹, den Brandhuber. Ich weiß wirklich net, was ich mit dem anfangen soll. Einerseits müßt’ ich ihn zur Anzeige bringen. Er hat ohne Erlaubnis einen Heilberuf ausgeübt und dabei einen Menschen in Lebensgefahr gebracht – wobei ich schon sagen muß, daß den Brunnenmayr eine Mitschuld trifft. Hätte er mich rechtzeitig aufgesucht, wäre das alles net passiert.

Der Brandhuber allerdings, der hat sich wirklich strafbar gemacht. So einer gehört vor’s Gericht.«

Max konnte ihm da nur zustimmen. Diesmal lag der Fall anders, als noch vor einigen Tagen, als der Arzt den Loisl anzeigen wollte. Sebastian enthielt sich indes jeglichen Kommentars.

»Allerdings«, fuhr Toni Wiesinger fort, »fürchte ich, mir jegliche Sympathie bei den Leuten hier zu verderben, wenn ich diesen Scharlatan wirklich vor den Kadi bringe. Ich weiß doch, wie viele meiner Patienten heimlich zu ihm gehen. Bestimmt wären sie mir arg bös’, wenn ich ihren angeblichen Wunderdoktor zur Rechenschaft ziehe. Sie wissen ja selbst, Herr Pfarrer, daß ich keinen leichten Stand in Sankt Johann habe. Dabei taugt das Zeug von dem Alten überhaupt nix. Ich habe mir mal was von dem Tee besorgt und analysieren lassen. Das Kraut hilft bei keinem Leiden – allerdings richtet es auch keinen unmittelbaren Schaden an.«

Sebastian nickte. Er hatte sich den Brandhuber-Loisl mehr als einmal vorgeknöpft und ihm die Leviten gelesen. Brandhuber war ein gerissenes Schlitzohr, das genau wußte, wie wenig seine sogenannten Medikamente halfen. Wenn die Leute sie trotzdem zu Wucherpreisen kauften, dann

hatten sie im Grunde selber schuld. Trotzdem mußte etwas gegen den Alten unternommen werden.

»Einmal kommt die Stunde, in der wird der Brandhuber in meiner Praxis sitzen«, sagte Toni Wiesinger, bevor sie die Kirche betraten. »Dann kann er sich auf ’was gefaßt machen!«

*

Schlecht gelaunt wachte Lore Inzinger auf. Die Nacht hatte sie in ihrem Elternhaus, in der Nähe von St. Johann, verbracht, wo immer noch ihr Jungmädchenzimmer eingerichtet war. Das junge Madel hatte bis zum Schluß auf dem Ballsaal bedient und mit ansehen müssen, wie Tobias und diese Christel eng umschlungen hinausgingen. Zwar hatte Lore noch einige Versuche unternommen, Tobias’ Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch der hatte nur Augen für seine Begleiterin gehabt. Schließlich war Lore den beiden wieder gefolgt und hatte beobachtet, wie Tobias Christel zum Haus ihrer Tante brachte. Den innigen Abschiedskuß sah Lore nicht mehr, da war sie schon wieder im Hotel und machte ihre Abrechnung.

Zum Frühstück trank sie nur eine Tasse Kaffee, das leckere Rosinenbrot und die selbstgemachte Marmelade verschmähte sie.

»Kind, du mußt doch etwas essen«, ermahnte ihre Mutter. »Bekommst du auf deiner Arbeitsstelle nicht genug zu essen? Ganz mager bist du geworden.«

Lore überhörte den Vorwurf und ging ins Bad. Die halbe Nacht hatte sie überlegt, wie sie Christel Hornhauser eins auswischen konnte. Viele Ideen waren ihr dabei gekommen, und eben, als ihre Mutter ihrer Sorge um Lores Gesundheit Ausdruck gab, da hatte das Madel die Idee, die ihr auf Anhieb am besten gefiel.

Christels Mutter würde nicht anders sein, als Lores. Also würde sie dort anfangen, ihre Intrige zu spinnen.

Dieser Einfall steigerte ihre Laune erheblich. Als sie nach einer ganzen Weile aus dem Bad kam, hatte der schon feste Gestalt angenommen. Lore ging in ihr Zimmer hinauf, kleidete sich an und setzte sich in ihren Wagen. Dann fuhr sie zur Jenner-Alm hinauf, jetzt würde Christel noch nicht dort sein…

Maria Hornhauser schaute erstaunt von ihrer Arbeit auf, als das Auto den Weg heraufgefahren kam. Sie kannte weder den Wagen, noch die Fahrerin hinter dem Steuer. Es war ein junges Madel, das ausstieg. Es trug eine Sonnenbrille, die es jetzt absetzte. Maria konnte sehen, daß die Frau geweint hatte. Die Augen waren rot umrandet und tränennaß.

Die Sennerin saß vor der Hütte unter dem Vordach und hatte gerade Bohnen für den Mittagstisch geschnitten. Jetzt legte sie das Messer aus der Hand und ging auf die Frau zu.

»Ist etwas passiert?« fragte sie. »Kann ich Ihnen helfen?«

Die junge Frau schluchzte auf. Maria legte tröstend den Arm um sie und führte sie zu der Holzbank, auf der sie selber gesessen hatte.

»Kommen Sie, setzen Sie sich«, sagte sie fürsorglich. »Warten Sie einen Moment und beruhigen Sie sich, dann erzählen Sie mir, was geschehen ist.«

Die Frau schluchzte auf und holte ein Taschentuch hervor. Sie wischte sich die Tränen ab.

»Danke«, flüsterte sie. »Es… es geht schon wieder.«

»Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie bedrückt? Hat es einen Unfall gegeben? Ist jemand verletzt?«

Das Madel schüttelte den Kopf.

»Nein, kein Unfall.«

»Also privater Kummer?«

Ein Kopfnicken war die Antwort.

»Ja, darum bin ich hergekommen. Damit der Christel net das gleiche geschieht wie mir.«

Maria Hornhauser faßte sich erschrocken ans Herz, als sie den Namen ihrer Tochter hörte.

»Christel? Was meinen Sie? Was soll meiner Tochter net geschehen?«

Die junge Frau sah die Sennerin aus traurigen Augen an.

»Ich heiße Lore Inzinger und war… bis vor ein paar Tagen die… die Verlobte von Tobias Hofer«, sagte sie mit leiser, stockender Stimme. »Bis zu jenem Tag, an dem mein Verlobter Ihre Tochter kennenlernte.«

»Ja, aber…«

Die Sennerin wußte nicht, was sie sagen sollte.

»Hat Herr Hofer denn die Verlobung gelöst?« wollte sie wissen.

Lore nickte und griff sich an den Leib.

»Ja, von heute auf morgen. Ohne mir einen Grund zu nennen. Obwohl…«

Sie schluchzte erneut auf.

»Obwohl ich… sein Kind…«

Sie brach ab und senkte den Kopf. Maria Hornhauser war entsetzt.

»Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, damit es der Christel net so ergeht, wie mir«, sagte Lore.

Die Sennerin schlug die Hände zusammen. Das hätte sie nicht für möglich gehalten. Dabei hatte der junge Mann doch solch einen netten Eindruck gemacht!

Christel mußte unbedingt vor diesem Taugenichts gewarnt werden. Wenn es nur nicht – o Gott behüte –, wenn es nur noch net zu spät war…!

»Wären Sie so nett, mich mit hinunter ins Tal zu nehmen?« fragte sie. »Ich muß sofort zu meiner Tochter.«

»Aber natürlich«, flötete Lore und freute sich diebisch. Die böse Saat, die sie gelegt hatte, schien aufzugehen.

*

Christel schaute ungläubig, als ihre Mutter in der Tür stand.

»Mama, wo kommst du denn her? Ist etwas passiert?« fragte sie.

»Ich hoffe nicht«, antwortete ihre Mutter. »Wo ist Tante Kathie?«

»Ich glaub’, noch in der Messe. Aber nun sag’ doch endlich, warum bist du von der Alm heruntergekommen?«

Sie setzten sich in das kleine, gemütlich eingerichtete Wohnzimmer. Maria erzählte von Lores Besuch auf der Jenner-Alm, und je mehr sie sagte, um so entsetzter wurde Christels Gesicht.

»Mama, sag’, daß das net wahr ist«, flüsterte sie. »Das kann doch net sein.«

Sie schaute ihre Mutter aus tränenverschleierten Augen an.

»Sein Kind, sagst du…?«

Maria Hornhauser strich ihrer Tochter tröstend über den Haarschopf.

»Komm, Madel, laß uns heimgehen«, sagte sie.

Christel nickte stumm. Dann stand sie auf.

»Ich hol’ nur meine Tasche und schreib’ der Tante einen Zettel, damit sie Bescheid weiß.«

»Ist gut, Madel.«

Früher hatte ihr der Fußweg vom Dorf hinauf zur Alm nichts ausgemacht, doch heute fiel ihr jeder Schritt so unendlich schwer. Eigentlich hätte Tobias sie am Abend nach Hause fahren sollen, wenn sie den Nachmittag zusammen verbracht hatten. So war es jedenfalls geplant gewesen. Doch daraus würde nun nichts mehr werden.

Tobias, warum hast du mir das angetan? dachte Christel in stummer Verzweiflung. Warum hast du mich nur so belogen? Lügen sind es doch gewesen, wenn du mir sagtest, daß du mich liebst. Und eine andere trägt dein Kind unter ihrem Herzen!

Nie, niemals würde sie ihn wiedersehen wollen, auch wenn ihr das Herz dabei zerbrach.

Oben auf der Alm verschwand sie in ihrem Zimmer, warf sich auf das Bett und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte.

*

Tobias Hofer verstand die Welt nicht mehr. Völlig ratlos stand er vor dem Haus, das Christels Tante bewohnte, und überlegte, was er jetzt tun sollte.

Wie es verabredet war, wollte er das Madel am Nachmittag abholen. Am Abend vorher hatten sie sich überlegt, eine kleine Ausfahrt zu unternehmen. Christel, die beinahe das ganze Jahr droben auf der Alm zubrachte, hatte sich darauf gefreut, mal etwas anderes zu sehen.

»Tut mir leid, Herr Hofer, mehr kann ich Ihnen auch net sagen.«

Tante Kathie hob ratlos die Arme.

»Auf dem Zettel stand nur, daß das Madel zurück auf die Alm ist.«

»Und sonst nichts? Keine Nachricht für mich?«

Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf.

»Ja, also…, dann vielen Dank auch.«

Tobias drehte sich um und ging mit gesenktem Kopf zu seinem Wagen zurück.

Was war nur in das Madel gefahren? Voller Glück und Freude auf den nächsten Tag, hatten sie sich gestern abend getrennt. Tobias erinnerte sich an den zärtlichen Kuß, den Christel ihm noch zum Abschied gab.

Schon ganz früh hatte er heute morgen seine Arbeit auf dem Leitnerhof begonnen, nur um rechtzeitig fertig zu sein, und noch nie war sie ihm so leicht von der Hand gegangen.

Da stimmte etwas nicht! Soviel stand für Tobias fest, und er war gewillt, es herauszufinden. Ohne weiter zu zögern, fuhr er los. Sein Ziel war die Jenner-Alm.

Maria Hornhauser eilte hinaus, als sie Tobias’ Wagen erkannte. Der junge Mann hielt, öffnete die Tür und stürzte heraus.

»Frau Hornhauer, was ist denn los?« fragte er aufgeregt. »Ich verstehe das net. Warum ist die Christel denn net unten im Tal geblieben? Wir waren doch verabredet.«

Die Sennerin maß ihn mit einem Blick, daß es Tobias ganz unbehaglich wurde – obwohl er sich keiner Schuld bewußt war.

»Was los ist?« sagte Maria. »Das, Herr Hofer, sollten Sie sich besser selbst fragen. Bitte gehen S’. Sie haben schon genug Unglück angerichtet.«

»Aber, wovon reden Sie denn, Frau Hornhauser? Ich weiß gar net, was Sie meinen. Bitte, lassen Sie mich mit Christel sprechen. Das muß alles ein schreckliches Mißverständnis sein.«

»Die Christel wird net mit Ihnen reden. Sie will Sie nie wiedersehen.«

Tobias’ Augen weiteten sich vor Entsetzen.

»Hat sie…, hat sie das wirklich gesagt?«

»Ja. Und jetzt fahren Sie endlich!«

Ohne ein weiteres Wort stieg der junge Mann in seinen Wagen und fuhr los. Ununterbrochen zermarterte er sich das Gehirn mit der Frage, was geschehen war, daß Christel, das Madel, das er von ganzem Herzen liebte, ihn so mit Füßen trat. Er begriff überhaupt nicht, daß er sich irgendeines Vergehens schuldig gemacht haben sollte.

Den Rest des Tages, den sie gemeinsam hatten verbringen wollen, hockte Tobias einsam auf dem Lechnerhof in seiner Kammer und grübelte. Das Abendessen ließ er aus, und als später Monika Leitner nach ihm schaute, weil sie sich um ihn sorgte, da fand sie ein kleines Häufchen Elend vor.

Nach einigem Drängen berichtete Tobias, was ihm an diesem Tag widerfahren war. Monika konnte sich ebenfalls keinen Reim auf die ganze Geschichte machen. Das einzige, was sie vermutete, war der Verdacht, daß jemand Tobias übel wollte und ihn deshalb einer Sache beschuldigte, an der er unschuldig war.

Aber wer kam dafür in Betracht?

Tobias wußte es nicht. Er war bei allen beliebt und Feinde hatte er keine.

»Könnte Lore vielleicht…?« fragte Monika.

Daß seine verflossene Freundin dahinterstecken könnte, daran hatte Tobias auch schon gedacht, obwohl – nein, glauben mochte er es net. Außerdem, wann hätte sie mit Christel reden sollen, um ihr etwas zu erzählen. Sie hatte ja gar keine Gelegenheit dazu gehabt.

»Nein, nein, das glaube ich net«, antwortete er auf Monikas Frage. »Außerdem ist sie doch bestimmt schon wieder in die Stadt gefahren. Sie hat ja nur am Wochenend’ frei gehabt.«

Er stand auf und trat ans Fenster. Draußen zog langsam die Nacht herauf. Tobias lehnte seinen Kopf an das kühle Glas der Fensterscheibe und schloß für einen Moment die Augen. Christels Gesicht tauchte vor ihm auf und verschwand wieder, so schnell, wie sie ihm in der Wirklichkeit wieder entglitten war.

Monika legte tröstend den Arm um ihn. Tobias drehte sich um und nickte tapfer.

»Einmal möcht’ ich noch mit ihr sprechen«, sagte er leise. »Und dann muß sie mir sagen, was geschehen ist.«

*

Max Trenker glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Ungläubig starrte er auf den Umschlag mit der Karte in seiner Hand.

»Die besten Wünsche zur Verlobung«, stand auf der Karte, die von einer Familie aus dem Dorf unterschrieben war. Auf dem Umschlag stand zu lesen: ›Herrn Maximilian Trenker und Braut‹.

»Da soll doch einer…!«

Unmutig schlug der Gendarm mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Hatte Vinzenz Leitner, dieser Dummkopf, etwa herumposaunt, daß er, Max, und Theresa, sich verloben würden? Das konnte doch net wahr sein!

Immer wieder drehte er die Karte hin und her – da stand es, schwarz auf weiß. Also mußte es wahr sein!

Na wart’, Bursche, dir werd’ ich was erzählen, dachte Max und schlüpfte in seine Uniformjacke. Mit eiligen Schritten lief er zum Pfarrhaus hinüber. Hoffentlich hatte sich diese ›Neuigkeit‹ noch nicht bis hier herumgesprochen.

Als Max allerdings Sophie Tappert gegenüberstand, sah er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die Haushälterin seines Bruders empfing ihn mit einem süffisanten Lächeln. Dabei wedelte er mit einer Karte, ähnlich der, die Max bekommen hatte, vor seiner Nase herum. Allerdings war dies keine Glückwunschkarte, sondern eine Einladung.

»Zu Ihrer Verlobung, Max, komme ich natürlich gerne«, sagte sie in einem honigsüßen Ton, daß man glauben konnte, sie habe einen ganzen Bienenstock leer gegessen. »Die Einladung ist heute morgen gekommen. Ich nehme an, den Herrn Pfarrer laden Sie persönlich ein.«

Sebastian hatte ihr erzählt, was es mit dieser ominösen Verlobung auf sich hatte, aber davon sagte Max natürlich nichts. Es bereitete ihr einen Heidenspaß, ihn ein wenig zappeln zu lassen.

»Hat sich was, mit der Verlobung«, schimpfte der Gendarm denn auch und ging weiter ins Arbeitszimmer seines Bruders.

Sebastian konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als Max eintrat.

»An deinem Gesicht sehe ich, daß du schon mit Frau Tappert gesprochen hast«, meinte er. »Die Einladung, die sie erhalten hat, hast du wohl auch schon gesehen.«

Max knallte seine Karte auf den Tisch.

»Die ersten Glückwünsche sind auch schon gekommen«, knurrte er, während er sich setzte. »Wenn ich nur wüßt’, was ich mit der Resl und ihrem damischen Bruder machen soll.«

Sebastian Trenker warf einen Blick auf die Karte.

»Vielleicht hilft’s was, wenn ich mit den beiden rede«, sagte er.

Max’ Miene hellte sich auf.

»Würdest’ das für mich tun? Ich weiß gar net, wie ich dir danken soll.«

»Schon gut«, winkte der Geistliche ab. »Das ist doch selbstverständlich.«

Beim Mittagessen wurde nicht weiter über diese leidige Angelegenheit gesprochen. Sophie Tappert hatte sich wieder einmal mehr übertroffen und ein Essen gezaubert, das mit dem aus einem Feinschmeckerlokal mithalten konnte. Erst beim Nachtisch, einer bayerischen Creme mit Haselnüssen und Sahne, kam die Haushälterin auf die Angelegenheit zurück.

»Ich hatte auch net angenommen, daß Sie wirklich heiraten wollen, Max«, sagte sie. »Die Frau, die Sie zähmen könnt’, die gib’s net. Wär’ auch schade ’drum.«

Damit stand sie auf und räumte den Tisch ab. Max sah ihr verdutzt hinterher, während Sebastian schmunzelte.

»Wie hat sie denn das gemeint?« fragte der Gendarm. »Um wen wär’ es schad, um mich oder um die Frau, die es net gibt?«

»Wie sie das gemeint hat«, antwortete sein Bruder, »das weiß man bei Frau Tappert nie so genau.«

*

Gleich nach dem Mittagessen fuhr Sebastian Trenker zum Leitnerhof hinaus. Er wollte so schnell wie möglich mit Theresa und ihrem Bruder reden. Der Pfarrer vermutete, daß Vinzenz seiner Schwester mehr Glauben schenkte, als Max. Was nur verständlich war. Dennoch hoffte Sebastian, daß er den Bauern davon überzeugen konnte, daß die Resl sich da in etwas verrannt hatte, und alles ganz anders war.

Der Geistliche hatte Glück. Vinzenz Leitner war noch auf dem Hof. Eigentlich hatte er hinaus in den Wald gewollt, wo der Bruch geschlagen wurde, den das Unwetter vom vergangenen Wochenende hinterlassen hatte. Doch als Sebastian ihn um eine vertrauliche Unterredung bat, konnte er schlecht nein sagen. Er bat den Pfarrer in die Wohnstube. Monika Leitner bot, nachdem sie Sebastian begrüßt hatte, Kaffee an, den er dankend annahm. Nachdem sie ihn gebracht hatte, ließ die Bäuerin die beiden Männer alleine.

»Ich kann mir schon denken, warum Sie kommen, Herr Pfarrer«, sagte Vinzenz. »Sie wollen bestimmt die Einzelheiten der kirchlichen Trauung besprechen. Aber wollen wir net damit warten, bis der Bräutigam da ist? Wo steckt er überhaupt?«

Sebastian hob die rechte Hand.

»Vinzenz, ich glaube, ich muß da mal etwas klarstellen«, erwiderte er. »Es wird keine Hochzeit geben. Zumindest wird der Max die Resl net heiraten.«

Das Gesicht des Bauern lief vor Zornesröte an.

»So, deshalb ist der Max net dabei. Ist wohl zu feige, Ihr feiner Herr Bruder«, schimpfte er.

»Bevor du dich aufregst, sollten wir lieber in aller Ruhe über diese Angelegenheit reden«, ermahnte der Geistliche ihn. »Es bringt uns net weiter, wenn du schreist. Viel lieber würd’ ich mit deiner Schwester sprechen. Läßt sich das einrichten?«

Vinzenz Leitner ging zur Tür und rief nach Theresa. Die hatte schon ein mulmiges Gefühl im Bauch, als sie den Pfarrer auf den Hof hatte kommen sehen, und sich in ihrer Kammer verkrochen. Als ihr Bruder lautstark nach ihr rief, blieb ihr nichts anderes übrig, als diesem Ruf zu folgen. Mit klopfendem Herzen betrat sie die Stube.

»Grüß Gott, Herr Pfarrer«, sagte sie und schaute unsicher von einem zum anderen.

»Grüß’ dich, Theresa«, erwiderte Sebastian Trenker. »Setz’ dich doch. Ich möchte etwas mit dir besprechen.«

Das Madel trug zwar ihre Arbeitsschürze über einem einfachen Kleid. Trotzdem hatte sie etwas Anmutiges an sich. Man konnte durchaus verstehen, daß da ein Mann den Kopf verlor, wenn er in dieses Gesicht schaute.

Theresa sah ihren Bruder an.

»Nun setz’ dich schon«, polterte der.

Das Madel setzte sich auf die Kante des Sofas und legte die gefalteten Hände in den Schoß. Sebastian nickte ihr aufmunternd zu.

»Wenn’s dir lieber ist, dann wartet der Vinzenz so lange draußen, bis wir geredet haben«, sagte er zu ihr.

Vinzenz Leitner schnappte hörbar nach Luft, wagte aber keinen Widerspruch. Resl nickte. Sebastian sah den Bauern an. Mit einem grimmigen Gesicht stiefelte er nach draußen. Der Pfarrer holte tief Luft, dann schaute er das Madel eindringlich an.

»Meinst’ net, daß ihr ein biss’l zu eilig wart mit euren Einladungskarten?« fragte er dann sanft.

Resl schluckte. Schon lange war ihr klargeworden, daß es gar keine so gute Idee war, wie sie zuerst geglaubt hatte. Besonders, nachdem Max so wütend davongefahren war. Ja, sie mochte den Polizisten, und liebend gerne wäre sie seine Frau geworden, und darum – ja darum hatte sie ein wenig geschwindelt. Aber sie hat ja net gewußt, daß der Bruder gleich so bei der Sache war und die Verlobung und Hochzeit in Angriff nahm. Als sie es dann merkte, da war es eigentlich schon zu spät. Zaghaft hatte sie versucht, Vinzenz die Wahrheit zu sagen, doch der hatte überhaupt net mehr zuhören wollen, und schließlich hatte Resl es aufgegeben, vielleicht auch in der vagen Hoffnung, Max würde unter dem Druck, den Vinzenz mit seinen Vorbereitungen machte, klein beigeben und einer Hochzeit zustimmen.

»Aber die Ehe versprochen hat der Max dir nie?« forschte Sebastian Trenker nach.

Das Madel schüttelte den Kopf, während die Tränen der Scham und Reue über ihre Wangen liefen.

*

Vinzenz Leitner wußte nicht wohin in seiner Wut. Am liebsten hätte er über das ganze Haus geschrien. Mehr als hundert Einladungen – alles für die Katz’.

Diese Blamage!

»Bist doch selber schuld«, schimpfte seine Frau mit ihm. »Warum mußt’ denn auch alles mit Gewalt machen?«

»Noch ist es ja net zu spät gewesen«, tröstete Sebastian ihn. »Stell’ dir vor, das ganze Fest wäre vorbereitet, und der Max hätte nein gesagt, vor dem Altar.«

»Ach, der soll doch zum Teu…«

Im letzten Moment fiel ihm ein, daß ja ein Geistlicher vor ihm stand. Vinzenz Leitner lief rot an, diesmal aber nicht vor Wut.

»Ach, laßt mich doch alle in Frieden«, rief er dann und ging hinaus.

Krachend fiel die Tür ins Schloß.

Monika Leitner entschuldigte sich für das Verhalten ihres Mannes. Der Pfarrer winkte ab. Er hatte absolutes Verständnis für diese menschliche Regung.

»Eine Bitte hätt’ ich noch, Herr Pfarrer«, sagte die Bäuerin.

Sebastian nickte.

»Nur heraus damit. Wenn ich irgendwie behilflich sein kann…?«

»Vielleicht, ja. Es geht um unseren Knecht, den Tobias.«

»Was ist mit ihm? Soweit ich weiß, ist er ein fleißiger und ehrlicher Arbeiter.«

»Das stimmt. Und er ist so etwas wie ein kleiner Bruder für mich. Deshalb bin ich auch so besorgt. Der Tobias hat großen Kummer. Er nimmt sich die Sache so zu Herzen, daß er kaum noch ißt und schläft. Dabei weiß ich, daß er wirklich unschuldig ist…«

Monika brach ab und schüttelte den Kopf.

»Vielleicht sollte ich von vorn’ beginnen«, fuhr sie dann fort. »Sie wissen ja gar net, worum es geht.«

Sebastian hörte aufmerksam zu. Schließlich stand er auf.

»Ich spreche erst einmal mit Tobias. Dann fahre ich gern’ auf die Alm hinauf und versuche, in Erfahrung zu bringen, was da geschehen ist.«

Die Bäuerin war erleichtert.

»Mir fällt wirklich ein Stein vom Herzen, Herr Pfarrer. Tausend Dank.«

»Aber dafür doch nicht, Monika. Ich helfe gerne, wenn ich kann.«

*

»Und du hast wirklich keine Erklärung, warum die Christel sich so verhält?« fragte Pfarrer Trenker den jungen Knecht.

Er hatte Tobias in dem Waldstück gefunden, das zum Leitnerhof gehörte. Zusammen mit einem anderen Arbeiter war er dabei, die Sturmschäden zu beseitigen. Als der Geistliche ihn aufsuchte, unterbrach der Knecht seine Arbeit, und sie setzten sich ein wenig abseits auf einen gefällten Baumstamm.

»Bestimmt net, Herr Pfarrer«, antwortete Tobias verzweifelt. »Dabei hab’ ich es doch gern, das Madel.«

Hilflos hob er die Arme.

»Die einzige Erklärung ist, daß jemand etwas über mich erzählt hat, das net stimmt.«

»Du meinst, jemand habe Lügen über dich erzählt?«

Tobias nickte und sprach über seinen Verdacht, Lore Inzinger könne dahinterstecken. »Aber, so recht mag ich es net glauben. So schlecht ist die Lore net.«

»Deine gute Meinung von ihr in allen Ehren«, sagte Sebastian. »Natürlich soll man niemanden beschuldigen, ohne einen wirklichen Beweis für dessen Schuld. Dennoch denke ich, daß wir das Madel fragen sollten, ob sie vielleicht doch mit der Christel oder der Maria Hornhauser gesprochen hat. Wer weiß…«

»Ja, aber Lore ist doch gar net hier. Sie arbeitet in der Kreisstadt, im Hotel ›Zum Hirschen‹.«

»Ich habe morgen sowieso in der Stadt zu tun«, meinte Pfarrer Trenker. »Bei der Gelegenheit werd’ ich die Lore mal aufsuchen. Aber zuerst fahre ich auf die Alm hinauf. Mit mir wird Christel schon reden.«

Tobias strahlte den Geistlichen an.

»Also, Hochwürden, daß Sie das für mich tun wollen! Ich weiß gar net, wie ich Ihnen danken soll.«

Sebastian stand auf und klopfte seine Hose ab.

»Dank net mir, Tobias«, sagte er, bevor er zu seinem Wagen ging. »Dank’ dem Herrgott. Er ist es, der alle Geschicke lenkt. Also, du hörst von mir.«

Der junge Knecht sah dem Wagen des Pfarrers noch lange nach, und plötzlich spürte er eine unerklärliche Zuversicht, daß sich doch noch alles zum Guten wenden würde.

Sebastian Trenker fuhr ohne Umschweife zur Jenner-Alm hinauf.

Maria Hornhauser war erstaunt, daß der Geistliche mit dem Wagen herauf kam. Sie kannte ihn eigentlich nur auf Schusters Rappen, wenn er wieder einmal seiner liebsten Freizeitbeschäftigung, dem Wandern und Klettern, nachging, oder wenn er in seiner Eigenschaft als Pfarrer zum Almabtrieb oben auf der Alm seinen Segen sprach.

»Nanu, Hochwürden, gar net als Wanderer unterwegs?« begrüßte sie Sebastian.

»Grüß’ dich, Maria«, antwortete er. »Das hat sich so ergeben.«

»Hat Ihr Besuch einen besonderen Grund?«

Sebastian nickte.

»So könnte man sagen. Ich bin in einer besonderen Mission hier.«

»Aber setzen’s sich erst mal«, forderte die Sennerin ihn auf. »Mögen S’ a Glaserl Milch?«

»Gerne, Maria. Herzlichen Dank.«

Im gleichen Augenblick trat Christel über die Schwelle der Sennerhütte. Lächelnd begrüßte sie Sebastian. Allerdings schien das Lächeln mehr erzwungen, als gewollt.

»Nanu, Madel, täusch’ ich mich, oder seh’ ich da einen traurigen Blick in deinen Augen?« fragte Pfarrer Trenker.

Christel setzte sich neben ihn auf die Bank.

»Hat es ’was mit dem Tobias zu tun?«

Das Madel schaute überrascht auf.

»Woher wissen Sie…?«

»Na, woher wohl? Von ihm natürlich«, lachte Sebastian. »Der Tobias hockt d’runten im Tal und schaut genauso traurig wie du.«

»Na, der hat’s g’rad nötig!«

Maria Hornhauser war gerade mit dem Glas Milch herausgekommen und hatte die letzten Worte mitgehört.

»Der Bursch’ hat’s doch faustdick hinter den Ohren«, schimpfte sie.

Sebastian bedankte sich für die Milch.

»Wie meinst’ denn das?« fragte er. »Ich kenne den Tobias nur als ehrlichen und fleißigen Burschen.«

»Der ein Madel wegen eines anderen sitzenläßt, obwohl sie verlobt sind. Von dem Kind ganz zu schweigen.«

»Das Kind? Welches Kind?«

»Jenes, das Lore Inzinger unter ihrem Herzen trägt. Hat der Herr Hofer nix davon gebeichtet?«

Marias Augen sprühten Feuer, während Sebastian ratlos von einer zur anderen sah. Christel schlug die Hände vor ihr Gesicht und schluchzte.

Du lieber Himmel, dachte der Geistliche, was ist denn das für ein Durcheinander?

»Also, wenn das wahr wäre, dann hätte Tobias mir bestimmt davon erzählt«, sagte er. »Er hat mir gesagt, wie sehr er dich liebt und dich vermißt, Christel. Er hat so vieles gesagt, was mich überzeugt, daß der Bursche es absolut ehrlich mit dir meint. Und was die Sache mit der Lore angeht…, da ist das letzte Wort noch net gesprochen.«

Beim Abendessen, das Pfarrer Trenker diesesmal alleine einnahm – Max hatte außerhalb zu tun, und Frau Tappert weilte zu Besuch bei einer Freundin – überdachte Sebastian die ganze Sache. Ihm wurde immer klarer, daß der Schlüssel zu dieser vertrackten Angelegenheit bei Lore Inzinger liegen mußte. Diesen Schlüssel mußte er finden. Er war gespannt auf den Besuch im Hotel ›Zum Hirschen‹.

*

Dr. Wiesinger drückte den Knopf der Gegensprechanlage. Sie war der einzig moderne Einrichtungsgegenstand in der Praxis des Dorfarztes. Toni hatte sie angeschafft, um nicht immer zur Tür laufen zu müssen, wie der verstorbene Arzt es noch getan hatte.

»Frau Brunner, den nächsten Patienten bitte«, sagte er in das Mikrophon.

Die Tür zu seinem Sprechzimmer öffnete sich, und zu Tonis Erstaunen kam Veronika Erbling herein – die gefürchtetste Klatschtante von ganz St. Johann.

Die Witwe Erbling war die Frau des verstorbenen Postbeamten Johann Erbling. Jedermann im Dorfe wußte: Wollte man, daß sich etwas schnell herumsprach, dann brauchte man es nur Vroni Erbling unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen, und konnte sicher sein, daß spätestens einen Tag später das ganze Dorf bestens informiert war.

Toni konnte sich nicht erinnern, die Witwe mehr als zwei-, dreimal in seiner Praxis gesehen zu haben, seit er diese übernommen hatte. Er wußte, daß die Frau zu den besten Kunden des alten Brandhuber gehörte. Als sie ihn aufsuchte, da geschah es auch eher aus Neugier, als daß ihr wirklich etwas gefehlt hätte. Jetzt aber kam sie mit langsamen Schritten und gequältem Gesichtsausdruck herein.

»Grüß’ Gott, Herr Doktor, ich brauche Ihre Hilfe«, begrüßte sie den Arzt.

Toni stand auf und ging ihr entgegen. Stützend führte er sie zu dem Stuhl vor seinem Tisch.

»Grüß’ Gott, Frau Erbling. Was fehlt Ihnen denn?«

Vroni Erbling trug seit dem Tod ihres Mannes – der immerhin schon sechs Jahre zurücklag – nur noch schwarze Kleidung, und ein schwarzer Hut verbarg den größten Teil der schlohweißen Haare. Auf der spitzen Nase saß eine runde Nickelbrille. Dahinter blitzten zwei Augen, mit denen sie den Arzt fixierte.

»Eigentlich wollt’ ich’s von Ihnen wissen«, sagte sie mit einer unangenehm hohen Stimme. »Sie sind doch der Doktor – oder net?«

Toni Wiesinger verkniff sich eine Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag.

»Natürlich, Frau Erbling«, antwortete er statt dessen. »Ich hab’ auch bloß fragen wollen, welcher Art Ihre Beschwerden sind.«

»Der Ischias ist’s. Was denn sonst«, lautete die Antwort. »Ansonsten bin ich kerngesund.«

»Sehen Sie, und genau das kann ich net wissen. Sie kommen ja sonst net in meine Praxis.«

Er setzte sich auf seinen Stuhl und blätterte in einem Karteiordner.

»Tja, ich habe noch gar keine Krankenakte über Sie«, sagte er schließlich. »Also brauch’ ich erstmal ein paar Angaben von Ihnen.«

»Angaben? Was für Angaben?« fuhr die Witwe auf. »Hören S’, Herr Doktor, ich brauch nur eine Salbe, die die Schmerzen lindert. Dafür schreiben S’ mir ein Rezept, und das bezahl’ ich gleich.«

»Bitte sehr, wie Sie wünschen. Ich wußte gar net, daß Sie privat versichert sind.«

»Das ist noch von meinem verstorbenen Gatten«, sagte sie, und hob stolz das Haupt. »Der war nämlich Beamter.«

»Aha«, nickte Toni Wiesinger und schrieb das Rezept aus. »Seit wann haben’S denn die Schmerzen schon? Gewiß net erst seit heut’, oder? Warum kommen S’ denn erst jetzt?«

»Eigentlich hab’ ich ja sonst eine ganz besond’re Salbe, die mir wunderbar hilft. Nur, im Moment, da… na ja, ist ja auch net so wichtig…«

»Sie meinen, der Herr Brandhuber kann im Moment net liefern«, meinte der Arzt und freute sich, daß Vronis Gesicht rot anlief.

Die Witwe nahm das Rezept entgegen und stand auf.

»Ich zahl’s vorn’.«

»Ist recht«, nickte Toni. »Übrigens, ich glaub net, daß die Salbe viel hilft. Wenn’s wirklich der Ischias ist, dann ist da ein wichtiger Nerv betroffen. Da brauchen S’ eine Spritze, viel Wärme und Bettruhe. Aber das hätte der Herr Brandhuber Ihnen ja wohl auch geraten.«

Der Blick, mit dem die Witwe ihn bedachte, bevor sie hinausging, wäre beinahe tödlich gewesen.

Brandhuber, Brandhuber, was mach’ ich bloß mit dir? überlegte Dr. Wiesinger, als er alleine war. Irgend etwas mußte er unternehmen. Der Besuch der Witwe eben, war ein Paradebeispiel. Erst wenn der Scharlatan nicht mehr helfen konnte, und die Menschen nicht weiterwußten, kamen sie zu ihm in die Praxis.

Immer noch dachte Toni daran, den Alten anzuzeigen. Dabei würde ein ganz schönes Register von Vergehen zutage kommen, deren der Brandhuber sich schuldig gemacht hatte. Und doch schreckte der Arzt vor diesem Schritt zurück. Viele Leute in St. Johann würden es ihm übelnehmen. Wie dann seine Stellung hier im Dorf aussah, das konnte er sich leicht ausrechnen.

*

»Grüß’ Gott, Herr Brunnenmayr. Wie ich sehe, geht es Ihnen ja schon wieder besser«, sagte Pfarrer Trenker.

Hubert Brunnenmayr sah von der Zeitschrift auf, in der er geblättert hatte. Vor zwei Tagen war er von der Intensivstation auf die normale Pflegestation verlegt worden. Nun teilte er das geräumige Zimmer im Kreiskrankenhaus mit zwei weiteren Patienten.

»Sie müssen Pfarrer Trenker sein«, rief er freudig, als er an Sebastians Kragen erkannte, daß er einen Priester vor sich hatte. »Die Kamderaden vom Kegelclub haben mir erzählt, was Sie getan haben. Herzlichen Dank. Ohne Ihre Hilfe wär’ ich vielleicht net mehr am Leben.«

»Das war doch selbstverständlich«, antwortete Sebastian und schüttelte die Hand. »Ich hab’ schon gehört, daß Sie auf dem Weg der Besserung sind, und wollte net versäumen, Sie zu besuchen.«

»Das ist wirklich sehr nett. Wissen S’, ich hab net viel Abwechslung hier. Meine Frau kann natürlich net jeden Tag herkommen, dazu wohnen wir zu weit weg. Aber in der letzten Woch’, bevor ich entlassen werd’, da nimmt sie sich ein Zimmer hier in einer Pension.«

»Schön, daß die Sache so glimpflich abgelaufen ist«, freute Sebastian sich. »Sie wissen schon, daß Sie einen Teil Schuld daran tragen, daß es so schlimm gekommen ist, net wahr?«

Hubert Brunnenmayr nickte.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Herr Pfarrer, die Sache mit dem Wundertee.«

Er winkte ab.

»Ich war schon ziemlich blöd’, zu glauben, das Zeug tät’ mich gesundmachen. Und erst das viele Geld, das ich dafür ausgegeben hab’. Aber, was soll’s. Hinterher ist man immer schlauer, und… na ja, was soll ich sagen – zuerst hat’s ja auch gewirkt. Die Schmerzen waren wie weggeblasen.«

Sebastian Trenker mußte trotz allem schmunzeln. Manche Leut’ sind doch unbelehrbar.

*

Sebastian befürchtete, daß dem angenehmen Besuch im Krankenhaus nun ein eher unangenehmer folgen würde. Das Hotel, in dem Lore Inzinger arbeitete, lag im Stadtzentrum. Der Geistliche stellte seinen Wagen in einem Parkhaus ab und schlenderte durch die Straßen. Bald hatte er sein Ziel erreicht. Gegenüber des Marktplatzes erhob sich ein großes weißes Haus. Hotel ›Zum Hirschen‹ stand in goldenen Lettern über dem Eingang, und gleich daneben hing die steinerne Figur eines Zwölfenders. Sebastian betrat die Hotelhalle und fand dort den Hinweis auf das Restaurant. Es lag einen kurzen Gang hinunter im hinteren Bereich der Halle. Der Pfarrer wollte dort einen Kaffee trinken und sich nach Lore erkundigen. Aber das brauchte er gar nicht. Wie sich herausstellte, hatte das Madel Dienst im Restaurant. Sie schaute erst ungläubig, dann hellte sich ihre Miene auf, als sie Sebastian erkannte.

»Herr Pfarrer, Grüß Gott. Was machen Sie denn hier?«

»Einen Kaffee möcht’ ich trinken«, antwortete Sebastian und schüttelte ihre Hand.

Er sah sich um. Das Restaurant hatte vielleicht vierzig Sitzplätze und war hell und freundlich eingerichtet. Ein paar Tische waren noch mit späten Mittagsgästen besetzt. An einigen anderen wurde schon Kaffee getrunken und Kuchen gegessen.

»Hier arbeitest du also«, sagte der Pfarrer. »Ein wirklich schönes Lokal.«

»Und ein sehr gutes Hotel«, betonte Lore. »Wir werden sogar in mehreren Hotelführern und Feinschmeckerzeitschriften lobend erwähnt. Aber setzen Sie sich doch.«

Lore führte ihn an einen Tisch und reichte ihm eine kleine Karte. Darauf waren einige Sorten Kaffee aufgeführt. Es war alles sehr verlockend zu lesen, aber Kaffee mit Weinbrand oder Likör schien Sebastian nicht das richtige zu sein, zumal er noch die Fahrt zurück nach St. Johann vor sich hatte. Er blieb beim einfachen schwarzen Kaffee ohne Milch und Zucker.

»Ein Kännchen bitte«, sagte er zu Lore und gab ihr die Karte zurück.

»Kuchen auch?« fragte das Madel. »Wir hätten einen Nußkuchen, oder eine Schwarzwälder Kirschtorte.«

»Ich glaub’, der Kaffee reicht mir. Weißt’, meine Haushälterin kocht so gut und reichlich, da ist für Kuchen eigentlich kein Platz mehr.«

Lore lachte und verschwand durch eine Tür hinter dem Tresen. Dort befand sich die Kaffeeküche. Schon nach kurzer Zeit kam sie wieder zurück. Auf einem silbernen Tablett trug sie das Kännchen und die Tasse. Auf einem kleinen Tellerchen lagen zwei Stückchen Schokolade in Silberpapier eingepackt, auf dem der Name des Hotels stand.

Sebastian bedankte sich. Bevor Lore sich umdrehte, fragte er, ob er sie später noch einmal sprechen könne. Das Madel bejahte.

»In einer halben Stunde habe ich meine Schicht beendet«, sagte sie. »Dann haben wir Zeit.«

Sebastian nickte und widmete sich seinem Kaffee, der wirklich ausgezeichnet schmeckte. Nebenher blätterte er in einer Zeitung, die Lore ihm gebracht hatte.

Schließlich hatte sie ihre Freistunde. Lore Inzinger hatte sich umgezogen und setzte sich zu Sebastian an den Tisch.

»Ich hoffe, dein Chef hat nichts dagegen, daß du hier mit mir sitzt«, sagte der Pfarrer. »Ich weiß, daß das in manchen Hotels net gern’ gesehen wird.«

»Das geht schon in Ordnung«, erwiderte das Madel. »Möchten S’ noch einen Kaffee?«

Sebastian lehnte dankend ab.

»So, was wollen S’ denn eigentlich mit mir besprechen, Hochwürden?«

Der Geistliche sah das Madel einen Moment nachdenklich an. Er kannte Lore seit ihrer Taufe und später von ihrer Kommunion. Er hatte sie eigentlich als freundliches und aufgeschlossenes Madel in Erinnerung. Konnte man ihr wirklich zutrauen, solch ein Gerücht in die Welt gesetzt zu haben?

»Lore, was ich mit dir zu bereden hab’, ist eine sehr ernste Angelegenheit«, begann er.

Sie schaute ihn ernst und erwartungsvoll an, und plötzlich spürte sie ein merkwürdiges Gefühl im Bauch und ahnte, was Pfarrer Trenker von ihr wollte.

»Ich hab’ mit dem Tobias gesprochen, mit der Christel und ihrer Mutter. Ist es wirklich wahr, was du der Maria Hornhauser erzählt hast? Daß der Tobias dich hat sitzenlassen? Und daß er dich wegen der Christel verlassen hat?«

In Lores Gesicht zuckte es. Sie kämpfte mit den Tränen. Du liebe Zeit, das hatte sie doch alles net so ernst genommen. Ein bißchen rächen wollt’ sie sich, für die Schmach, daß der Tobias nichts mehr von ihr wissen wollt’.

Ja, sie hatte gelogen, weil sie der Neuen weh tun wollte.

Lore stützte ihren Kopf in den Händen und schluchzte. Von den anderen Gästen schaute niemand herüber, nur die Kollegin, die das Madel abgelöst hatte, sah ab

und zu neugierig vom Tresen zu dem Tisch, an dem die beiden saßen.

»Dann stimmt das also alles net?«

Das Madel schüttelte seinen Kopf.

»Es…, es tut mir furchtbar leid«, flüsterte sie. »Und ich schäme mich so.«

Pfarrer Trenker strich ihr tröstend über das Haar. Eines der zehn Gebote lautet: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten – aber der Geistliche, der für die Schwächen der Menschen jedes Verständnis hatte, war nicht hergekommen, um dem Madel einen theologischen Vortrag zu halten. Ihm ging es einzig darum, die Wahrheit ans Licht zu bringen, und er spürte, daß Lore ihr Handeln bitter bereute.

»Es hätte einen größeren Schaden geben können«, sagte er. »Der ist, gottlob, net eingetreten. Ich bin überzeugt, daß es für Tobias und Christel noch net zu spät ist, und auch du wirst eines Tages den Mann finden, der einen festen Platz in deinem Herzen haben wird.«

Er verabschiedete sich und ging zurück zu seinem Wagen. Auf der Fahrt nach St. Johann hatte er Zeit genug, über das nachzudenken, wozu verletzte Eitelkeit den Menschen verleiten konnte.

*

Max Trenker ging an diesem Abend mit einem unguten Gefühl zum Pfarrhaus hinüber. Sein Bruder hatte ihn extra eine halbe Stunde eher bestellt, als es dort für gewöhnlich Abendessen gab. Und Max konnte sich schon denken, was Sebastian mit ihm zu besprechen hatte.

Diese angebliche Verlobung mit Resl Leitner hatte mehr Staub in St. Johann aufgewirbelt, als zunächst angenommen. Den ganzen Tag über, jedenfalls, so lange der Gendarm auf dem Revier war, hatte das Telefon geläutet, und die Leute gratulierten. Max redete mit Engelszungen, um ihnen klarzumachen, daß das alles ein einziger Irrtum war.

»Geh’n S’ nur hinein, Max«, sagte Sophie Tappert. »Der Herr Pfarrer ist in seinem Arbeitszimmer.«

Sie sagte nie ›Ihr Bruder‹, sondern immer ›Herr Pfarrer‹.

Max öffnete die Tür und trat ein. Sebastian Trenker schaute von einem Brief auf, den er gerade las.

»Grüß’ dich, Max«, nickte er seinem Bruder zu. »Setz dich doch.«

Der Gendarm nahm Platz. Sebastian legte den Brief beiseite und sah ihn einen Moment schweigend an. Dann schüttelte er den Kopf.

»Max, Max, was fang’ ich bloß mit dir an?«

Der rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her.

»Ich weiß schon, was du sagen willst…«

Sebastian Trenker schmunzelte.

»Ich weiß wirklich net, wo das mit dir noch endet«, sagte er, wobei er sich bemühte, seiner Stimme einen strengen Ton zu geben. »Ich fürchte, wenn du net bald den Bund fürs Leben eingehst, kann ich dich net mehr vor wütenden Vätern oder Brüdern retten, bei all den gebrochenen Herzen, die du hinterläßt.«

Max grinste.

»Du, ich kann doch wirklich nix dafür«, versuchte er, sich zu entschuldigen. »Ich hab’ der Resl wirklich nix versprochen.«

»Nein, aber ihr schöne Augen gemacht und damit Hoffnung erweckt. Hoffnung, die sich letzten Endes aber nicht erfüllt hat. Ich glaub’ schon, daß das Madel dich gern hat. Ob’s die Richtige gewesen wär’, das kann ich natürlich net entscheiden. Aber vielleicht bemühst du dich einmal ein wenig und siehst zu, daß du die Frau fürs Leben findest.«

»Das, lieber Sebastian, will ich gerne tun«, antwortete Max mit einem treuen Augenaufschlag. »Ich fürcht’ nur, es wird eine ziemlich lange Suche werden…«

Pfarrer Trenker hob die Hände und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Bei diesem Burschen war wirklich Hopfen und Malz verloren…

… jedenfalls, was die Madeln anging!

*

Gleich nach dem Abendessen machte der Geistliche sich noch einmal auf den Weg zur Jenner-Alm. Er wollte nicht mehr bis zum nächsten Tag warten, um Christel Hornhauser die gute Nachricht zu überbringen.

Das Madel war gerade mit ihrer allabendlichen Arbeit fertig geworden. Dreißig Kühe und etliche Ziegen mußten gemolken werden, und die Abendmilch, zusammen mit der Morgenmilch in der kleinen Käserei in die Kessel gegeben werden, damit daraus Käse wurde.

Maria Hornhauser war schon damit beschäftigt, im Käselager für Ordnung zu sorgen. Die richtige Käsepflege war ausschlaggebend für die Qualität.

»Ich wollte es dir gleich sagen«, wandte Pfarrer Trenker sich an das Madel. »Ich war heut’ in der Stadt und hab’ mit Lore Inzinger gesprochen. Sie hat zugegeben, geschwindelt zu haben.«

Christel schaute zuerst ungläubig, dann schluckte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Dann…, dann hab’ ich dem Tobias ja Unrecht getan«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Und ich auch.«

Maria Hornhauser, die alles mit angehört hatte, war bestürzt.

»Ich werd’ mich bei Herrn Hofer entschuldigen müssen«, sagte sie.

Pfarrer Trenker winkte ab.

»Das hat keine Eile, Maria. Ich denke, der Tobias wird für deine Reaktion Verständnis haben. Schließlich mußtest du davon ausgehen, daß Lore dir die Wahrheit gesagt hat.«

Er wandte sich an Christel.

»Und du, Madel? Willst du net zu ihm gehen und mit ihm reden. Du hast ihn doch noch immer lieb, oder?«

Das Madel schwankte zwischen Lachen und Weinen.

»Ja, ja, natürlich hab’ ich ihn lieb.«

»Also, wenn’s magst, ich nehme dich gern’ mit hinunter«, bot Sebastian an.

Sie schaute ihre Mutter an. Die nickte nur.

»Ich bin gleich soweit«, rief Christel, als sie schon auf dem Weg ins Haus war.

Wenig späßter saß sie mit klopfendem Herzen neben dem Geistlichen, und je näher sie dem Leitnerhof kamen, um so banger wurde ihr ums Herz.

Was war, wenn Tobias sie zurückwies? Er mußte doch gekränkt sein, nach allem, was man ihm angetan hatte. Aber – es war ja nicht ihre Schuld gewesen!

»Meinst’, ich soll erst mal mit ihm reden?« fragte Sebastian.

Christel nickte dankbar. Sie waren auf den Hof gefahren. Der Pfarrer stellte den Wagen vor der Scheune ab. Draußen war niemand zu sehen. Vermutlich saßen sie alle drinnen beim Nachtmahl.

Christel blieb sitzen, als Sebastian das Bauernhaus betrat. Die Minuten vergingen quälend langsam. Schließlich hielt es sie nicht mehr länger in dem Auto und sie stieg aus. Es wurde schon dunkel, als sie ruhelos über den Hof wanderte. Der Abendwind rauschte in den mächtigen Eichen, und langsam schob sich der Mond hinter einem Wolkenband hervor.

Plötzlich war ihr, als hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Sie sah zum Haus hinüber, aber dort drüben war niemand. Sie mußte sich wohl getäuscht haben. Doch dann hörte sie die Stimme noch einmal, und ein langer Schatten kam auf sie zu.

»Tobias…!«

Ihre Stimme versagte, als er so plötzlich vor ihr stand. Ja, das war er, ihr Tobias, der Mann, den sie von ganzem Herzen lieb hatte. Er trat aus dem Dunkel in das Licht des Mondes und breitete die Arme aus. Christel stand stocksteif, wagte kaum zu atmen.

»Willst’ net zu mir kommen?« fragte Tobias leise.

Mit einem Jubelschrei flog sie in seine Arme. Tobias wirbelte sie herum, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, und schließlich fanden sich ihre Lippen.

»Kannst du mir denn verzeihen?« fragte Christel. »Ich war ja so dumm, zu glauben…«

»Nichts sagen«, schnitt er ihr das Wort ab. »Es gibt nix zu verzeihen. Ich liebe dich, und das alleine zählt. Gleich morgen werd’ ich zu euch hinauf kommen und um deine Hand anhalten. Und ich hoffe, daß deine Mutter keine Einwände mehr gegen mich hat.«

Christel schüttelte den Kopf.

»Bestimmt net«, sagte sie. »Ganz bestimmt net.«

Doch dann erschrak sie.

»Vielleicht…«

Tobias sah sie forschend an.

»Was ist? Glaubst, deine Mutter könnt’ doch noch etwas gegen mich haben?«

»Nein, nein, das net. Aber wenn wir heiraten, dann hat sie ja niemanden mehr, der sie auf der Alm unterstützt. Daran hab’ ich noch gar net gedacht.«

»Aber ich«, beruhigte Tobias sie.

»Du?«

»Ja. Weißt’, als Pfarrer Trenker mir seine Hilfe anbot, da hab’ ich gewußt, daß noch alles gut werden würd’, und da hab’ ich mit Vinzenz und der Monika gesprochen. Sie hatten Verständnis für mein Anliegen. Ich werd’ zu euch auf die Alm ziehen und ein richtiger Senn werden.«

Christel war erstaunt.

»Du…, du hast wirklich an alles gedacht«, lachte sie.

»Na, dann ist ja alles in bester Ordnung«, hörten sie die Stimme von Pfarrer Trenker, der hinzugetreten war.

»Wir können Ihnen gar net sagen, wie dankbar wir Ihnen sind, Herr Pfarrer«, sagten beide.

Sebastian nickte.

»Ich freue mich mit euch.«

»Dann werden wir schon bald zu Ihnen kommen«, meinte Tobias, bevor Pfarrer Trenker das Madel zurück auf die Alm brachte. »Um alles für die Trauung zu besprechen.«

*

Ein paar Wochen später wurde Dr. Wiesinger an die Episode mit dem Brandhuber-Loisl erinnert. Es war nämlich wieder Vollmond, und Toni mußte feststellen, daß er mal wieder keinen Schlaf fand. Er saß in seinem Wohnzimmer und las, im Schein der Stehlampe, in einer Pharmazeitschrift. Plötzlich ertappte der Arzt sich dabei, daß er lauschend am offenen Fenster stand und hinausschaute. Ohne es wirklich wahrgenommen zu haben, mußte er aufgestanden sein.

Hab’ ich jetzt wirklich gewartet, den Alten hier herumschleichen zu sehen? fragte er sich.

Er schüttelte den Kopf.

»Sieh’ bloß zu, daß du ins Bett kommst«, sagte er dann im Selbstgespräch. »Der Brandhuber verfolgt dich wirklich noch bis in den Schlaf.«

Am nächsten Morgen gab es dann die nächste Überraschung für Toni Wiesinger. Als er den ersten Patienten hereinbat, öffnete sich die Tür und herein trat – Alois Brandhuber!

Der junge Arzt schaute, als sehe er ein Gespenst vor sich stehen. Langsam humpelte der Wunderheiler herein und ließ sich ächzend auf den Stuhl fallen.

»Also, wenn ich’s net mit eigenen Augen sehen tät’ – ich würd’s net glauben«, sagte Toni. »Was bringt dich dazu, in meine Praxis zu kommen? Helfen dir deine eigenen Wundermittel net

mehr?«

»Du hast gut lachen«, winkte Loisl ab.

Er war wohl schon weit über siebzig, wirkte aber immer noch rüstig, und wenn er sich ein wenig mehr pflegen würde, wäre er sogar eine stattliche Erscheinung. In St. Johann erzählte man sich, daß der Brandhuber-Loisl in jungen Jahren so mancher Dorfschönen den Kopf verdrehte. Geheiratet hatte der alte Schwerenöter aber nie. Früher hatte er ein Stück Land besessen, das er beackerte. Heute hauste er in einer alten Tagelöhnerkate am Rande von St. Johann und lebte von einer kleinen Rente und dem Verkauf seiner obskuren Heilmittel.

»Du brauchst nur Rezepte zu schreiben. Ich dagegen muß die Zutaten für meine Medikamente mühsam suchen«, fuhr er fort. »Aber das weißt du ja…«

Er warf Toni einen finsteren Blick zu und zog das rechte Hosenbein hoch. Der Arzt sah eine böse Verletzung.

»Du lieber Himmel, wie ist denn das passiert?«

Das Bein war dick geschwollen und blustverkrustet.

»Ich hab’s ja sagen wollen. In Ausübung meines Berufes«, brummte der Alte und bequemte sich endlich, zu erzählen, wie und wo er sich die schlimme Verletzung zugezogen hatte.

Es war ja Vollmond, und das war, nach dem alten Buch, aus dem Loisl sein ›Geheimwissen‹ bezog, die beste Zeit, um bestimmte Pflanzen zu suchen, die nur am Oberlauf des Gebirgsbaches, unterhalb des Höllenbruchs wuchsen.

Zu seinem Pech hatte Loisl an diesem Abend etwas zu tief in die Biergläser des Löwenwirtes geschaut und war dann ziemlich angesäuselt über Felder und Wiesen gewankt. Dabei war er über einen Stacheldrahtzaun gestolpert und hatte sich das Bein verletzt.

Toni half dem Alten auf die Liege und besah sich die Verletzung näher.

»Tja, Brandhuber, das sieht bös’ aus«, sagte der Arzt, nachdem er die Wunde gesäubert, und einen Verband angelegt hatte. »Wenn ich’s recht bedenk’, dann müßt’ ich dich eigentlich ins Krankenhaus einweisen.«

Der Brandhuber-Loisl richtete sich mit einem Ruck von der Liege auf.

»Ins Krankenhaus? Das kommt überhaupt net in Frage«, polterte er. »Ich bin mein Lebtag noch net in einem Krankenhaus g’wesen.«

»Also, da ist net mit zu spaßen«, schüttelte Toni bedenklich den Kopf. »Weißt’, immerhin kann Schmutz in die Wunde gekommen sein. Was sogar sehr wahrscheinlich ist, wenn der Draht alt und rostig war. Na ja, und eine Blutvergiftung ist weitaus schmerzhafter, als ein paar Tag’ in einem Krankenhaus. Sie kann sogar tödlich sein. Willst’ das wirklich riskieren?«

Der alte Quacksalber war blaß geworden.

»Ist das wirklich so schlimm, Doktor?« fragte er argwöhnisch. »Oder willst’ mich verkohlen?«

»Nein, nein. Also, wie ich schon sagte – mit so ’was spaßt man net«, erwiderte Toni Wiesinger. »Ich meine, du weißt ja selbst, wie gefährlich solche Verletzungen sein können. Gerade du, der du doch so etwas wie ein Kollege bist…«

Bei den letzten Worten hatte der Arzt sich weggedreht, damit der Alte nicht sah, wie er sich das Lachen verkneifen mußte. Dies war die Stunde, die er herbeigesehnt hatte.

Rache kann so köstlich schmecken!

»Ja, Doktor…, wenn du meinst…«, kam es zögernd über Loisl’s Lippen.

»Sieh’ mal, so ein Aufenthalt im Krankenhaus ist fast wie ein kleiner Urlaub«, tröstete Toni den Alten. »Dir wird’s Essen ans Bett gebracht, und du brauchst dich um nix zu kümmern. Sogar das Rasieren wird dir abgenommen. Wenn du im Bett liegst und net aufstehen kannst, kommt eine nette Schwester und seift dich von oben bis unten ein. Oder sie bringt dir die Bettpfanne…«

Loisl sah ihn mißtrauisch an und machte Anstalten, von der Liege zu springen.

»Das meinst’ net ernst – oder? Ich kann mich immer noch allein’ rasieren!«

»Ich glaub’s dir ja. Natürlich hab’ ich nur gescherzt. Aber, die Wunde ist net ungefährlich. Wir müssen sie im Aug’ behalten. Ich geb’ dir noch ein Antibiotikum mit. Davon nimmst’ einmal täglich eine Tablette. In ein paar Tagen bist wieder ganz gesund. Zwischendurch komm’ ich und seh’ mir das Bein an. Dann mach ich dir auch einen neuen Verband.«

Erleichtert setzte sich der Alte auf. Er war sein Lebtag noch net im Krankenhaus gewesen, und die Aussicht darauf hatte ihn schon erschreckt. Er reichte dem Arzt die Hand.

»Dann dank’ ich schön, Doktor. Eigentlich bist ja doch ein feiner Kerl. Vielleicht sollten wir beide ein biss’l mehr zusammenarbeiten. Was hältst davon?«

Zu diesem Vorschlag sagte der junge Arzt lieber nichts.

*

Christel und Maria Hornhauser konnten vor Aufregung nicht schlafen, denn der große Tag stand bevor. Sie hatten sich im Löwen einquartiert, die Tiere auf der Alm versorgte indes ein Senner aus der Nachbarschaft.

Schon in aller Herrgottsfrühe waren die beiden Frauen auf den Beinen. Zu einem, weil sie es von ihrer Arbeit her gewohnt waren, zum anderen natürlich, weil die Aufregung so groß war.

In dem Zimmer, das sie beide bewohnten, hing das Brautkleid außen am Kleiderschrank. Es war dasselbe, das auch Maria zu ihrer Hochzeit getragen hatte. Ein wunderschönes Trachtenkleid mit aufwendiger Stickerei und silbernen Ketten verziert. Dazu gehörte ein Kopfschmuck mit roten und grünen Bändern. Maria hatte Tränen der Rührung in den Augen, als sie das Kleid an ihrer Tochter sah.

»Ich wünsch’ euch beiden alles Glück der Welt«, sagte sie und umarmte Christel.

Dann nahm sie eine schwarze Schatulle aus ihrer Handtasche und öffnete sie. Sie war innen mit rotem Samt ausgeschlagen, und darauf ruhte eine silberne Halskette mit einem wunderschönen, kunstvoll gearbeiteten Rosenanhänger.

»Die hat der Vater mir zu unserer Hochzeit geschenkt«, sagte sie und legte Christel die Kette um den Hals. »Schau.«

Sie zog das Madel vor den Spiegel. Christel war sprachlos, so schön hatte sie sich selber nie gesehen.

Es klopfte.

»Das wird die Friseuse sein«, meinte Maria Hornhauser und öffnete die Tür.

Die Friseurmeisterin kam aus dem Nachbarort. Dort waren Mutter und Tochter vor zwei Tagen gewesen, um sich für den festlichen Anlaß frisieren zu lassen. Die Meisterin hatte versprochen, heute herzukommen und die Haare noch einmal zu richten.

»Wunderschön!« war ihr einziger Kommentar, als sie die Braut sah. »Ich glaub’, wir müssen uns sputen. D’runten läuft ein ziemlich nervöser junger Mann herum. Dem festlichen Anzug nach zu schließen, ist es der Bräutigam.«

Christel schlang die Arme um ihre Mutter.

»Ich bin so aufgeregt«, flüsterte sie.

»Das ist wohl jede Frau in dieser Situation«, sagte ihre Mutter und drückte sie an sich. »Das geht vorüber.«

*

Tobias wartete. Ungeduldig schaute er die Treppe hinauf, die die beiden Frauen jeden Moment herunterkommen mußten. Endlich hörte er Schritte. Sie kamen aber von draußen. Monika und Vinzenz Leitner. Die Bäuerin und ihr Mann sollten die Trauzeugen sein. Sie richteten auch den anschließenden Hochzeitsschmaus aus, der auf dem Leitnerhof stattfinden sollte. Jetzt warteten sie mit dem Bräutigam an der Rezeption.

»Wo bleiben Sie denn nur?« fragte Tobias verzweifelt. »Das kann doch net so lang’ dauern.«

»Wart’s ab«, meinte Vinzenz Leitner. »Kommst’ noch früh genug zu deiner Hinrichtung.«

Monika gab ihm einen Knuff.

»Hör’ net auf ihn«, sagte sie an Tobias gewandt. »Auf unserer Hochzeit mußte er sich erst Mut antrinken, bevor er ja sagen konnte.«

»Eine gute Idee«, griff Vinzenz auf und wandte sich an Sepp Reisinger, der eben an den Empfang kam. »Geh’, Sepp, bring dem Tobias einen Schnaps, damit er ruhiger wird.«

Er schielte zu seiner Frau.

»Und mir bringst’ auch gleich einen mit.«

Sie hatten gerade getrunken, als es endlich soweit war. Maria und die Friseurmeisterin kamen zuerst, wenig später schritt Christel langsam die Treppe hinunter, wo Tobias sie in Empfang nahm.

In seinem Hals steckte ein dicker Kloß. So schön hatte er sich seine Braut nicht vorgestellt.

»Ich weiß gar net, was ich sagen soll«, kam es leise über seine Lippen.

Es war Vinzenz Leitner, der mal wieder witzelte.

»Sag’ einfach: Ja!«

Aber das mußte ihm gar net gesagt werden. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals hinauf, als der Bürgermeister von St. Johann, der Bruckner-Markus, der auch der Standesbeamte des Ortes war, ihm die entscheidende Frage stellte, und der Christel ging es nicht anders.

»Jetzt darfst’ die Braut küssen«, sagte Markus, nachdem er zweimal ein deutliches Ja gehört hatte.

Glücklich schauten sich die Brautleute an, Mutter Hornhausen weinte in ihr Taschentuch, und auch Monika Leitner hielt ihre Tränen der Rührung nicht zurück.

Tobias nahm seine Frau in die Arme, und sie gaben sich den süßesten Kuß ihres Lebens.

*

Der Himmelsspitz und die Wintermaid lagen noch im Dunst des frühen Nebels, als der Geistliche schon unterwegs war. In seinem Rucksack steckten wie immer Brot und Schinken und eine Thermoskanne mit Kaffee. Um seinen Hals trug Sebastian ein Fernglas, das er zwischendurch immer wieder vor die Augen hielt.

Langsam, aber stetig ging es bergan. Der Wanderer hatte keine Mühe, dem Pfad zu folgen. Wenn man so im Training war, wie Pfarrer Trenker, dann hatte man sich den Spitznamen ›Bergpfarrer‹ verdient.

Sebastian empfand den Wald wie eine Kirche, und die majestätischen Berge waren ihm wie ein Dom. Immer wieder zog es ihn hinaus in die Einsamkeit, konnte er doch hier Gottes Schöpfung in ihrer ganzen Vielfalt bewundern.

Während einer Rast überdachte er noch einmal die Ereignisse der letzten Tage und Wochen. Vieles hatte es gegeben. Erfreuliches, wie die Hochzeit von Christel und Tobias, oder die Rettung des Kranken Hubert Brunnenmayr. Aber auch Unerfreuliches, wie die Geschichte mit Resl Leitner und seinem Bruder Max.

Immerhin konnte Sebastian sich freuen, wenn er an seine Situation dachte, die sich während der Feier auf dem Leitnerhof abgespielt hatte.

Da war die Resl zum Max gegangen und hatte ihn um Verzeihung gebeten. Der Gendarm hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht und die Entschuldigung angenommen. Mehr noch – er hatte wieder mit Theresa Leitner getanzt, und als sie dabei einmal in die Nähe des Tisches kamen, an dem Sebastian saß, da hatte Max seinem Bruder zugeblinzelt, während der ihm verstohlen mit dem Finger drohte.

Sebastian Trenker schmunzelte in Erinnerung an diesen Moment.

Es war schön zu wissen, daß es einen Gott gab, der wieder alles zum Guten gewendet hatte. Er, Sebastian, war nur sein Werkzeug. Dafür, daß er das sein durfte, war er dankbar und glücklich, und dieses Glück wollte er mit den Menschen teilen.

Wie so oft empfand er ein befriedigendes Gefühl, wenn er an seine Gemeinde dachte. Als er sich entschloß, Pfarrer zu werden, da hatte er schon geahnt, daß es kein leichter Beruf sein würde, dennoch hatte er es nicht einen Augenblick bereut. Wenn es darauf ankam, dann mußte er vierundzwanzig Stunden für seine Schäfchen dasein. Ebenso, wie es sich für einen guten Hirten gehörte.

Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman

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