Читать книгу Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 15

Оглавление

Sepp Reisinger, der Wirt vom Hotel ›Zum Löwen‹, in St. Johann, schaute verwundert auf das Schreiben, das der Briefträger eben mit den anderen Postsendungen hereingebracht hatte. Da es sich offenbar nicht um einen der üblichen Reklamebriefe handelte, hatte Sepp den Umschlag gleich aufgerissen und den Brief gelesen. Immer noch erstaunt über dessen Inhalt, ging er an die Küchendurchreiche hinter dem Tresen und rief nach seiner Frau.

»Komm doch mal. Das mußt dir ansehen!«

Irma Reisinger steckte ihren Kopf durch die Durchreihe.

»Was gibt’s denn?« fragte sie ungeduldig. »Ich hab’ alle Hände voll zu tun.«

»Ja, ja«, wiegelte ihr Mann ab. »Aber das hier mußt’ einfach lesen. Maria Devei kommt zu uns.«

»Wer?«

Irma kam durch die Tür, die Küche und Gastraum trennte.

»Maria Devei, die bekannte Sängerin. Hier steht’s schwarz auf weiß. Mei, das wird eine Bombenreklame für unser Hotel.«

Seine Frau hatte ihm den Brief aus der Hand genommen und gelesen. Er kam von der Münchner Agentur der Künstlerin.

»Ich weiß net«, schüttelte sie den Kopf. »Hier steht doch ausdrücklich, daß um Diskretion gebeten wird.«

Irma Reisinger machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Was die bloß bei uns will?«

»Urlaub wird’s machen wollen, die Frau Devei«, erwiderte ihr Mann. »Allmählich zahlt’s sich aus, was ich alles an Geld in die Werbung gesteckt hab’. Die Leut’ kommen endlich d’rauf, wie schön es hier bei uns in den Bergen ist.«

»Du meine Güte«, meinte Irma. »Was koch’ ich denn da bloß? So eine Künstlerin, die überall in der Welt herumkommt, ist doch bestimmt sehr verwöhnt.«

»Ja, mei«, wischte Sepp die Bedenken seiner Frau fort. »Da brauchst’ bei deinen Kochkünsten keine Bedenken zu haben. Du hörst doch immer wieder, daß sogar Sternköche noch etwas bei dir lernen können. Glaubst’, die Gäste sagen so ’was nur zum Spaß? Da wird’s auch eine verwöhnte Künstlerin zufrieden stellen. Und überhaupt, woanders wird auch nur mit Wasser gekocht. Darum brauchst dir wirklich keine Gedanken net machen.«

Irma bedachte ihren Sepp mit einem liebevollen Blick für dieses Kompliment.

»Dann wird’s aber höchste Zeit, das Edelweißzimmer herzurichten«, sagte sie. »Da müssen unbedingt neue Vorhänge an die Fenster. Ich frag’ nachher gleich die Traudel Burger. Bis zur nächsten Woch’ schafft sie es bestimmt, welche zu nähen.«

»Muß das sein?« fragte ihr Mann brummig. »Die alten tun’s doch auch noch.«

Eben hatte Sepp noch das tolle Geschäft gesehen, das er mit dem Besuch der Sängerin, und der damit verbundenen Reklame machen würde. Doch daraus würde ja nun nichts, – im Brief stand ausdrücklich, daß der Aufenthalt geheimgehalten werden müsse – und nun sollte er auch noch Geld investieren, bevor er etwas verdiente!

»Nix da!« bestimmte Irma Reisinger. »Wir wollen uns doch net blamieren.«

Grummelnd stimmte der Lö­wenwirt schließlich zu.

»Es werden aber net die teuresten genommen«, rief er seiner Frau noch hinterher.

Aber da war Irma schon wieder in der Küche.

*

Hubert Ratinger, der Wirt vom Hotel ›Goldene Traube‹ in Engelsbach, hatte andere Sorgen. Nervös bis unter den Hemdkragen lief er am Empfang hin und her. Dabei wischte er sich ständig die dicken Schweißperlen ab, die auf seiner Stirn standen. Er atmete erst erleichtert auf, als er den Wagen des Arztes aus St. Johann auf den Parkplatz fahren sah. Eilig lief er Dr. Wiesinger entgegen.

»Gott sei Dank, daß Sie kommen, Herr Doktor«, sagte er.

Toni Wiesinger nickte grüßend.

»Wie geht’s dem Mann?«

»Er ist auf seinem Zimmer«, erwiderte der Wirt, während sie in das Hotel gingen. »Ich hoff’ bloß, daß es net an unserem Essen liegt. Eine Schadensersatzklage können wir uns net leisten. Das wär’ unser Ruin!«

»Was hat er denn zu sich genommen?«

Hubert Ratinger zählte auf, was der Gast am Vorabend alles bestellt und gegessen hatte. Toni Wiesinger staunte nur. Kein Wunder, daß der Mann heute morgen nicht aus dem Bett kam und

über fürchterliche Magenschmerzen klagte. Sie standen vor dem Zimmer, das der Kranke bewohnte. Der Wirt klopfte an die Tür.

»Herein«, klang es jämmerlich von innen.

Der Arzt betrat das Zimmer. Auf dem Bett lag, mit einem seidenen Morgenmantel bekleidet, ein nicht gerade schlanker Mann.

»Sind Sie der Arzt?« fragte er, nach Luft japsend. »Helfen Sie mir, ich sterbe!«

Toni Wiesinger schüttelte den Kopf.

»So schnell stirbt’s sich net«, sagte er und begann mit der Untersuchung.

Dabei ließ er sich von dem Gast erzählen, was dieser gegessen hatte. Der Mann bestätigte nur, was auch schon Hubert Ratinger berichtet hatte. Der Arzt nickte verstehend, obwohl er über soviel Unverstand beinahe eher den Kopf geschüttelt hätte.

Nach einer Vorspeise, einer Suppe, einem Fisch- und Fleischgang, waren es noch ein Käsegericht und eine Süßspeise gewesen. Dazu hatte der Mann eine Flasche Wein, drei Schnäpse und zwei Tassen Espresso getrunken!

Toni setzte sich an den Tisch und schrieb ein Rezept aus.

»Was fehlt mir denn?« fragte der Mann im Bett.

Der Arzt sah auf.

»Was Ihnen fehlt? Gar nichts«, antwortete er. »Ganz im Gegenteil – Sie haben etwas zuviel. Nämlich Gewicht. Nach solch einem Essen müssen Sie sich net wundern, wenn Sie sich kaum noch rühren können. Sie haben Ihrem Magen einfach zuviel zugemutet. Ich verordne Ihnen eine strenge Diät. Heute sollten Sie nur Mineralwasser oder Kräutertee trinken und überhaupt nichts essen. Außerdem lassen Sie sich dieses Mittel besorgen. Davon nehmen Sie zweimal täglich zwanzig Tropfen. Selbstverständlich sollten Sie mindestens zwei Tage im Bett bleiben. Und jetzt sagen Sie mir bitte Ihren Namen und Ihre Krankenkasse für meine Unterlagen.«

Der Mann winkte ab.

»Brauchen wir nicht«, sagte er. »Ich bin selbständig und bezahle gleich bar. Ach ja, mein Name ist Otto Hövermann.«

»Schön, Herr Hövermann, ich stelle Ihnen dann gleich meine Rechnung aus.«

Der Kranke richtete sich auf.

»Sagen S’ mal, Herr Doktor, das mit der Bettruhe – also, das haben S’ doch net ernst gemeint, oder?«

Toni Wiesinger sah ihn erstaunt an.

»Doch«, sagte er. »Ziemlich ernst. So, wie Sie Ihren Magen malträtiert haben, braucht er unbedingt Ruhe. Außerdem leidet durch Ihr Übergewicht Ihr gesamter Organismus.«

»Ach, das ist aber dumm«, meinte Hövermann. »Gerad’ heut’ steh’ ich vor einem wichtigen Geschäftsabschluß. Wissen Sie, ich will drüben, in St. Johann, eine alte Sägemühle kaufen und zu einer Diskothek umbauen. Das ist heutzutage der absolute Knüller, sag’ ich Ihnen. Die jungen Leut’ haben ja die Romantik wieder entdeckt, und was paßt da besser, als ihnen hier etwas zu bieten. Ich mein’, in dieser idyllischen Umgebung. Die werden von nah und fern kommen!«

Dr. Wiesinger glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Ungläubig sah er Herrn Hövermann an, sagte aber nichts.

Toni war ein Menschenfreund, der keine Vorurteile kannte, aber dieser Mann war ihm von Kopf bis Fuß unsympathisch, und der Arzt wollte nur noch weg aus diesem Zimmer. Er verabschiedete sich schnell, nachdem die Rechnung beglichen war.

*

Die Frau saß am Fenster des Zugabteils und blickte hinaus.

Die vorbeirauschende Landschaft nahm sie aber gar nicht wahr. Felder, Wiesen, Ortschaften – der Hochgeschwindigkeitszug passierte sie in Sekunden.

Maria Devei lehnte sich in das Polster zurück und schaute auf den Mann, der ihr gegenüber saß. Er nickte ihr freundlich zu. Maria erwiderte den Gruß. Sie war so mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen, daß sie gar nicht bemerkt hatte, wie der Fremde beim letzten Halt zustieg.

Richard Anzinger konnte den Blick nicht von ihr wenden, so sehr nahm ihn ihr anmutiges Gesicht gefangen. Dunkle Augen, die in einem seltsamen Glanz strahlten, die wohlgeformte Nase, die geschwungenen Lippen, all das wurde von elegant frisierten Haaren umrahmt, die einen leichten rötlichen Schimmer hatten. Dem eleganten Kostüm sah man an, daß es nicht aus einem Kaufhaus stammte, und der wenige Schmuck, den sie trug, zeugte von einem erlesenen Geschmack. Zu gerne hätte Richard die Frau angesprochen, doch etwas hielt ihn davon ab.

Er überlegte, seit er auf seinem Platz saß, was es war, das ihn daran hinderte. Es mußte dieser unendlich traurige Zug sein, der um ihren Mund lag. So hielt er sich zurück und betrachtete die Mitreisende unauffällig.

Über den Lautsprecher kam die Durchsage, daß der Zug in wenigen Minuten in München halten werde. Die Sängerin stand auf und griff nach ihrem Mantel. Im selben Moment stand Richard Anzinger hinter ihr.

»Darf ich?« fragte er galant und half ihr in den Mantel.

Maria bedankte sich mit einem Kopfnicken.

Richard Anzinger war ihr auch beim Gepäck behilflich. Er trug den Koffer, der im Gepäcknetz über dem Platz der Sängerin gelegen hatte, bis zum Ausgang. Dort stellte er ihn auf den Boden.

»Das ist wirklich sehr freundlich«, sagte Maria Devei, und es schien, als wische ein leises Lächeln die Traurigkeit aus ihrem Gesicht fort.

Richard Anzinger eilte zurück ins Abteil, um sein eigenes Gepäck zu holen. Dabei hoffte er, die Frau, die ihn so faszinierte, noch anzutreffen, wenn er gleich aus dem Zug stieg.

Enttäuschung machte sich auf seinem Gesicht breit, als er auf dem Bahnsteig stand, weit und breit war nichts von ihr zu sehen. Seine Augen suchten umher, glitten über das Treiben, das auf dem Bahnhof herrschte, die Züge, die Menschen und die bunten Plakate mit den Reklamen darauf.

Dort! Drüben auf dem Nachbargleis, war sie es nicht?

Richard stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Er erhaschte einen winzigen Blick auf den Mantel aus dunkelblauem Stoff, das schimmernde Rot ihrer Haare.

Ja, kein Zweifel, dort drüben stieg die Frau in einen anderen Zug ein.

Richard Anzinger ließ sein Gepäck stehen und hastete die Treppe hoch. Auf der anderen Seite mußte er wieder hinunter. Menschen standen und gingen vor ihm, Richard spürte die Ungeduld und die Angst, der Zug könne abfahren bevor er…

Auf halber Höhe der Treppe hörte er das Signal des Zugführers, gleichzeitig schlossen die Türen, und der Zug rollte langsam an.

Richard sprang die letzten Stufen hinunter, als der Zug an Geschwindigkeit gewann und aus dem Bahnhof fuhr. Enttäuscht und erschöpft blieb er stehen. Die Anzeige über ihm, auf der eben noch gestanden hatte, wohin der Zug fährt, war nun leer.

Langsam ging Richard Anzinger zurück auf den Bahnsteig, auf dem er ausgestiegen war. Einsam und verloren stand sein eigenes Gepäck noch dort. Auch der ICE war inzwischen wieder abgefahren.

Schade, dachte er, es hat nicht sollen sein. Natürlich hätte er sich erkundigen können, wohin der Regionalexpress, in den die unbekannte Frau gestiegen war, fuhr. Doch viel weiter hätte es ihn auch nicht gebracht. Wer konnte sagen, an welchem der vielen kleinen Bahnhöfe, die der Zug passierte, die Frau ausstieg?

Er nahm die Reisetasche und den Koffer auf und ging hinüber zum Ausgang. Draußen stieg er in ein Taxi und ließ sich nach Hause fahren.

Der Münchner Kaufmann, Chef einer alteingesessenen Im- und Exportfirma, war völlig durcheinander.

War das Liebe auf den ersten Blick?

Richard Anzinger hatte sie bisher noch nicht erlebt. Gewiß, ein Mann in seiner Position litt keinen Mangel an Verehrerinnen. Doch all diese Frauen verblaßten vor dem Bild dieser einen!

*

»Irma, ich glaub’ sie kommt«, rief Sepp Reisinger seiner Frau zu.

Eben hatte ein Taxi vor dem Hotel gehalten. Der Wirt sah durch das Fenster, eine Frau aussteigen. Eiligst trommelte er die Haustöchter und die Kellner zusammen.

Draußen öffnete der Fahrer die Heckklappe und nahm einen Koffer heraus. Irma und Sepp Reisinger gingen hinaus, um den prominenten Gast zu begrüßen.

»Herzlich willkommen«, sagte der Löwenwirt, und nahm dem Taxifahrer den Koffer ab.

Das Personal stand im Foyer des Hotels Spalier, der Hausdiener übernahm den Koffer und folgte dem Gast und Sepp Reisinger, der es sich nicht nehmen ließ, die Sängerin persönlich auf das Zimmer zu führen.

»Wir hoffen, Sie fühlen sich wohl in unserem Haus.«

Maria Devei nickte ihm lächelnd zu.

»Es ist sehr schön«, sagte sie, nachdem sie sich im Edelweißzimmer umgesehen hatte.

Sepp Reisinger erkärte ihr die Telefonanlage.

»Möchten Sie etwas essen?« fragte er. »Wir servieren Ihnen auch gerne Essen und Getränke auf dem Zimmer.«

Maria Devei zögerte. Nein, richtigen Appetit hatte sie nicht. Schon seit Wochen nicht mehr. Allerdings wußte sie auch, daß sie ihrem Körper schon etwas zuführen mußte. Ganz ohne Essen ging es nun mal nicht.

»Eine Brühe vielleicht, und ein Mineralwasser«, sagte sie schließlich.

Sepp nahm die Bestellung dankend entgegen, und ging hinunter in die Küche. Dabei grübelte er. Irgendwie kam die Frau ihm bekannt vor. Nicht als Sängerin aus der Presse oder dem Fernsehen – nein, er wurde das Gefühl nicht los, Maria Devei von irgendwo anders her zu kennen. Sie erinnerte ihn an eine ganz bestimmte Frau, aber er wußte nicht, wohin er sie stecken sollte. So sehr er sich auch bemühte, es wollte ihm nicht einfallen.

Irma Reisinger machte ein enttäuschtes Gesicht. Im Herd schmorte Rehkeule, Forellen warteten darauf, in würzigem Fischfond gekocht zu werden, frisches Gemüse war vorbereitet worden.

Und ihr Gast bestellte eine Brühe!

»Wart’s ab!« meinte Sepp. »Sie ist ja g’rad erst angekommen. Wirst’ schon sehen. In ein paar Tagen wird die Frau Devei deine Kochkünste schon zu schätzen wissen.«

Die Worte ihres Mannes stimmten die Wirtin wieder versöhnlich, und sie füllte schnell Fleischklöße und Eierstich in eine Suppentasse. Dann die kochend heiße Brühe darauf, frische Kräuter rundeten alles ab.

»Sag«, wandte Sepp sich an seine Frau, nachdem eine der Haus­töchter die Bestellung aus der Küche geholt hatte.

»Kommt die Frau Devei dir net auch bekannt vor? Ich mein’, ich kenn’ sie von früher, weiß aber net, woher genau.«

»Ach geh«, schüttelte Irma den Kopf. »Das bild’st dir ein. Woher solltest du solch eine berühmte Frau kennen?«

Der Löwenwirt ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um.

»Vielleicht hast’ recht«, meinte er achselzuckend.

*

Richard Anzinger lief unruhig in seinem Büro auf und ab. Es lag im obersten Stockwerk eines Hauses, mit Blick auf die Maximilienstraße. Von hier oben hatte man einen herrlichen Rundblick.

Der Kaufmann schaute zwar aus einem der großen Fenster seines Büros, etwas wirklich sehen, konnte er allerdings nicht. Dazu war er in Gedanken mit ganz anderen Dingen beschäftigt.

Seit er gestern von seiner Geschäftsreisen zurückgekehrt war, schien er merkwürdig verändert, wie Ilse Brandner, seine langjährige Sekretärin, feststellte. Sie hatte ja auch keine Ahnung, was in ihrem Chef vorging.

Der Kaufmann setzte sich endlich wieder an seinen Schreibtisch und sah die Geschäftsbriefe durch, die seit einer Woche liegen geblieben waren. Doch immer wieder wurden seine Gedanken abgelenkt. Das Bild jener unbekannten Frau, die er im Zug gesehen hatte, stand deutlicher in seinem Gedächtnis, als er es bei einer flüchtigen Begegnung für möglich gehalten hätte.

Nervös legte er die Mappe mit den Briefen wieder aus der Hand. Er überlegte, ob es nicht besser sei, für ein paar Tage Urlaub zu machen. In der Firma würde alles von alleine laufen, er war also durchaus entbehrlich. Da meldete sich Frau Brandner über die Sprechanlage.

»Herr Anzinger, Sie haben Besuch. Herr Winkler ist eben gekommen.«

Über die Miene des Kaufmannes ging ein strahlendes Lächeln.

»Wolfgang?« rief er erfreut. »Herein mit ihm!«

Im selben Moment öffnete sich die Bürotür, und Wolfgang Winkler trat ein.

»Mensch, Wewe, bist du auch mal wieder im Lande!« begrüßte Richard den alten Freund, und benutzte dabei dessen Spitzname.

Die beiden Männer umarmten sich, und Richard Anzinger bestellte Kaffee und Cognac bei seiner Sekretärin. Er und Wolfgang kannten sich schon seit ihrer Schulzeit. Später hatten sich zwar ihre Wege getrennt, doch waren sie immer gute Freunde geblieben. Während Richard Anzinger das Geschäft von seinem Vater übernahm, war Wolfgang Winkler ausgezogen, die weite Welt zu erobern. Er hatte eine steile Karriere als Fotograf gemacht. Seine Bilder erschienen in den bekanntesten Magazinen im In- und Ausland. Immer wenn er in München war, ließ er es sich nicht nehmen, den Freund zu besuchen.

»Sag’, wie geht’s dir, mein Alter?« fragte Richard, als sie beim Kaffee saßen. »Was treibt dich nach München? Das letzte, was ich von dir hörte, war ein Kartengruß aus Rio.«

Wolfgang lehnte sich behaglich in seinen Sessel zurück und genoß die angebotene Zigarre.

»Ich hab’ morgen einen Termin in Nürnberg. Ein großes Frauenjournal möchte Bilder von der neuesten Trachtenmode«, antwortete er. »Naja, gestern hatte ich noch in London zu tun, und ich hab’ heut schon den Flieger genommen, um dich vorher noch zu sehen. Wie sieht’s heut’ abend aus? Kannst du dich freimachen?«

»Für dich doch immer!«

Wolfgang rieb sich das Kinn.

»Ich hatte mir da auch schon etwas ausgedacht«, sagte er. »Weißt du, vor einigen Wochen hab’ ich in New York ein Konzert einer phantastischen Sängerin gehört. Gestern lese ich zufällig in einem deutschen Magazin, daß Maria Devei, so heißt die Sängerin, heute abend hier in München auftreten soll.«

Er machte ein bedauerndes Gesicht.

»Tja, und heut’ morgen, auf dem Flughafen, hör ich, daß das Konzert abgesagt werden mußte. Die Sängerin ist erkrankt. Wirklich schade. Die Frau hat eine Stimme, sag ich dir.«

»Ja, schade«, pflichtete Richard Anzinger ihm bei. »Aber ich denk’, wir werden den Abend auch so rumkriegen. Ich laß gleich einen Tisch im ›Münchener Hof‹ reservieren. Du wohnst doch sicher wieder dort?«

»Schon geschehen«, winkte Wolfgang ab.

Der Fotograf rieb sich wieder über das Kinn.

Sag’ mal, Richard, ist mit dir alles in Ordnung?« fragte er forschend.

Richard Anzinger sah ihn verblüfft an. Konnte man es ihm jetzt schon ansehen, wie es um ihn stand, oder hatte Frau Brandner etwa…?

»Gib’s zu, meine Sekretärin hat dir was gesteckt«, antwortete er.

Wolfgang lachte.

»Stimmt. Die gute Seele macht sich Sorgen um dich«, gab er

zu. »Seit du gestern von einer

Geschäftsreise zurückgekommen bist, sollst du dich sehr verändert haben. War die Reise denn solch ein Mißerfolg?«

»Nein, nein. Ganz im Gegenteil. Aber, ich muß dir ein Geständnis machen, Wewe. Mich hat’s erwischt!«

So, nun war’s heraus.

Wolfgang machte große Augen.

»Was?« rief er erstaunt. »Auf deine alten Tage hast du dich verliebt?«

»Na hör mal! Ich bin im Januar erst zweiunddreißig geworden«, gab Richard Anzinger in gespielter Empörung zurück.

»Wer ist es denn? Mensch, spann mich doch net so auf die Folter!«

Der Kaufmann seufzte.

»Wenn ich das nur wüßt…!«

Sein Freund sah ihn verständnislos an.

»Was soll das heißen? Das mußt du mir näher erklären.«

Richard Anzinger nickte.

»Ich bin ja schon dabei.«

Er erzählte, wie er die unbekannte Schöne im ICE gesehen und sich in sie verliebt hatte, so daß er seitdem nur noch an sie denken konnte.

»Das muß ja eine Traumfrau sein«, meinte der Freund.

»Wenn du gleich so hin und weg bist! Beschreib sie doch mal.«

Richard tat ihm den Gefallen. Wolfgang hörte ihm zu – und wurde immer nachdenklicher.

»Ich kann mir nicht helfen«, sagte er dann. »Irgendwie kommt mir diese Frau bekannt vor. Was du da gesagt hast, von den Haaren und der eleganten Erscheinung…, laß mich mal nachdenken… Ja, ich glaub’, ich hab’s. Hast du das ›JOURNAL‹ von der letzten Woche noch hier?«

Richard Anzinger sah ihn nicht verstehend an.

»Ja, ich glaub’ schon. Ich hab’s net gelesen, weil ich ja unterwegs war. Aber, warum fragst?«

»Weil ich dir etwas zeigen will, was uns – oder besser gesagt dir – weiterhilft.«

Sie fanden das Magazin in einem Stapel anderer Zeitungen und Illustrierter. Wolfgang schlug es auf und blätterte es durch.

»Wußt’ ich’s doch«, sagte er triumphierend und zeigte auf einen Artikel über die Sängerin Maria Devei.

Neben der Reportage waren mehrere Bilder abgedruckt.

»Das ist sie. Mein Gott, ja, das ist die Frau!«

Richard Anzinger war vollkommen aus dem Häuschen. Immer wieder blickte er auf die Fotos. Dann ließ er sich in seinen Sessel sinken.

»Du sagtest, das Konzert mußte abgesagt werden, weil sie erkrankt ist«, stellte er fest. »Hoffentlich ist es nichts Schlimmes. Eigentlich sah sie so krank gar nicht aus.«

Der traurige Zug um ihren Mund, der ihn so nachdenklich gemacht hatte, fiel ihm wieder ein. Er sprang auf und lief, wie ein eingesperrter Tiger in seinem Käfig, hin und her.

»Ich muß zu ihr!« sagte er immer wieder.

»Nun setz’ dich erst mal wieder.«

Wolfgang drückte den Freund sanft in den Sessel.

»Weißt du denn überhaupt, wo du nach ihr suchen sollst? Nein! Also, beruhig’ dich erst einmal.«

Richard hob hilflos die Hände.

»Du hast recht«, sagte er entmutigt. »Ich hab’ ja überhaupt keine Ahnung, wo sie sein könnte.«

»Das überlaß mal mir«, beruhigte Wolfgang ihn. »Laß uns erst einmal feststellen, was wir wissen. Also, sie ist Maria Devei, und du hast sie im Zug gesehen. Ihr seid zusammen hier in München ausgestiegen, und sie ist mit einem anderen Zug weitergefahren. So weit, so gut. Was wir net wissen, ist, wohin sie wollte, aber das bekomm’ ich schon noch raus!«

Er hatte es plötzlich sehr eilig, sich zu verabschieden. Richard sah ihn entgeistert an.

»Aber, wie willst du denn…?«

»Ich muß ein paar Leute anrufen«, erklärte der Freund. »Ein paar Verbindungen spielen lassen. Wir sehen uns heut’ abend im Hotel. Zwanzig Uhr. Dann wissen wir mehr.«

Er ließ einen ratlosen Richard Anzinger zurück.

Der Kaufmann setzte sich und nahm das Magazin in die Hand. Lange blickte er auf die Bilder der Sängerin, dann nahm er eine Schere von seinem Schreibtisch und schnitt das schönste von ihnen aus. Ein Porträtfoto. Er steckte es in die Brusttasche seines Anzugs. Ganz nahe an seinem Herzen.

*

Sebastian Trenker stand im Pfarrgarten und sah überhaupt nicht wie ein Geistlicher aus. Er trug eine derbe, alte Hose, eine blaue Schlosserjacke und Gummistiefel. So ausgerüstet war er, zusammen mit Alois Kammeier, dem Mesner von St. Johann, damit beschäftigt, das Gartenstück zwischen Kirche und Friedhof in Ordnung zu bringen.

Es hatte bis vor zwei Tagen heftig geregnet, und nun wurde es höchste Zeit, das wuchernde Unkraut zu jäten, und von der Ernte zu retten, was noch nicht durch die Nässe verfault war. Drinnen, im Pfarrhaus, hatte Sophie Tappert den großen Wecktopf auf den Herd gestellt und bereits die dritte Partie Birnen fertig eingeweckt. Auf dem Küchentisch stand eine Batterie Gläser, in denen sich das ›leckerste Apfelmus der Welt‹ befand, wie Max Trenker behauptete. Der Bruder des Pfarrers kannte keine Zurückhaltung, wenn die Haushälterin das Apfelmus zu ihren berühmten Kartoffelpuffern servierte…

Nebenbei hatte Sophie noch einen Napfkuchen gebacken, der auf einem Rost abkühlte. Den sollte es zum Nachmittagskaffee geben.

Pfarrer Trenker brachte einen weiteren Korb Birnen herein.

»So, Frau Tappert, das sind die letzten«, sagte er. »Das war ja heuer eine prächtige Ernte.«

Die Haushälterin nahm den Korb und begutachtete das Obst.

»Ich denk’, die werd’ ich net mehr einwecken«, meinte sie. »Die sind so schön, da ist’s besser, wenn wir sie so essen.«

»Ist’s recht, Frau Tappert«, nickte Sebastian. »Der Herr Kammeier und ich sind gleich fertig, da draußen. In einer halben Stund’ könnten wir zum Kaffee kommen.«

Sebastian ging wieder hinaus. Es waren nur noch die Gartengeräte wegzuräumen, und die Wege zu harken, dann waren sie mit ihrer Arbeit fertig.

Der Geistliche war gerade damit beschäftigt, eine letzte Karre Gartenabfälle auf den Kompost zu bringen, als er auf eine Frau aufmerksam wurde, die über den angrenzenden Friedhof ging. Sie war elegant gekleidet. Sebastian hatte sie noch nie hier gesehen und wurde neugierig. Er klopfte sich den Schmutz von der Hose und öffnete die kleine Pforte, durch die er auf den Gottesacker gelangte. Die Frau war schon ein gutes Stück zum hinteren Teil des Friedhofs gegangen. Jetzt stand sie vor einem Grab und hatte die Hände gefaltet. Der Beschreibung nach, die Sepp Reisinger von Maria Devei gegeben hatte, konnte es sich nur um die berühmte Sängerin handeln.

Welches Grab mochte sie wohl ausgerechnet hier auf dem Friedhof besuchen?

Pfarrer Trenker wartete ab, bis die Frau ihr stilles Gebet beendet hatte. Dann näherte er sich ihr, wobei er sich vernehmlich räusperte. Die Frau drehte sich um. Als sie ihn erkannte, lächelte sie.

»Grüß’ Gott, Hochwürden«, sagte sie. »Schön, daß ich Sie hier treffe. Ich wollte Sie sowieso besuchen.«

Sebastian war erstaunt, daß die Frau ihn als den Pfarrer erkannt hatte, obwohl er im Moment wahrlich nicht so aussah.

»Entschuldigen Sie, Frau… Devei? Sie sind doch die Sängerin Maria Devei?«

Die Frau nickte.

Der Geistliche sah sie forschend an. Er kannte sie, aber unter anderem Namen. Sein Blick fiel auf den Grabstein – Ruhestätte Familie Großmayr – stand darauf. Im selben Moment wußte er es.

»Maria Großmayr. Du…, Sie sind Maria Großmayr«, sagte er zu seinem einstigen Pfarrkind.

Er reichte ihr die Hand.

»Aber wieso heißen Sie Devei?«

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Natürlich, Sie haben geheiratet und tragen den Namen Ihres Mannes. Entschuldigen S’, ich bin völlig überrascht, Sie hier zu sehen.«

»Nein«, erwiderte Maria. »Ich bin net verheiratet. Devei ist mein Künstlername.«

»Du meine Güte, wie lange ist’s denn her, daß Sie von uns fortgegangen sind, Frau Devei?«

Die Frau schaute nachdenklich zur Kirche hinüber, und als würde sie in Gedanken die Zeit zurückdrehen, lächelte sie.

»Mehr als zehn Jahre werden es schon sein.«

Sie sah ihn wieder an.

»Bitt’ schön, Hochwürden, sagen S’ doch einfach Maria zu mir, so wie Sie es früher getan haben.«

»Gerne, Maria. Sie wollten mich besuchen?«

Auf ihrem Gesicht lag ein düsterer Schatten, als sie antwortete.

»Ja. Es gibt da etwas, das ich Ihnen sagen wollte…, verstehen Sie, ich brauche einen Menschen zum Reden…«

Sebastian nahm ihren Arm.

»Kommen Sie. Wir gehen ins Pfarrhaus hinüber. Frau Tappert wird uns einen Kaffee oder Tee kochen.«

Er sah an sich hinunter.

»Es wird nur einen Moment dauern«, meinte er schmunzelnd. »Ich muß mich erst einmal umziehen.«

*

»Zehn Jahre! Himmel, wie die Zeit vergeht«, sinnierte Pfarrer Trenker. »Aber ich erinnere mich gut. Sie waren erst achtzehn geworden, als Sie fortgegangen sind. Ich hab’ mich in diesen Jahren oft gefragt, was aus Ihnen geworden ist.«

Sie saßen im Arbeitszimmer des Geistlichen. Sophie Tappert hatte Kaffee und Kuchen hereingebracht. Zuvor hatten sich die beiden Frauen herzlich begrüßt.

»Ja. Damals hielt mich einfach nichts mehr in dieser, wie ich meinte, kleinen und altmodischen Welt«, sagte Maria. »Ich wollte hinaus in die große, weite Welt. Wollte fremde Länder sehen, wunderbare Reisen machen.«

»Nun, das ist Ihnen ja auch gelungen. Ich hatte wirklich keine Ahnung, daß Sie Maria Großmayr, identisch sind mit der bekannten Sängerin Maria Devei. Natürlich hab’ ich Bilder von Ihnen gesehen, Auftritte im Fernsehen. Aber Sie haben sich ja auch verändert in all den Jahren.

So sind Sie also das geworden, was man einen großen Star nennt.«

Ein wehmütiges Lächeln glitt über das aparte Gesicht der Frau.

»Ja, aber zu welchem Preis«, sagte sie leise, mit tiefer Resignation in der Stimme.

Sebastian Trenker horchte auf.

»So, wie Sie es sagen, könnt’ man meinen, es ist ein sehr hoher Preis.«

Maria Devei schaute ihn an. In ihrem Gesicht zuckte es.

»Ja, Hochwürden. Der Preis ist – mein Leben.«

Der Geistliche sah sie fassungslos an.

»Was sagen Sie da, Maria?«

Die Sängerin richtete sich auf und wischte eine Träne aus dem Gesicht. Es schien, als wolle sie Stärke beweisen.

»Ich bin nach Sankt Johan zu­rückgekehrt, um hier zu sterben«, sagte sie leise.

Einen Moment herrschte Stille im Zimmer, die nur durch das Ticken der alten Wanduhr gestört wurde. Sebastian Trenker schluckte.

»Was ist geschehen?« fragte er sanft.

Maria Devei erzählte es. In nüchternen, sachlichen Worten schilderte sie immer wiederkehrende Erschöpfungszustände, die Zusammenbrüche nach ihren Auftritten, einmal sogar unmittelbar vor einem Konzert. Schließlich sprach sie von der Untersuchung durch Professor Bernhard, einer Kapazität auf dem Gebiet der inneren Medizin, und dem vernichtenden Urteil.

»Ich habe nur noch ein paar Wochen zu leben«, schloß die Sängerin.

Pfarrer Trenker war erschüttert.

»Und es gibt wirklich keine Rettung?« forschte er nach.

Maria Devai schüttelte stumm den Kopf.

»Professor Bernhard hat es mir nicht gesagt«, antwortete sie nach einer Weile. »Aber ich bin dem Schicksal dankbar, daß es mich zufällig mit anhören ließ, als der Arzt mit seinem Assistenten dar­über sprach.«

»Ja – aber was hat er Ihnen denn gesagt? Er muß doch irgend etwas…«

»Nichts«, erwiderte die Frau. »Es war bei der zweiten Untersuchung. Ich war gerade in der Umkleidekabine, als ich die beiden sprechen hörte. Ich war so durcheinander, daß ich nur noch fortlaufen wollte. Ich habe dann sämtliche Termine absagen lassen und bin hierher gefahren, weil ich mich an etwas erinnerte…«

»Woran haben Sie sich erinnert, Maria?«

Die Sängerin lächelte still.

»An ein Gedicht, über das wir bei Ihnen im Kommunionsunterricht gesprochen haben. Vielleicht erinnern Sie sich auch daran. Die erste Zeile lautet: Wohin das Schicksal dich auch trägt…«

»… so kehrst du doch zurück, nur hier in deiner Heimat liegt das wahre Glück.«

Natürlich erinnerte Sebastian Trenker sich daran. Er hatte es nicht nur mit Generationen von Kommunionskindern eingeübt und darüber gesprochen, welche Bedeutung das Wort ›Heimat‹ heute noch hat, die Verse stammten von ihm selbst.

»Sie sprachen mit uns über den Begriff Heimat, und darüber, welche Bedeutung die Heimat für einen Menschen hat. Damals waren es nicht wenige, die darüber gelacht und gespottet haben. Ich selber gehörte auch dazu. Heimat – was für ein großes Wort für Enge und Kleingeistigkeit, die um uns herum zu bestehen schienen. Heute weiß ich, wie wahr Ihre Worte von damals auch heute noch sind. Ich ging fort und machte Karriere. An das kleine Dorf in den Bergen dachte ich selten. Eigentlich nur dann, wenn meine Buchhaltung die Rechnungen für die Pflege des Grabes meiner Eltern überweisen mußte.« Maria Devei hielt kurz inne, wie von Erinnerungen angeweht.

»Gewiß, es quälte mich schon, daß ich net hier war, um es selber zu pflegen. Aber da waren Termine und Verträge, die es galt, einzuhalten, und irgendwie beruhigte ich mein schlechtes Gewissen dadurch, daß ich ja dafür bezahlte, damit sich jemand um das Grab kümmert. Inzwischen weiß ich, daß man mit Geld net alles kaufen kann. Gesundheit schon gar net.«

Pfarrer Trenker hatte wortlos zugehört. Das Geständnis seines einstigen Pfarrkindes erschütterte ihn.

»Maria, was immer ich für Sie tun kann, soll geschehen«, sagte er. »Aber, ich bitt’ Sie von Herzen, geben S’ sich net auf. Für alle Probleme gibt’s eine Lösung.«

Maria Devei seufzte.

»Net für mein’s, Hochwürden, dafür net.«

*

So ganz hatte es sich doch nicht vermeiden lassen, daß die Ankunft der Sängerin in St. Johann bekannt wurde. Sepp Reisinger hatte zwar gehörig mit seinem Personal geschimpft, nachdem er mehrfach auf Maria Devei angesprochen wurde, aber insgeheim war es ihm schon recht, daß man darüber sprach. So kam er doch noch zu seiner Reklame.

Auch beim abendlichen Stammtisch kam die Sprache auf den prominenten Gast. Man spekulierte über die Gründe der Sängerin, ausgerechnet in St. Johann Urlaub zu machen. Sebastian enthielt sich dabei jeglichen Kommentars. Er wußte es ja besser als jeder andere.

Das Gespräch nahm erst einen anderen Verlauf, als Max Trenker eintraf. Der Gendarm war noch dienstlich unterwegs gewesen.

»Sagt mal, weiß einer von euch, wo der alte Valentin steckt?« fragte der Beamte die anderen.

Außer dem Pfarrer, saßen noch der Bäckermeister, Josef Terzinger, und Bürgermeister Bruckner am Tisch. Sie verneinten.

»Warum fragst?« wollte Sebastian von seinem Bruder wissen.

Maximilian Trenker machte eine ratlose Geste.

»Ich weiß net, was da los ist«, sagte er schließlich. »Vor vier Tagen war ich schon mal d’roben, bei der alten Mühle. Der Valentin hatte mich angerufen und gebeten, daß ich einmal vorbeikomm’. Er hätt’ da ein paar Fragen. Na, gestern bin ich noch mal dagewesen, und heut’ am Nachmittag. Es ist alles verschlossen und verrammelt, und von Valentin keine Spur.«

»Das ist wirklich sehr merkwürdig«, meinte Sebastian.

»Find’ ich net«, mischte sich Markus Bruckner in das Gespräch.

Alle Augen richteten sich auf ihn.

»Ja, wenn ich es recht verstanden hab’, dann ist der Valentin Hoftaler ein reicher Mann«, fuhr der Bügermeister fort.

Damit machte er ein verschmitztes Gesicht.

»Komm schon, Bürgermeister, das mußt’ uns schon näher erklären«, forderte der Pfarrer ihn auf.

»Tja, also, ihr wißt das Neueste ja noch net«, begann der Bruckner-Markus geheimnisvoll. »Die alte Mühle ist verkauft, und Valentin befindet sich bereits auf einer Reise, rund um die Welt.«

Am Stammtisch herrschte atemlose Stille, wie gebannt hingen die Männer an Markus’ Lippen. Selbst Sepp Reisinger kam vom Tresen herüber und lauschte.

Wie der Bürgermeister zu berichten wußte, hatte der Alte die Sägemühle an einen Mann aus München verkauft. Valentin selbst hatte keine Kinder, nur einen Neffen, Sohn seiner verstorbenen Schwester, zu dem ein loser Kontakt bestand. Er wolle mit dem Geld endlich einmal das machen, was er sich seit seiner Kindheit wünschte – die weite Welt kennenlernen.

»Und woher weißt du das alles?« forschte Sebastian Trenker nach.

»Von dem Mann, der ihm die Mühle abgekauft hat. Der war nämlich auf der Gemeinde und hat einen Bauantrag gestellt. Er will aus der alte Sägemühle eine Diskothek machen.«

»Was?«

»Das kann doch net wahr sein!«

»Völlig unmöglich. Ausgerechnet bei uns.«

So, und so ähnlich klangen die Kommentare. Pfarrer Trenker schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wer ist denn dieser Herr aus München?« wollte er wissen.

Markus Bruckner wand sich ein wenig.

»Ich weiß net, ob ich das so ohne weiteres sagen darf«, antwortete er ausweichend. »Ich mein’, wegen dem Datenschutz.«

»Unsinn«, fuhr der Geistliche ihn an. »Du weißt doch genau, daß ich gleich morgen früh den Namen auf der Gemeinde erfahren kann. Also?«

»Tja, also, der Mann heißt Otto Hövermann«, gab der Bürgermeister sich geschlagen. »Den Namen habt’s aber net von mir. Warum wollen S’ den denn überhaupt wissen?«

»Damit ich rechtzeitig ’was gegen die dummen Pläne des Herrn Hövermann unternehmen kann«, lautete die entschiedene Antwort des Geistlichen.

*

Pfarrer Trenker war schon bei Sonnenaufgang unterwegs in seinen geliebten Bergen. In den vergangenen Wochen hatte er darauf verzichten müssen. Zum einen, weil es das Wetter nicht zuließ, zum anderen aus wirklichem Zeitmangel.

Worüber allerdings nur seine Haushälterin glücklich war. Sophie Tappert sah es gar nicht gerne, daß Hochwürden in den Bergen ›herumkraxelte‹, wie sie es nannte. Die gute Frau hatte furcht­bare Angst, Sebastian könne bei seinen luftigen Ausflügen abstürzen und sich ein Bein brechen, wenn nicht gar Schlimmeres.

Der Geistliche konnte darüber nur schmunzeln. Er war schließlich ein geübter und sicherer Kletterer – Freunde hatten ihm den Spitznamen ›Bergpfarrer‹ gegeben –, der niemals ein Risiko einging. Es gehörte einfach zu seinem Leben. Wenn andere sich mit Dingen beschäftigten, die ihnen Spaß und Freude machten, so war es für Sebastian das Schönste, von irgendeinem Punkt aus die majestätische Schönheit der Bergwelt zu schauen. Hoch oben auf dem Gipfel, dort fand er Ruhe und Zufriedenheit, und nicht selten die Lösung eines Problems.

Das Problem, das Pfarrer Trenker heute allerdings mit sich trug, war vielleicht eines der schwersten, das er je hatte.

Natürlich waren seine Gedanken bei Maria Devei. Seit ihrem gestrigen Besuch dachte Sebastian darüber nach, wie er der jungen Frau helfen konnte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie sie früher gewesen war. Auch an die Eltern dachte er.

Franz Großmayr und seine Familie lebten in einer Hütte auf der Spitzer-Alm. Franz arbeitete hier und da als Knecht, und brachte Frau und Tochter mehr schlecht als recht über die Runden. Elisabeth, Marias Mutter, war oft kränkelnd. Sie flocht Körbe, die sie an Touristen verkaufte. Maria war das einzige Kind der beiden.

Die Hütte – sie müßte eigentlich noch stehen. Oder zumindest das, was der Zahn der Zeit von ihr übrig gelassen hatte. Sebastian nahm sich vor, bei einem seiner nächsten Ausflüge, auf die Alm, dort einmal nachzuschauen.

Doch welche Möglichkeiten gab es, Maria bei ihrem akuten Problem zu helfen? Pfarrer Trenker mochte es nicht einfach hinnehmen, daß die junge, blühende Frau sterben sollte. Ihr Leben begann doch erst!

Sie war auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, eines Tages sollten Mann und Kinder hinzukommen. Das konnte doch nicht einfach so durch die Diagnose eines Arztes fortgewischt werden. Mochte er auch noch so eine Kapazität auf seinem Gebiet sein!

Ob Dr. Wiesinger Rat wußte?

Sebastian schätzte den jungen Arzt, der erst vor kurzer Zeit die Praxis in St. Johann übernommen hatte, sehr. Viele der Dorfbewohner argwöhnten zwar, Toni Wiesinger könne gar kein richtiger Arzt sein, dazu sei er noch viel zu jung. Sebastian hatte sich allerdings mehr als einmal vom Können des Mediziners überzeugt. Zumal Dr. Wiesinger nicht bedingungslos der Schulmedizin gehorchte. Er sah immer den ganzen Menschen, nicht nur die Krankheit, und setzte dort an. Ganzheitliche Medizin war für den Arzt nicht nur eine Modeerscheinung. Er praktizierte sie. Wo immer es möglich war, setzte er auf rein pflanzliche Heilmittel und zog sie den chemischen vor. Vor allem gehörte bei ihm Leib und Seele noch zusammen und er beachtete beides in seinen Diagnosen.

Dennoch hatte er keinen leichten Stand bei den Dörflern. Es gab in St. Johann einen selbsternannten Wunderheiler, den Brandhuber-Loisl, der mit seinen selbstgebrauten Tinkturen und Salben den Leuten das Geld aus der Tasche zog. Immer wieder schimpfte Pfarrer Trenker von der Kanzlei herunter, über die Narren, die sich beim Brandhuber Rat holten, anstatt zu Dr. Wiesinger zu gehen. Aber es schien vergebene Liebesmüh’.

Sebastian nahm sich vor, den jungen Arzt zumindest auf den Fall anzusprechen. Vielleicht sogar schon am Abend. Er hatte ihn schon ein paar Tage nicht mehr gesehen und sich für heut’ abend vorgenommen, Toni Wiesinger auf ein Glaserl Wein ins Pfarrhaus einzuladen.

Für den Nachmittag hatte der Pfarrer schon etwas anderes vor – der wöchentliche Besuch des Altenheimes in Waldeck stand auf dem Programm.

Der Geistliche packte die Reste des Frühstücks zusammen und verstaute sie in seinem Rucksack. Irgendwie mochte es heut’ nicht so recht schmecken, was seine Haushälterin ihm da mitgegeben hatte. Nicht nur Marias Schicksal schlug ihm auf den Magen. Da war ja auch noch die leidige Geschichte mit Valentin Hofthaler und dem Verkauf seiner Sägemühle an diesen ominösen Herrn Hövermann aus München.

Was mochte da noch alles auf St. Johann und seinen Pfarrer zukommen?

*

Mit klopfendem Herzen hielt Richard Anzinger auf dem Parkplatz des Hotels ›Zum Löwen‹ und stieg aus. Er warf einen Blick in die Runde, und was er sah, gefiel ihm. Ein hübsches, kleines Dorf, fernab der Großstadt mit all ihrem Lärm und Hektik. Ruhe und Beschaulichkeit strahlte der Ort aus. Der Kaufmann ging erwartungsvoll durch die Eingangs­tür.

Auf der Fahrt hierher hatte er sich hundertmal gefragt, wie es sein würde, wenn er ihr gegen­über stand. Würde er es wirklich wagen, sich ihr zu offenbaren?

Richard war Wolfgang unendlich dankbar. Der Freund hatte seine Verbindungen spielen lassen und innerhalb kürzester Zeit den Aufenthaltsort der Sängerin in Erfahrung gebracht. Einem anderen wäre dies wahrscheinlich nie gelungen. Wolfgang Winkler jedoch, der auch in der Musikbranche einen Namen als ›Starfotograf‹, im wahrsten Sinne des Wortes, hatte, kannte genug Leute, die ihm einen Gefallen schuldeten. Und so konnte er einem bis über beide Ohren verliebten Richard Anzinger beim Abendessen im ›Münchener Hof‹, den Ort nennen, wohin die Sängerin sich geflüchtet hatte.

Das junge Madel am Emfang begrüßte ihn freundlich und bestätigte die Zimmerreservierung. Seine Sekretärin Ilse Brandner hatte es gleich am Morgen telefonisch gebucht. Der Hausdiener brachte Richard Anzinger nach oben. Als er sein Zimmer betrat – es hieß ›Enzianzimmer – hatte er keine Ahnung, daß die Frau, die er so sehr anbetete, im Zimmer gegenüber wohnte.

Am liebsten hätte er den Hausdiener sofort nach Maria Devei befragt, doch er unterließ es. Er hoffte darauf, sie beim Abendessen, unten im Restaurant, zu treffen. Zunächst ging er ins Bad und erfrischte sich. Für das Abendessen war es noch zu früh. Richard beschloß, ein wenig auszuruhen.

Später wachte er durch das Klappen einer Tür auf dem Flur auf. Er war also doch eingeschlafen. Seit dem Morgen hatte er nichts mehr gegessen und verspürte allmählich Hunger. Wie er es gewohnt war, zog er sich zum Essen um und ging hinunter ins Restaurant.

Sepp Reisinger begrüßte den neuen Gast und führte ihn an einen freien Tisch. Er stand in einer Ecke, und man konnte von dort aus das ganze Lokal überblicken. Richard ließ sich die Speisekarte bringen, bestellte einen trockenen Sherry als Aperitif, und ließ sich Zeit mit der Auswahl. Schließlich wählte er ein Wildgericht. Während er auf das Essen wartete, ließ er seinen Blick durch das Restaurant schweifen, so wie er es schon beim Betreten getan hatte. Von Maria Devei war nichts zu sehen.

Schade, dachte er. Ob sie vielleicht schon gegessen hat? Vielleicht ließ sie sich die Mahlzeiten ja auch auf dem Zimmer servieren.

Das Essen war köstlich, und Richard ließ es sich schmecken. Allmählich wurde es immer vol­ler, doch die Sängerin war nicht unter den Neuankömmlingen. Um sich abzulenken, hatte Ri­chard in den ausliegenden Zeitschriften geblättert. Es war schon gegen zehn, als er sich erhob. Daß Maria Devei jetzt noch herunterkommen würde, daran glaubte er nicht mehr. Er sollte besser schlafen gehen, der Tag war anstrengend.

Auf dem Treppenabsatz begegnete ihm Sepp Reisinger. Der Wirt trug ein Tablett mit benutztem Geschirr darauf. Er kam von dem Flur, auf dem Richards Zimmer lag.

Sepp trat beiseite, um den Gast durchzulassen, und wünschte eine gute Nacht. Richard nickte ihm freundlich zu.

»Sie haben ja richtig viel zu tun«, sagte er. »Wenn selbst der Chef mit anpacken muß.«

»Das ist eigentlich eine Ausnahme«, antwortete Sepp Resinger.

Er machte ein wichtiges Gesicht und sah sich um, ob ihn womöglich noch jemand hören konnte.

»Wissen S’«, vertraute er dem Kaufmann an, »wir haben da eine bekannte Sängerin bei uns wohnen, die net wünscht, daß dies an die große Glocke gehängt wird. D’rum bedien’ ich selbst.«

»Tatsächlich? Eine bekannte Sängerin, sagen Sie?«

Richard bemühte sich, seiner Stimme einen unbefangenen Klang zu geben, obwohl sein Herz rasend klopfte.

Der Löwenwirt nickte.

»Bestimmt kennen S’ die Dame«, fuhr er fort. »Es ist Maria Devei. Sie wohnt Ihnen gegen­über, im Edelweißzimmer.«

Er entschuldigte sich mit dem Hinweis, unbedingt wieder hinunter zu müssen.

Richard Anzinger stand vor dem Edelweißzimmer und lauschte auf die Geräusche darin. Leise Musik erklang. Er wußte nicht, wie lange er dort gestanden hatte. Am liebsten hätte er angeklopft und Maria in die Arme geschlossen. Aber er wußte natürlich, daß es nicht ging. So blieb ihm nichts anderes übrig, als in sein Zimmer zu gehen und das Bild anzuschauen, das er seit gestern bei sich trug.

*

Toni Wiesinger und Sebastian saßen im Wohnzimmer des Pfarrhauses. Der junge Arzt war eben von einem späten Patientenbesuch gekommen und freute sich darauf, einen Schluck mit dem Geistlichen zu trinken. Pfarrer Trenker brachte das Gespräch auf Valentin Hofthaler und den Verkauf der Mühle.

»Davon weiß ich schon seit ein paar Tagen«, meinte Toni und berichtete von dem Krankenbesuch im Nachbarort.

»Ein unsympathischer Kerl, dieser Herr Hövermann«, sagte er. »Man sieht ihm förmlich an, daß er nur das Geld im Kopf hat. Dazu treibt er einen derartigen Raubbau mit seinem Körper, daß es zum Himmel schreit.

Der Arzt trank von dem ausgezeichneten Roten.

»Wird sich denn der Bau der Diskothek verhindern lassen?« fragte er.

Sebastian Trenker machte ein energisches Gesicht.

»Mit allen Mitteln werd’ ich dagegen ankämpfen. Eine Diskothek ist das letzte, was wir in St. Johann brauchen. Aber, wie ich den Bruckner-Markus kenn’, würd’ ihm so ein Laden gerad’ recht in den Kram passen. Der mit seinen Ideen vom Tourismusboom, der endlich auch hierher kommen müsse!«

Damit hatte der Geistliche ein Thema angeschnitten, das seit geraumer Zeit die Gemüter des kleinen Bergdorfes erhitzte. Bürgermeister Bruckner ließ nichts unversucht, das Fremdenverkehrsgeschäft in St. Johann anzukurbeln. Dabei schoß er oft übers Ziel hinaus. Sehr zum Leidwesen einiger Besonnener, die eher auf sanften Tourismus setzten, der keine gigantischen Hotelneubauten verlangte, oder gefährliche Eingriffe in die Natur. Zu diesen Leuten gehörte vor allem Sebastian Trenker, der oftmals Mühe hatte, die ausufernden Pläne des Bürgermeisters und dessen Fraktion in den Schranken zu halten.

»Also, meine Unterstützung haben S’, Hochwürden«, bekräftigte Toni Wiesinger seinen Standpunkt.

Dann beugte er sich vor.

»Sagen S’, was ist denn an dem Gerücht, daß eine berühmte Sängerin unter uns weilt?« fragte er. »Die Maria Erbling war heut’ morgen in der Praxis. Na, was sie g’wollt hat, können S’ sich denken – nix, außer den neuesen Tratsch verbreiten. Sie hat breit und lang von dieser Künstlerin geredet.«

Sebastian konnte es sich bildlich vorstellen. Maria Erbling war die Witwe des ehemaligen Poststellenleisters, und die gefürchteste Klatschtante von St. Johann. Wollte man eine Neuigkeit schnell unter die Leute bringen, so brauchte man es Maria nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen und konnte sicher sein, daß kurze Zeit später der ganze Ort davon wußte.

»Es ist kein Gerücht«, sagte der Pfarrer. »Maria Devei hat ein Zimmer im ›Löwen‹ genommen. Ich hab’ gestern mit ihr gesprochen. Es ist eine schlimme Sache, über die ich mit Ihnen noch reden wollt’.«

Sebastian schilderte die ganze tragische Geschichte. Toni Wiesinger hörte aufmerksam zu.

»Wir müssen etwas unternehmen«, schloß der Geistliche.

»Natürlich«, antwortete der Arzt, »ich kann sie untersuchen und eine Diagnose stellen. Wenn sie es will. Und mit dem Arzt, der sie untersucht hat, könnte ich auch sprechen. Wissen Sie den Namen?«

»Ein Professor Bernhard aus Frankfurt.«

Tonis Augen weiteten sich.

»Georg Bernhard?« rief er.

»Ob er Georg heißt, weiß ich net«, entgegnete Sebastian. »Nur, daß er eine ziemliche Kapazität sein soll. Kennen Sie ihn etwa?«

Dr. Wiesinger nickte begeistert.

»Aber ja. Ich habe bei ihm studiert. Er war mein Doktorvater.«

Im selben Moment verdüsterte sich seine Miene.

»Wenn Professor Bernhard so eine Diagnose stellt, dann ist daran nicht zu rütteln. Der Mann ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet!«

»Kann es sich net doch um einen Irrtum handeln?« fragte Pfarrer Trenker hoffnungsvoll. »Schließlich ist er auch nur ein Mensch.«

Toni schüttelte den Kopf.

»Aber ein außergewöhnlicher«, sagte er, und deutlich war die Bewunderung herauszuhören, die in seinen Worten mitschwang.

»Ich werd’ trotzdem gleich morgen früh’ mit ihm telefonieren«, fuhr er fort. »Und mir die Befunde kommen lassen. Sofern Frau Devei damit einverstanden ist.«

Sebastian schöpfte neue Hoffnung. Wie oft hatte er es erlebt, daß in scheinbar aussichtslosen Situationen doch noch Rettung nahte.

Sein abendliches Gebet würde nicht nur den Bewohnern von St. Johann gelten. Ganz besonders auch Maria Devei.

*

»Frau Devei hat wohl auf ihrem Zimmer gefrühstückt?« fragte Richard Anzinger den Löwenwirt, nachdem die Sängerin auch am Morgen nicht im Gastraum gewesen war.

Sepp Reisinger war an Richards Tisch getreten, um den Gast nach seinen Frühstückswünschen zu fragen. Es war eine nette Geste des Hoteliers, und die Gäste hatten den Eindruck, daß der Chef sich selbst um jeden einzelnen bemühte.

Der Münchner Kaufmann war als letzter heruntergekommen. Die anderen Gäste hatten längst mit dem Frühstück begonnen und ließen sich schmecken, was die Küche schon am Morgen zu bieten hatte. Außer dem Büffet, konnte man noch von einer kleinen Karte verschiedene Eierspeisen wählen.

Sepp Reisinger beugte sich zu Richard Anzinger hinunter.

»Nein, die Dame ist schon früh aus dem Haus gegangen. Ohne zu frühstücken«, raunte er ihm zu.

»Wissen S’ zufällig, wohin?«

Der Löwenwirt zuckte mit der Schulter.

»Wahrscheinlich den selben Weg, den’s immer nimmt, seit sie hier ist.«

Er konnte es zwar nicht genau sagen, vermutete aber, daß Maria Devei jeden Tag zur Spitzer-Alm hinaufwanderte. Zumindest führte der Weg, den die Sängerin nahm, in diese Richtung.

»Wie weit ist es denn, bis zur Alm?« erkundigte Richard sich.

»Na, bis zur Alm hinauf, müssen S’ eine gute Stund’ rechnen«, erklärte Sepp. »Wobei es net allzuviel zu sehen gibt. Außer einer verfallenen Hütte. Net einmal eine Sennerei ist mehr dort.«

Richard Anzinger beeilte sich mit seinem Frühstück und eilte auf sein Zimmer. Er war heilfroh, daß zumindest Wanderschuhe, und etwas legere Kleidung dabei waren. Zwar hatte er noch in der Nacht vor seiner Abreise den Koffer gepackt, dabei jedoch, ohne großes Nachdenken, wahllos alles hineingesteckt, was ihm in die Hände kam. Es hätte schon ziemlich merkwürdig ausgesehen, würde er im grauen Anzug und schwarzen Slippern eine Almwanderung machen.

Sepp Reisinger hatte eher untertrieben. Der Münchner, der große Wanderungen nicht gewohnt war, brauchte alleine mehr als eine halbe Stunde, um bis an den Weg zu kommen, der auf die Spitzer-Alm hinaufführte. Richard hoffte nur, daß der Löwenwirt mit seiner Vermutung richtig lag, und Maria Devei wirklich zur Alm unterwegs war. Er schaute den Weg hoch, der vor ihm lag – da hatte er noch einiges vor!

Der Kaufmann legte eine kurze Rast ein, bevor er weitermarschierte. Eine wunderbare Gegend, kam es ihm in den Sinn. Er selber wohnte in einer riesigen Villa – viel zu groß, für ihn alleine – im vornehmen Stadtteil Bogenhausen. Außerdem besaß er ein Wochenenhaus am Starnberger See, das er viel zu selten nutzte. Richard schaute sich um. Er konnte sich nicht erinnern, sehr oft in den Bergen gewesen zu sein – bestenfalls im Winter zum Skifahren. Jetzt mußte er feststellen, daß diese Landschaft auch im Sommer ihre Reize hatte. Vielleicht wäre es wirklich einmal eine Abwechslung, den Urlaub hier zu verbringen.

Doch eigentlich wollte er jetzt gar nicht daran denken. Dazu beherrschte ihn viel zu sehr seine Liebe zu der Sängerin. Er wußte immer noch nicht, wie er es anstellen würde, ihr diese Liebe zu gestehen, wenn er ihr gegenüberstand. Aber, das würde sich schon zeigen.

*

Richard Anzinger setzte sich wieder in Bewegung, folgte einem schmalen Pfad, der in die Höhe führte und schritt kräftig dabei aus. Tief sog er die würzige Bergluft in seine Lungen ein. Seine Sehnsucht trieb ihn voran, und es ging besser, als er schon befürchtet hatte.

Und dann sah er sie plötzlich.

In weniger als hundert Metern sah er ihre Gestalt vor einer baufälligen Hütte stehen. Das mußte jene sein, von der der Löwenwirt gesprochen hatte. Die Sängerin trug Jeans und Anorak. Sie lehnte an dem Balken, der das brüchige Vordach abstützte, unter dem wohl einst Tisch und Bank gestanden hatten.

Das Dach der Hütte hatte große Löcher, die Fenster waren ohne Glas, und die Tür hing in den Angeln. Rechts von der Ruine mußte es einmal einen Garten gegeben haben. Jetzt war er verwildert. Wildkräuter und Gras wuchsen mannshoch.

Richard Anzinger näherte sich langsam. Als er nur noch wenige Schritte hinter der Frau war, räusperte er sich vernehmlich. Die Sängerin drehte sich um, und ein fragender Blick stand in ihren Augen.

»Grüß Gott, Frau Devei«, sagte Richard mit belegter Stimme.

Sie erwiderte den Gruß.

»Kennen wir uns?« fragte sie dann.

»Ja… das heißt, wir sind uns vor kurzem begegnet. Im Zug nach München.«

Maria lächelte.

»Ich erinnere mich«, sagte sie. »Welch ein Zufall.«

Tatsächlich war ihr da das markante Gesicht des Kaufmanns aufgefallen, wenngleich es unter dem Eindruck ihrer persönlichen Probleme wieder verblaßte. In ihrem Unterbewußtsein schien es jedoch gespeichert zu sein.

Richard Anzinger stand jetzt vor ihr. Er schüttelte den Kopf.

»Nein, gnädige Frau, kein Zufall«, sagte er.

Maria verstand nicht.

Er wußte nicht, wie er beginnen sollte und kam sich vor, wie ein Primaner bei seinem ersten Rendezvous.

»Ich habe Sie gesucht«, gestand er, hilflos die Hände hebend. »Ich habe Sie gesucht und, Gott sei Dank, gefunden.«

Maria lächelte unwillkürlich. In der Stadt kam es öfter vor, daß sie erkannt und um ein Autogramm gebeten wurde. Aber hier, in den Bergen?

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe keine Autogrammkarte bei mir.«

»Nein, nein. Sie verstehen mich nicht.«

Der Kaufmann kam völlig aus dem Konzept. Wie konnte er einer Frau, der er wildfremd war, erklären, daß er sie liebte?

»Verzeihen Sie, ich habe mich noch gar net vorgestellt«, sagte er. »Mein Name ist Anzinger, Richard Anzinger. Ich… ich weiß gar net, wie ich es anfangen soll…«

Die Sängerin war amüsiert. Der Mann gefiel ihr. Abgesehen davon, daß er gut aussah, machte er in seiner Hilflosigkeit den Eindruck eines großen Jungen, den man einfach gern haben mußte.

Richard war eingefallen, daß der Löwenwirt davon gesprochen hatte, daß Maria Devei jeden Tag hier heraufging. Welche Beziehung mochte sie wohl zu diesem verfallenen Haus haben? Er deutete darauf.

»Eigentlich ein romantisches Plätzchen«, meinte er. »Kannten Sie die Leute, die hier einmal gewohnt haben?«

Marias Blick wurde traurig. Sie sah zu der alten Hütte hinüber und spürte die Tränen in den Augen. Richard war bestürzt, als er es bemerkte.

»Es tut mir leid, wenn ich Sie…«

»Nein«, unterbrach die Sängerin ihn. »Es ist net Ihre Schuld.«

Sie zeigte auf die Ruine, in der sie einst gewohnt hatte.

»Ja, ich kannte diese Menschen. Das hier sind die Überreste meines Elternhauses.«

Richard glaubte zu verstehen, warum sie nicht nur jetzt so traurig war. Auch schon im Zug mußte sie an ihre Eltern gedacht haben. Er nahm allen Mut zusammen.

»Maria, ich habe Sie gesehen und mich in Sie verliebt«, sagte er, entschlossen alles auf eine Karte zu setzen. »Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Sie wiederzufinden, und ich habe meine Firma im Stich gelassen, um Ihnen hierher zu folgen und Ihnen dies alles zu sagen. Ich liebe Sie aufrichtig und von ganzem Herzen, wie ich noch nie eine Frau zuvor geliebt habe!«

Die Sängerin starrte ihn fassungslos an. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit solch einem Geständnis.

»Ich… ich weiß gar net, was ich sagen soll.«

Richard ergriff ihre Hände.

»Sie müssen nichts sagen. Noch nicht. Aber lassen Sie Ihr Herz sprechen«, bat er.

Maria sah in seine Augen. Sie leuchteten voller Liebe.

Ihr Herz sprechen lassen? Es klopfte bis zum Hals hinauf. Liebe auf den ersten Blick – gab es die denn wirklich?

Aber es durfte ja net sein. Sie, eine Todgeweihte, durfte sich net binden, selbst wenn sie für diesen Mann große Sympathie empfand, wie sie überrascht feststellte. Richard Anzinger schien so anders, als die Männer, die ihr bisher begegnet waren. Seine ganze Art strahlte zurückhaltende Eleganz aus. Für ihn mußte die Rolle des Kavaliers eine Selbstverständlichkeit sein, kein bloßes Getue. Selbstsicherheit war bei ihm nicht gespielt.

Ja, sie würde ihn lieben können, dessen war sie sicher, doch… es war unmöglich.

»Ihr Liebesgeständnis ehrt mich, Richard«, sagte sie, ihn beim Vornamen nennend. »Aber… es geht nicht…«

Er nickte verstehend.

»Ich weiß, daß ich Sie überrumpelt habe«, antwortete er. »Aber ich bin bereit, zu warten. Ich weiß, daß wir uns erst richtig kennenlernen müssen, Maria. Aber ich bin sicher, mit der Zeit…«

»Richard, bitte…«, unterbrach sie ihn.

Maria konnte es nicht länger ertragen. Sie lief davon. Richard Anzinger sah ihr bestürzt hinterher.

»Du Esel, Narr, du Dummkopf«, beschimpfte er sich selber.

Natürlich mußte die Frau von seinem Geständnis völlig überrascht und durcheinander sein! Wie anders hätte sie reagieren sollen, als die Flucht zu ergreifen?

Mit hängenden Schultern machte er sich auf den Weg zurück ins Dorf. Er würde sich bei ihr entschuldigen und abreisen. Das war das einzige, was er tun konnte. Hoffentlich nahm sie seine Entschuldigung überhaupt an.

*

»Gibt’s immer noch keine Spur von Valentin?« fragte Pfarrer Trenker seinen Bruder, der wieder mal rechtzeitig zum Mittagessen im Pfarrhaus eingetroffen war.

Max schüttelte den Kopf. Antworten konnte er nicht, weil er damit beschäftigt war, das Stück­chen Kuchen zu verdrücken, das vom Vortag übriggeblieben war. Sophie Tappert hatte es nicht erst in die Speisekammer gestellt, sie kannte ja den Dorfpolizisten…

»Nein«, sagte er schließlich, nachdem der letzte Bissen geschluckt war. »Ich war auch heut noch mal in der Mühle. Außer einem Gerüst, das jetzt davor steht, gibt’s nichts Neues dort, und vom alten Hofthaler schon gar net.«

Sebastian schüttelte den Kopf. Er mochte einfach net glauben, daß Valentin die Sägemühle so mir nichts, dir nichts verkauft und eine Weltreise angetreten hatte. Das paßte überhaupt nicht zu ihm.

»Ein Gerüst, sagst’. Fangen die etwa schon mit dem Umbau an?«

»Es schaut beinah’ so aus«, bestätigte der Polizist.

»Die können doch noch gar keine Genehmigung haben«, meinte der Geistliche nachdenklich. »Ich glaub net, daß der Antrag schon durch ist.«

»Arbeiter hab’ ich keine g’sehen«, sagte Max. »Ich werd’ morgen noch einmal hinfahren. Sollten sie dann dort arbeiten, laß’ ich mir auf jeden Fall die erforderlichen Papiere zeigen. Den Bauantrag und so weiter.«

Die Haushälterin hatte die Suppe aufgetragen. Ein herrlich duftender Gemüseeintopf mit Grießklößchen und frischen Kräutern stand auf dem Tisch. Sophie Tappert war eher schweigsam veranlagt, als redselig. Wenn sie aber einmal etwas sagte, dann hatten ihre Worte Gewicht.

»Den Berthold hat er aber net mitgenommen, auf seine Weltreise, der Valentin«, meinte sie, nachdem das Tischgebet gesprochen, und die Suppe aufgefüllt war.

Sebastian und Max sahen sie fragend an.

»Sie meinen Valentins Neffen? Den Berthold Siebler?« fragte der Geistliche.

Seine Haushälterin nickte.

»Ich hab’ ihn heut’ morgen gsehen, als ich drüben im Supermarkt war.«

»Seltsam«, meinte Pfarrer Trenker. »Der hat doch sonst seinen Onkel kaum besucht. Was macht er denn hier, wenn der alte Valentin auf Reisen ist?«

»Das haben Hertha und ich uns auch gefragt«, sagte Sophie Tappert und schwieg für den Rest des Mittagessens.

Nach dem Essen ging Sebastian zum Hotel hinüber. Er mußte unbedingt mit Maria sprechen, sie davon überzeugen, sich noch einmal, diesmal von Dr. Wiesinger, untersuchen zu lassen.

Im Eingang kam ihm der Lö­wenwirt entgegen.

»Grüß Gott, Reisinger«, sagte der Geistliche. »Ist die Frau Devei im Haus?«

»Freilich«, nickte Sepp. »Sie ist auf ihrem Zimmer. Möchten S’ sie sprechen?«

»Ja, das auch, aber sag’ mal, Sepp, du und der Bruckner, ihr seid’s doch von der gleichen Fraktion. Kannst du eigentlich zustimmen, wenn unser schönes Tal durch eine Diskothek verschandelt werden soll?«

Der Wirt machte ein verlegenes Gesicht. Sebastian wußte natürlich genau, daß der Arme unter dem Zwang der Fraktionsdisziplin stand. Bei einer Abstimmung mußte er so stimmen, wie es die Mehrheit der eigenen Leute es vorher beschloß.

»Naja…«, druckste er herum. »Es ist ja auch so, daß da mit den jungen Leuten auch Geld hereinfließt. Denken S’ doch nur an die ganzen Steuern.«

»In erster Linie denk’ ich an die Menschen, die hier wohnen, und an die Umwelt. Was glaubst’ wohl, wie sich deine Gäste wohl fühlen werden, wenn jedes Wochenend’ Hunderte von Autos und Motorrädern unsere saubere Luft verpesten – vom Lärm mal ganz abgesehen.«

Das war ein Argument, dem der Hotelier sich nicht verschließen konnte.

»Ich hab’ nix gegen junge Leut’«, fuhr Pfarrer Trenker fort. »Im Gegenteil, ich freu mich, wenn’s ihre Gaudi haben. Aber net, wenn’s auf Kosten der Gesundheit anderer Leut’ geht. Denk’ mal daran, wenn die Abstimmung im Gemeinderat ist.«

Er ging durch die Tür und ließ einen nachdenklichen Sepp Reisinger zurück.

*

Maria Devei empfing den Geistlichen in ihrem Zimmer. Sebastian fand, daß sie wesentlich besser aussah, als am Tag ihrer Ankunft. Das lag in erster Linie daran, daß Marias Miene deutlich froher und entspannter war. Der Pfarrer fragte sich, woran es liegen mochte. Alleine das Wiedersehen mit der alten Heimat konnte diesen Umschwung im Gemüt der Sängerin nicht bewirkt haben.

»Wie ich seh’, scheint’s Ihnen besserzugehen, als vor zwei Tag’«, sagte er zur Begrüßung.

Maria schmunzelte und bot ihm einen Platz an.

»Ich fühle mich seit Wochen erstmals wieder besser«, bekannte sie. »Die Ruhe tut mir gut, der Streß ist regelrecht von mir abgefallen.«

Sie setzten sich.

»Das ist doch wunderbar, Maria. Wissen S’, ich hab’ mir schon Gedanken gemacht, und überlegt, wie man Ihnen helfen könnt’.« Er sah ihr aufmerksam ins Gesicht und nickte unmerklich, bevor er fortfuhr.

»Wir haben hier, in Sankt Johann, einen sehr fähigen, jungen Arzt, und stellen S’ sich vor, er hat bei Ihrem Professor Bernhard seine Ausbildung gemacht.«

Die Sängerin war erstaunt.

»Wirklich…?«

»Ja«, nickte Sebastian Trenker. »Ich möcht’ Sie bitten, sich noch einmal untersuchen zu lassen. Von unserem Dr. Wiesinger. Ich hab’ schon mit ihm gesprochen, und selbstverständlich ist er dazu bereit, wenn Sie einverstanden sind. Er würd’ sich dann auch die Befunde aus Frankfurt kommen lassen.

Bitte, Maria, sprechen S’ mit ihm.«

Sie saßen sich gegenüber. Der Pfarrer spürte, wie die junge Frau mit sich kämpfte. Nervös knetete sie die Hände, während ihre Augen unstet durch den Raum huschten.

»Warum?« fragte sie schließlich. »Warum noch einmal diese endlosen Untersuchungen, die Tests, das Blutabnehmen, die quälende Warterei auf die Ergebnisse? Es würd’ doch nichts an den Tatsachen ändern.«

Sie richtete sich auf und sah den Geistlichen an.

»Sie freuten sich vorhin über meinen Gemütszustand«, sagte sie. »Es ist net nur die Ruhe, die ich hier genieße, und die dafür verantwortlich ist. Ich hatte heut’ morgen ein Erlebnis, das ich, solange ich noch lebe, net vergessen werd’.

Ein Mann, den ich nur ganz kurz gesehen hab’ – es war in der Bahn, auf dem Weg hierher – hat sich in mich verliebt. Er setzte alles in Bewegung, um herauszufinden, wer und wo ich bin. Er ist mir hierher gefolgt, und heut’ morgen hat er mir eine Liebeserklärung gemacht. Dieser Mann ist mir ungeheuer sympathisch. Ja, ich glaub sogar, ich hab’ mich ein wenig in ihn verliebt. Und auch das ist ein Grund für meinen momentanen Zustand.

Doch ich habe ihn abgewiesen. Wie kann ich einen Mann an mich binden, in dem Wissen, daß er mich von heut’ auf morgen wieder verlieren kann. Ich muß und werde alleine mit meiner Situation fertig.«

»Aber, das ist doch das schönste, was einer Frau widerfahren kann, daß ein Mann ihr sagt, daß er sie liebt«, wandte Pfarrer Trenker ein. »Maria, glauben S’ net, daß es sich dafür lohnt, die Strapazen der Untersuchung noch einmal auf sich zu nehmen? Meinen S’ net, daß es sich dafür lohnt, zu leben?«

Die Frau schaute ihn an, Tränen liefen über das schöne Gesicht, und die Hände waren zu Fäusten geballt.

»Es gibt keine Hoffnung, hat der Professor gesagt«, flüsterte sie. »Keine Hoffnung.«

»Nein, nein, nein«, widersprach Sebastian Trenker energisch. »Es gibt immer Hoffnung. Wo blieben wir denn alle, wenn es net so wär?«

Maria Devei blieb die Antwort schuldig.

*

Max Trenker hielt unten am Weg, der zur Mühle hinaufführte. Aus seinem Dienstwagen heraus schaute er zur Sägemühle hoch. Sie war sehr alt und schon lange nicht mehr in Betrieb. Valentin Hofthaler hatte sich vor einigen Jahren zur Ruhe gesetzt, nachdem das Geschäft mit dem Holz durch Billigimporte aus den östlichen Nachbarländern immer mehr zurückging. Der Alte war in der kleinen Wohnung geblieben, obwohl sein Neffe immer wieder versucht hatte, ihn zu einem Umzug in ein Altenheim zu bewegen. Berthold Siebler war der einzige Verwandte des Sägemüllers. Allerdings kümmerte er sich recht wenig um seinen Onkel. Max hatte läuten hören, daß Berthold nur dann zu Besuch kam, wenn er knapp bei Kasse war.

Der Polizist von St. Johann sah einen Kastenwagen oben an der Mühle stehen, und zwei, drei Männer, die etwas ausluden. Max startete den Wagen und fuhr den Weg hinauf. Zwei Männer standen an dem Kleinlaster, ein dritter verschwand gerade in der Sägemühle. Auf der Plane des Lasters stand der Name eines Baubetriebes aus Waldeck. Die beiden Männer, sie trugen Arbeitskleidung, schauten neugierig, als der Polizeiwagen herangefahren kam.

Der Beamte stieg aus und setzte seine Dienstmütze auf. Er ging auf die Männer zu und hob grüßend die Hand an den Mützenschirm.

»Pfüat euch, miteinand«, sagte er. »Hauptwachtmeister Trenker, vom Polizeiposten Sankt Johann. Wer ist denn der verantwortliche Bauleiter?«

Einer der Männer deutete auf die Mühle.

»Der Joseph«, sagte er. »Er ist gerad in der Mühle drin.«

Im gleichen Augenblick kam der Mann wieder heraus. Max begrüßte auch ihn und fragte nach dem Namen.

»Raitmayr, Joseph Raitmayr«, antwortete der Mann. »Was gibt’s denn eigentlich?«

Max kratzte sich am Kinn.

»Tja, ich hätt’ gern gewußt, in wessen Auftrag Sie hier arbeiten.«

»Warum fragen S’ uns das? Ist etwas net in Ordnung?«

»Gerad’ das möcht’ ich ja herausfinden. Sehen S’, die Mühle gehört dem Valentin Hofthaler, der seit ein paar Tagen verschwunden ist, obwohl er mich vorher angerufen hat, um mich herzubestellen, weil er etwas Wichtiges bereden wollt’. Nun komm’ ich schon das vierte Mal her, und vom Valentin keine Spur, dafür seid’s ihr da.«

Die beiden anderen Arbeiter hatten sich dazu gesellt. Die drei sahen sich ratlos an. Schließlich ging der Bauführer zum Wagen und holte eine schwarze Ledermappe aus dem Führerhaus. Er öffnete sie und nahm einen Auftragsbogen heraus.

»Also, der Bauherr heißt Otto Hövermann.«

Er zeigte Max den schriftlichen Auftrag.

»Ja, den Herrn kenn’ ich. Vom Namen her«, sagte der Polizist. »Was mich wundert – soweit ich informiert bin, liegt noch gar keine Baugenehmigung vor.«

Joseph Reitmayr zuckte die Schultern.

»Das mag sein. Aber, wir wollen auch noch gar net bauen«, erklärte er. »Es ist nur so, daß der Herr Hövermann es sehr eilig hat. Er rechnet jeden Tag mit der Genehmigung durch die Gemeinde. D’rum hat unser Chef, was der Herr Brunnengräber ist, g’sagt, wir sollen schon mal Material hier anliefern, damit der Herr Hövermann zufrieden ist.«

Er beugte sich zu Max vor.

»Wissen S’, Herr Wachtmeister, die alte Mühle zu einer Diskothek umzubauen, das kost’ schon eine hübsche Stange Geld. Das will der Chef sich natürlich net durch die Lappen gehen lassen.«

»Das kann ich mir denken«, nickte Max Trenker. »Ich fürcht’ nur, das Material könnt’ ihr in den nächsten Tagen wieder abholen.«

Die drei sahen ihn mit offenen Mündern an.

»Wieso…?«

Max machte eine skeptische Handbewegung.

»Ich hab’ da so meine Zweifel, was den Bauantrag betrifft«, sagte er. »Außerdem, so lange der Verbleib des Herrn Hofthaler net geklärt ist, wird der Herr Hövermann hier keinen einz’gen Stein versetzen lassen. Das dürfen S’ mir glauben, meine Herren.«

Damit drehte er sich um und ging zu seinem Wagen zurück. Die Arbeiter schauten ihm ratlos hinterher.

*

Sebastian war erstaunt, als er von seinem Bruder hörte, daß bereits die ersten Handwerker ihre Materialien und Werkzeuge bei der alten Sägemühle anlieferten.

»Ich glaub’ schon, daß der Herr Brunnengräber den Auftrag net verlieren möcht«, meinte Max.

Der Pfarrer nickte. Natürlich, der ganze Umbau mußte ein kleines Vermögen kosten. Da schnitt sich jeder gerne eine Scheibe von ab. Was sonderbar auf ihn wirkte, war die Tatsache, daß der ortsansässige Bauunternehmer den Auftrag nicht erhalten hatte. Möglicherweise wollte man dadurch verhindern, daß allzu früh über die ganze Angelegenheit spekuliert wurde.

»Na, dem Reisinger hab’ ich jedenfalls schon ins Gewissen geredet«, sagte der Geistliche. »Und dem Bruckner-Markus werd’ ich bei Gelegenheit einen Besuch abstatten.«

Sophie Tappert kam in das Wohnzimmer, wo die beiden Brüder saßen, und brachte Kaffee und Gebäck herein. Es waren nur ein paar Kekse, weil sie wußte, daß Hochwürden am Nachmittag nach Waldeck ins Altenheim fuhr.

»So, Herr Pfarrer, ich geh’ dann zum Friseur«, verabschiedete sie sich. »Es kann gut zwei Stunden dauern. Zum Abendessen bin ich aber rechtzeitig wieder daheim.«

»Lassen S’ sich Zeit«, antwortete Sebastian. »Zu essen ist ja genug da.«

Der letzte Satz war eigentlich mehr an seinen Bruder gerichtet, der die Kochkünste der Haushälterin über alles liebte.

»Warum suchen S’ sich net ein nettes Madel und heiraten?« Diese Frage hatte Sophie Tappert ihm schon oft gestellt. Die Antwort war immer dieselbe.

»Weil’s keines mit Ihren Kochkünsten aufnehmen kann«, antwortete der Polizeibeamte dann mit einem hinreißenden Lächeln, das Eisberge schmelzen ließ.

Dabei wußte die Haushälterin genau, daß das nicht der einzige Grund war, warum Max Trenker noch nicht in den Hafen der Ehe eingelaufen war. Der Schlawiner liebte seine Freiheit als Junggeselle viel zu sehr, als daß er sich binden würde. Außerdem hatte er leichtes Spiel bei den Madeln. Einen Tanzabend ließ er nur aus, wenn der Dienst es verhinderte, und überall wo eine Gaudi war, konnte man ihn finden.

Sein Bruder hatte zwar schon oft ein mahnendes Wort gesprochen, mußte aber immer wieder feststellen, daß es vergebens war. Zumindest konnte der Geistliche aber feststellen, daß Max ein gewissenhaft arbeitender Polizeibeamter war, der seinen Beruf liebte und seinen Dienst ernsthaft versah. Dabei vergaß er nicht die menschliche Seite. Wie sein Bruder, der Pfarrer, es als eine Aufgabe ansah, den Menschen nicht nur das Evangelium zu predigen, sondern darüber hinaus für alle Sorgen und Nöte seiner Schäfchen ein offenes Ohr zu haben und mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, so empfand es auch Max Trenker als seine Aufgabe, den Leuten immer dort zu helfen, wo Not am Mann war. Er war niemals ein sturer Beamter, der seinen Dienst nach Vorschrift versah. Sein mitfühlendes Wesen würde dies niemals zulassen.

»Wie geht’s denn der Maria?« fragte er, nachdem die Haushälterin das Wohnzimmer verlassen hatte.

Sebastian berichtete von seinem Besuch bei der Sängerin.

»Ich hab’ kein gutes Gefühl«, sagte er. »Ich hoff’, daß sie es sich doch noch überlegt, und unseren Doktor aufsucht.«

Er trank seinen Kaffee aus und stand auf.

»Es wird Zeit«, sagte er. »In Waldeck warten’s schon.«

*

Pfarrer Trenker saß in dem ge­mütlich eingerichteten Speiseraum, des Waldecker Altenheims, zusammen mit den Bewohnern und den Pflegekräften. Es gab Kaffee und Kuchen, und vom Band erklangen Vivaldis ›Die Vier Jahreszeiten‹.

Es war immer ein schöner Nachmittag für die alten Leute, denn Sebastian organisierte immer wieder mal eine Überraschung für sie. Mal war es jemand, der etwas vorlas, ein anderer spielte Gitarre und musizierte mit ihnen, oder eine Laienspielgruppe führte ein kleines Stück auf. Und natürlich nahm der Geistliche auch die Beichte ab, wenn es gewünscht wurde. Es waren nicht wenige unter den Heimbewohnern und -bewohnerinnen, die aufgrund eines Gebrechens nicht mehr so ohne weiteres an der Messe in der Kirche teilnehmen konnten.

Die Leiterin des Altenheims, Frau Burgsmüller, nahm Sebastian Trenker nach dem Kaffeetrinken beiseite.

»Ich hab’ da noch ein Problem, Herr Pfarrer, das ich gern mit Ihnen besprechen möcht’«, erklärte sie. »Können wir einen Moment in mein Büro gehen?«

»Aber natürlich«, nickte Sebastian und folgte ihr.

»Wir haben einen Neuzugang«, begann Frau Burgsmüller, als sie in ihrem kleinen Büro saßen. »Ein schwieriger Fall. Irgendwie kommen wir an den Mann net heran. Er weigert sich, auch nur ein Wort, mit uns zu sprechen. Ich wollt’ Sie bitten, ob Sie vielleicht versuchen, mit ihm zu reden?«

»Selbstverständlich«, antwortete der Geistliche. »Dem Mann fällt’s wahrscheinlich schwer, sich einzugewöhnen. Es ist ja auch net einfach, für einen Menschen, aus seiner gewohnten Umgebung herauszugenommen und woanders untergebracht zu werden. Bekommt er denn keinen Besuch? Hat er keine Angehörigen mehr?«

»Doch, einen Neffen. Der hat den Herrn Hofthaler auch zu uns gebracht, sich dann aber net wieder sehen lassen. Und eine Adresse, oder wenigstens Telefonnummer, haben wir von dem Herrn Siebler auch net«, sagte die Heimleiterin.

Pfarrer Trenker machte große Augen, als er die beiden Namen hörte.

»Was sagen Sie? Der Mann heißt Hofthaler, und sein Neffe Siebler?«

»Ja, ich dacht’ mir, daß Sie ihn kennen. Er stammt ja aus Sankt Johann. Darum bat ich Sie ja auch, mit ihm zu sprechen. Zu Ihnen hat er doch bestimmt Vertrauen.«

»Freilich kenn’ ich den Valentin, und der ist hier bei Ihnen. Wir haben uns schon gewundert, wo er abgeblieben ist.«

Frau Burgsmüller nickte.

»Ja, es ist schon ein schlimmes Schicksal mit ihm.«

Sebastian war ratlos.

»Von welchem Schicksal sprechen Sie? Ist der Valentin etwa krank?«

»Körperlich? Nein, aber sein Geist. Wußten S’ das denn net? Herr Hofthaler wurde entmündigt, man hat ihn mit einem Gerichtsbeschluß bei uns eingewiesen.«

Pfarrer Trenker kam aus dem Staunen nicht heraus. Das war ja ein starkes Stück, das er da zu hören bekam!

»Also, meine liebe Frau Burgsmüller, entweder ist das alles nur ein tragischer Irrtum – oder ein ausgekochtes Gaunerstück«, erklärte er der sichtlich irritierten Heimleiterin. »Der alte Valentin ist geistig so gesund, wie Sie und ich!«

Die Frau war fassungslos. Ratlos hob sie die Hände.

»Ja, aber da ist doch das Gutachten, das dem Beschluß beiliegt«, sagte sie.

»Das möcht ich gern’ einmal sehen«, antwortete der Geistliche. »Und den Arzt, der es erstellt hat. Aber zuerst bringen S’ mich zum Valentin.«

»Natürlich. Kommen S’ nur. Er wird sich bestimmt freuen, Sie zu sehen.«

Auf dem Weg zum Zimmer, in dem der alte Hofthaler wohnte, überlegte Sebastian Trenker, wie er am geschicktesten vorgehen sollte. Es war keine Frage für ihn, daß an der Sache etwas faul sein mußte. Genauso war es keine Frage, daß er Valentin wieder mit nach Hause nehmen würde.

Aber etwas anderes machte ihm Sorge, und das war das Gutachten über den Geisteszustand des Alten.

*

Valentin Hofthaler saß auf einem Stuhl am Fenster, und starrte hinaus. Frau Burgsmüller hatte zunächst angeklopft und, als keine Antwort kam, die Tür geöffnet.

»Herr Hofthaler, hier ist Besuch für Sie«, sagte sie.

Der alte Mann drehte langsam den Kopf. Ein freudiges Lächeln huschte über das faltige Gesicht, als er den Besucher erkannte.

Sebastian schüttelte ihm die Hand.

»Du liebe Güte, Valentin, was macht’s denn hier?« fragte er. »Wir vermissen dich schon zu Haus’.«

»Hochwürden, Sie schickt der Himmel. Holen S’ mich jetzt hier wieder ’raus?«

Seine Stimme klang hoffnungsvoll und erleichtert zugleich.

Sebastian zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Die ganze Zeit über hatte Valentin die Hand des Geistlichen nicht losgelassen.

»Wollen mal sehen, wie wir das am besten anstellen«, antwortete Pfarrer Trenker. »Nun erzähl’ erstmal, was eigentlich passiert ist.«

Valentin Hofthaler atmete tief durch.

»Da gibt’s eigentlich net viel zu erzählen«, meinte er und berichtete dann.

Was der Pfarrer und die Heimleiterin zu hören bekamen, war schier unglaublich!

Valentin ahnte schon nichts Gutes, als sein Neffe ihn wieder einmal besuchte. Wenn es geschah – selten genug –, dann kam Berthold Siebler nicht, um sich nach dem Befinden des Onkels zu erkundigen, sondern weil ihn wieder einmal finanzielle Engpäße plagten.

Einmal war es die Miete, die er nicht zahlen konnte, ein anderes Mal gab er vor, krank gewesen zu sein und aus diesem Grund nicht arbeiten zu können.

Valentin Hofthaler wußte net mehr aus, noch ein. Berthold war der Sohn seiner einzigen Schwester. Nachdem der Junge schon früh den Vater verloren hatte, fehlte ihm die ordnende Hand. Die Mutter hatte genug damit zu tun, durch drei, vier Putzstellen, das nötige Geld heranzuschaffen, um sich und den Jungen über Wasser zu halten. Nach ihrem Tod ging es dann mit Berthold immer weiter bergab.

»Bub, sei g’scheit«, ermahnte Valentin seinen Neffen immer wieder. »Man kann net einfach Geld ausgeben, das man net hat!«

Alle Vorwürfe und Ermahnungen fruchteten nichts. Berthold kam, aß sich satt und zog nicht eher wieder von dannen, bevor er seinem Onkel nicht ein paar Mark abgebettelt hatte. Bei seinem letzten Besuch machte er einen Vorschlag, der Valentin die Sprache verschlug.

Der alte Hofthaler solle die Sägemühle verkaufen – einen Käufer hätte er, Berthold, schon an der Hand – und in ein Altenheim ziehen. Von dem Geld sollte er dem Neffen schon mal einen Teil von dem auszahlen, was dieser sowieso einmal erben würde.

Bei diesem Vorschlag trat Valentin Hofthaler die Zornesröte ins Gesicht. Er verwies Berthold Siebler des Hauses, ohne auch nur mit einem Wort auf dessen infames Verlangen einzugehen. Allerdings hatte er nicht mit der Verschlagenheit seines Neffen gerechnet.

Einen Tag später erschien der wieder in der Sägemühle und entschuldigte sich für sein Verhalten. Valentin ging es an diesem Tag nicht besonders gut. Wahrscheinlich hatte ihn die ganze Sache doch mehr aufgeregt, als er annahm.

Berthold Siebler spielte den besorgten Neffen und blieb bei dem Kranken, um ihn zu pflegen. Während dieser Zeit führte er mehrere Telefongespräche. Mit wem, das konnte Valentin Hofthaler nicht sagen. Allerdings hatte er mehrmals mitbekommen, daß diese Gespräche sich um ihn drehten. Als er Berthold darauf ansprach, gab dieser an, mit verschiedenen Ärzten telefoniert zu haben, aus Sorge um den kranken, alten Mann.

Sollte er sich wirklich geändert haben?

Valentin freute sich über den scheinbaren Sinneswandel seines Neffen, und ließ sich überreden, einen Facharzt, wie Berthold ihn nannte, aufzusuchen.

»Und dann ging alles ganz schnell«, berichtete Valentin weiter. »Der Arzt stellte mir so komische Fragen, und einen Test sollte ich machen. Allmählich kam ich dahinter, daß man mich für verrückt hielt.«

Der alte Mann holte ein Taschentuch hervor und wischte sich die Tränen ab, die während seiner Erzählung immer wieder über sein Gesicht liefen.

»Ich hatte den Max angerufen und wollt’ ihn um Rat fragen. Aber da hat der Berthold mich schon zu diesem Arzt gebracht und war dann verschwunden, obwohl er gesagt hatte, er würd’ auf mich warten. Ich kam in eine Klinik, fragen S’ mich bitt’ schön net wo, Hochwürden, und später fand ich mich in einem Gerichtssaal wieder.«

Da hatte der Alte schon auf stur geschaltet. Er beantwortete keine Fragen, und ehe er sich versah, hatte man ihn entmündigt, aufgrund eines Gutachtens, das dieser unbekannte Arzt erstellt hatte.

Pfarrer Trenker und die Heimleiterin waren fassunslos.

»Gell, Hochwürden, Sie nehmen mich wieder mit?« fragte Valentin Hofthaler bittend. »Ich hab’ doch meine Mühle. Was soll ich dann hier?«

Herr im Himmel, dachte Sebastian. Der arme Kerl hatte ja keine Ahnung, daß schon die ersten Handwerker angerückt waren.

»Auf jeden Fall nehm’ ich dich wieder mit«, sagte er bestimmt.

»Ich weiß net, ob das so einfach geht, Hochwürden«, wagte Frau Burgsmüller einzuwenden. »Der Herr Hofthaler befindet sich aufgrund eines Gerichtsbeschlusses in unserer Obhut.«

»Der aufgrund eines dubiosen Gutachtens eines noch dubioseren Arztes gefaßt wurde«, antwortete der Geistliche. »Liebe Frau Burgsmüller, Sie kennen mich, und ich kenn’ Valentin. Seien Sie versichert, daß ich ihm jedes Wort glaube. Ich bin bereit, die volle Verantwortung zu übernehmen.«

Die Heimleiterin sah von einem zum anderen.

»Also gut«, seufzte sie. »Aber das müssen S’ mir schriftlich geben. Irgendwie muß ich mich ja absichern, das werden S’ doch verstehen. Schließlich ist es der Vormund, der darüber zu bestimmen hat, wo der Herr Hofthaler sich aufhält.«

»Natürlich«, nickte Pfarrer Trenker. »Das versteh’ ich voll und ganz.«

*

Richard Anzinger nahm allen Mut zusammen und klopfte an die Tür des Edelweißzimmers. Lange Zeit hatte er davor gestanden und mit sich gerungen. Er hatte gezögert, aus Angst, sie könne ihm die Tür vor der Nase zuschlagen, dennoch mußte er es tun. Richard wußte, daß er Maria Devei eine Erklärung schuldig war.

Die Sängerin öffnete sofort. Sie lächelte, als sie ihn erkannte. Der Kaufmann blieb unschlüssig stehen.

»Richard, kommen Sie doch herein«, lud Maria ihn ein.

Das Edelweißzimmer war ähnlich eingerichtet, wie das Enzianzimmer gegenüber. Maria bot ihm einen Sessel, der, zusammen mit einem kleinen Tisch, am Fenster stand. Sie selber zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Maria… ich bin gekommen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen«, begann er. »Ich weiß, ich hätt’ Sie so einfach nicht überfallen dürfen.«

Die junge Frau lächelte wieder. Ein Lächeln, das sie besonders attraktiv machte. Richard hörte sein Herz laut schlagen.

Maria sah sich um.

»Ich habe leider nichts anzubieten. Sollen wir uns etwas kommen lassen?«

»Nein, das ist net nötig«, wehrte der Kaufmann ab.

»Sie wollten mir etwas sagen?«

Richard Anzinger rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Ein wenig verlegen hob er die Hände.

»Ja, Maria, ich hab’ mich wie ein Dummkopf benommen und ich bitte Sie dafür um Entschuldigung. Ich hab’ alles, was man nur falsch machen kann, falsch gemacht.«

»Aber wieso denn?«

Richard schaute sie ratlos an. Er verstand nicht, was sie mit ihrer Frage meinte.

»Es ist doch die natürlichste Sache der Welt, daß ein Mann, der eine Frau liebt, es ihr auch sagt. Ich hab’ mich über Ihren Antrag sehr gefreut.«

»Ja, wirklich? Aber warum…?«

»Sie meinen, warum ich fortgelaufen bin?«

Der Kaufmann nickte. Das Lächeln in Marias Augen war verschwunden. Trauer und Wehmut standen nun darin geschrieben.

»Ich muß Ihnen etwas erklären«, sagte sie.

Die Sängerin hatte die ganze Zeit an Richard Anzinger gedacht. Zwar hatte er sie mit seinem Geständnis überrumpelt, doch sie war ihm nicht böse deswegen. Im Gegenteil – sie konnte sich durchaus vorstellen, unter anderen Voraussetzungen, seine Frau zu werden. Auch wenn sie sich erst heute kennengelernt haben.

Doch diese Voraussetzungen waren die falschen.

Die Zeit lief ihr davon, und das wollte sie ihm sagen. Denn er hatte ein Recht darauf, alles zu erfahren.

Leise und behutsam sprach sie zu ihm. Richard sah sie erst ungläubig an, dann schlug er seine Hände vor die Augen.

»Und es gibt keine Hoffnung?« fragte er mit tonloser Stimme.

»Ich fürchte nein…«

Jetzt hielt es ihn nicht länger auf seinem Platz. Er sprang auf und zog sie zu sich heran. Ganz dicht waren ihre Gesichter aneinander.

»Maria, ich liebe dich«, sagte er mit rauher Stimme. »Mehr, als je einen Menschen zuvor, und ich lasse net zu, daß du stirbst.«

»Ach, Richard…«

Er verschloß die Lippen mit einem Kuß, und sie ließ es geschehen.

»Wir müssen etwas unternehmen«, sagte er, nachdem er sie wieder freigegeben hatte. »Wir werden die besten Ärzte aufsuchen. Ganz egal, was es kostet!«

Maria Devei schüttelte den Kopf.

»Ach, Richard, meinst du net, daß ich alle Möglichkeiten bedacht habe? Ich war bei dem besten Arzt.«

»Dann muß eben noch einer her!«

Diesmal küßte sie ihn.

»Du bist so lieb«, sagte sie. »Aber es ist sinnlos.«

»Nein, nein, nein«, protestierte er. »Damit gebe ich mich net zufrieden!«

Maria erzählte von Pfarrer Trenkers Besuch, und daß der Geistliche von dem Dorfarzt gesprochen hatte, der ein Schüler Professor Bernhards war.

»Bitte, Maria, nutze diese eine Chance«, flehte Richard Anzinger. »Wenn du net mehr bist… dann, dann ist mein Leben sinnlos!«

Mit tränengefüllten Augen küßten sie sich innigst. Es schien, als gebe dieser Kuß Maria neuen Lebensmut. Sie schaute den Mann an, den sie erst so kurz kannte und dennoch von Herzen liebte.

»Ja, Richard, ich will leben«, sagte sie. »Für dich.«

*

Wieder folgte die verhaßte Prozedur der Untersuchung, des Blutabnehmens, des Wiegens und des Messens. Unzählige Fragen wurden beantwortet. Vom Blutbild bis zum EKG war nichts ausgelassen worden.

All dies ließ Maria Devei geduldig über sich ergehen. Ihre Liebe zu Richard gab ihr die nötige Kraft dazu.

Und dann war der Tag da, an dem das Ergebnis der Untersuchung vorliegen sollte. Maria und Richard saßen im Sprechzimmer des Arztes. Sie hielten sich an den Händen und sahen Toni Wiesinger erwartungsvoll an.

»Also, Frau Devei, ich hab’ jetzt alle Ergebnisse zusammen«, begann Dr.Wiesinger. »Und ich freu’ mich, Ihnen sagen zu können, daß Sie absolut gesund sind.«

»Ja, aber…«

»Toni hob die Hände.

»Kein aber, Frau Devei«, sagte er. »Das einzige, was Ihnen fehlte, waren Ruhe und Erholung. Aber beides bekommen S’ ja im Moment. In einigen Wochen werden S’ wieder vor Ihrem Publikum stehen.«

Richard Anzinger strahlte ob dieser Eröffnung über das ganze Gesicht. Nicht so Maria Devei.

»Aber Professor Bernhard, der mich untersucht hat – er kann sich doch net so geirrt haben«, wandte sie ein.

Dr. Wiesinger runzelte die Stirn.

»Ich muß zugeben, daß dieser Umstand mich irritiert«, gestand er. »Ich hab’ schon versucht, mit dem Professor zu sprechen. Leider ist er zur Zeit in den Vereinigten Staaten, und nimmt dort an einem Kongreß teil. Ich werd’, sobald er zurück ist, mit ihm Kontakt aufnehmen. Bis dahin machen S’ sich bitte keine Sorgen. Es ist, wie ich sag’, Sie sind gesund.«

Maria und Richard sahen sich an.

»Ist das nicht wunderbar?« flüsterte der Kaufmann.

Die Sängerin schluckte, sie konnte es immer noch nicht glauben.

»Maria, du bist gesund«, sagte Richard Anzinger eindringlich und schüttelte sie sanft, als müsse er sie aus einem Traum erwecken.

Toni Wiesinger war aufgestanden. Er ging zu dem Paar und legte der Frau seine Hand auf die Schulter.

»Liebe Frau Devei«, sagte er. »Seien Sie versichert, daß es so ist, wie ich es sage. An der Diagnose ist net zu rütteln, und wäre es anders – glauben S’ mir – ich würd’s Ihnen sagen.«

Die junge Frau hob beide Hände und schaute vom Arzt zu Ri­chard Anzinger und wieder zurück.

»Dann muß ich’s wohl glauben«, sagte sie leise.

»So ist recht«, meinte der Arzt. »Am besten machen S’ sich ein paar schöne Tag’. Gehen Sie spazieren, lesen S’, faulenzen S’, was immer Sie möchten. In ein paar Tagen ist der Professor zurück. Wenn ich dann mit ihm gesprochen habe, sehen wir uns hier wieder.«

*

Sebastian Trenker schickte ein Dankesgebet zum Himmel, als er die gute Nachricht bekam. Der Pfarrer saß beim Toni Wiesinger in der Praxis, als die Sprechstunde schon zu Ende war.

»Ich hatte es gehofft, daß die Maria sich irrt«, sagte der Geistliche. »Bestimmt wollte sie es gar net glauben.«

Dr. Wiesinger bestätigte Sebastians Vermutung.

»Nachdem ich die Werte aus dem Labor hatte, war ich mir ganz sicher, daß der Frau Devei nichts fehlt. Ich weiß net, woraus sie auf ihre angebliche Krankheit geschlossen hat, aber das wird das Gespräch mit Professor Bernhard klären.«

Der Arzt sah den Pfarrer an, der trotz der positiven Entwicklung, einen nachdenklichen Eindruck machte. Man sah, daß er noch etwas auf dem Herzen hatte.

»Gibt’s noch etwas, daß Sie beschäftigt?«

Sebastian nickte. Er berichtete, was er im Waldecker Altenheim erlebt hatte. Toni Wiesingers Miene wurde immer ungläubiger, je mehr er davon hörte. Schließlich zog der Pfarrer das Gutachten hervor und reichte es dem Arzt.

Dr. Wiesinger las und schüttelte zwischendurch immer wieder den Kopf. Er ließ die Papiere sinken.

»Das ist ja ein tolldreistes Ding!« meinte er. »Einfach unglaublich.«

»Wie sehen Sie die Angelegenheit?« fragte Sebastian Trenker. »Meinen S’, daß man da noch ’was machen könnt?«

Toni lehnte sich in seinen Sessel zurück.

»Ich kenn’ einen Arzt in der Kreisstadt, der ist net nur Spezialist für die Krankheiten der Leute, darüber hinaus ist er als Gutachter bei Gericht zugelassen. Ich denk’, ich werd’ den Kollegen mal anrufen. Bestimmt wird er sich für den Fall interessieren. Wo steckt der Valentin denn jetzt?«

Pfarrer Trenker berichtete, daß der alte Hofthaler sich in seiner Sägemühle eingeschlossen habe. Der Geistliche hatte ihn zuvor dort abgesetzt. Valentin hatte darauf bestanden, zur Mühle zu fahren, schließlich war sie sein Zuhause.

Dort angekommen, hatte der Alte alles verriegelt und verrammelt.

»Der läßt keinen hinein!« sagte Sebastian. »Und seinen Neffen schon gar net.«

»Und genau der macht mir ein bissel Sorge«, meinte Toni Wiesinger. »Der Berthold Siebler ist Vormund vom Valentin, und wie die Frau Burgsmüller ganz richtig gesagt hat, kann der Vormund dar­über bestimmen, wo sein Mündel sich aufhält.«

Der Geistliche strich sich nachdenklich über das Kinn.

»Vielleicht haben wir da ein bissel Glück«, sagte er hoffnungsvoll. »Frau Burgsmüller schimpfte über den Siebler, weil er sich net mehr um Valentin gekümmert hat, seit er ihn ins Heim brachte. Ich könn’ mir vorstellen, daß der Bursche erstmal genug damit zu tun hat, das Geld auszugeben, das er von diesem Herrn Hövermann bekommen hat. Vorläufig wird er sich net im Heim nach dem Befinden seines Onkels erkundigen.«

»Das mag sein«, nickte der Arzt. »Trotzdem müssen wir schnell handeln. Gleich morgen, in der Früh’, werd’ ich den Kollegen Marner anrufen — oder nein, besser noch, ich fahr’ zu ihm hin. Lassen S’ mir das Gutachten hier.«

»Natürlich«, erwiderte Sebastian. »Und ich werd’ mich um einen Rechtsanwalt für den Valentin kümmern, der die ganze Sache in die Hand nimmt.«

»Was passiert denn, wenn der Hövermann die Baugenehmigung bekommt, und die Handwerker anrücken, bevor in der Sache etwas entschieden ist?« meinte Toni Wiesinger plötzlich. »Rein rechtlich ist Valentin net mehr Besitzer der Sägemühle.«

»Aber die Umstände, unter denen es zum Verkauf gekommen ist, die sind sittenwidrig«, sagte der Geistliche erbost.

»Aber, Sie haben natürlich recht. Gegen einen Trupp Bauleute wird der Valentin nichts ausrichten können. Und wer weiß, ob der Hövermann net noch andere Geschütze auffährt. Am besten wär’s, wenn er keine Baugenehmigung bekäme.«

Er erhob sich.

»Ich werd’ gleich mal dem Bruckner-Markus einen Besuch machen. Gottlob ist unser Bürgermeister net ganz mit Blindheit geschlagen, auch wenn man manchmal den Eindruck haben könnt’…«

*

Maria Devei und Richard Anzinger saßen in der kleinen Weinstube des Hotels. Hier war der Rahmen intimer, es war nicht so viel Trubel, wie im großen Restaurant, und es hätte der erste, unbeschwerte Abend seit langem werden können.

Der Münchner Kaufmann hatte allerdings das Gefühl, daß Maria immer noch nicht glaubte, was der Arzt ihr am Nachmittag mitgeteilt hatte. Nach dem Besuch in der Praxis des Dr.Wiesingers, hatte sie sich vor dem Hotel von Richard verabschiedet. Sie müsse sich hinlegen und ausruhen, obwohl sie zuvor verabredet hatten, bis zum Abendessen einen Spaziergang zur Hütte hinauf zu machen. Dabei wirkte die Sängerin keineswegs erschöpft. Lediglich ihre Gedanken schienen immer wieder abzuschweifen. Sie hörte kaum zu, wenn Richard sie ansprach, und ihr Blick schien in die weite Ferne zu schweifen.

Das war auch der Grund, warum der Kaufmann die Tische in der Weinstube reserviert hatte. Schon, als er sie von ihrem Zimmer abholte, hatte er den Eindruck, daß sich ihr Zustand nicht geändert hatte. Maria wirkte fahrig, zerstreut und schenkte dem Mann an ihrer Seite kaum Aufmerksamkeit. Selbst das Essen, ein wirklich schmackhaftes Fischgericht, verschmähte sie. Nach zwei, drei Bissen, schob sie den Teller beiseite und starrte vor sich hin.

Richard legte sanft seine Hand auf ihren Arm.

»Liebes, was ist mit dir?« fragte er sacht.

Maria Devei atmete schwer. Dabei schaute sie ihn aus seltsam müden Augen an. Müde, obwohl sie geruht hatte. Der Mann fühlte, daß er sich weiterhin Sorgen um sie machen mußte. Marias Ängste waren immer noch da.

In der Weinstube standen fünf Tische, von denen nur noch zwei weitere besetzt waren. Es saßen jeweils zwei Personen dort, die sich nicht darum kümmerten, was an den anderen Tischen geredet wurde. So fiel nicht auf, daß Ri­chard Anzinger verzweifelt auf die Sängerin einredete.

»Maria, bitte, sag’ was los ist?« fragte er. »Kannst du denn net glauben, was der Doktor gesagt hat?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Ich möcht’ ja gern«, sagte sie leise. »Aber ich kann mich net so geirrt haben. Ich weiß doch, was ich gehört hab’. Das kann doch niemand bestreiten!«

Die junge Serviererin kam und fragte, ob sie abräumen dürfe. Richard nickte.

»Hat’s der gnädigen Frau net geschmeckt?« erkundigte sich das Madel.

»O doch. Es war sehr gut«, versicherte der Kaufmann. »Frau Devei fühlt sich net ganz wohl. Sagen S’ der Frau Reisinger, daß der Fisch ganz ausgezeichnet war.«

Maria erhob sich.

»Bitte, bring mich nach oben«, bat sie. »Ich bin müd’.«

Richard erfüllte ihr den Wunsch, so schwer er ihm auch fiel. Wie gerne wäre er noch mit ihr zusammen geblieben. Hoffentlich kommt der Professor bald wieder zurück, betete er inständig, als er sich von der geliebten Frau verabschiedete.

*

Pfarrer Trenker saß nachdenklich in seinem Arbeitszimmer. Der Besuch beim Bürgermeister war so verlaufen, wie er erhofft hatte. Der Bruckner-Markus hatte ein Einsehen gezeigt, nachdem Sebastian ihm die Sachlage schilderte.

»Das soll man gar net glauben, wozu die Leut’ fähig sind, wenn’s um’s liebe Geld geht«, sagte er kopfschüttelnd. »Natürlich werd’ ich dem Herrn Hövermann einen abschlägigen Bescheid erteilen.«

Sebastian wiegte nachdenklich den Kopf.

»Vielleicht net so schnell«, meinte er.

Der Bürgermeister schaute ein wenig verständnislos.

»Wie meinen S’ das, Hochwürden, net so schnell?«

»Ich mein’, wenn der Bauantrag abgelehnt wird, was wird der Herr Hövermann dann machen? Er wird sich an Berthold Siebler wenden, um zu erfahren, was dahinter steckt. Sie werden ihm ja mitteilen müssen, daß er net der rechtmäßige Besitzer der Sägemühle ist. Und g’rad das möcht’ ich verhindern. Vorläufig zumindest. Ich denk’, es reicht, wenn der gute Mann erst seinen Bescheid bekommt, wenn Valentin wieder über sich selbst bestimmen kann.«

Bruckner grinste.

»Ah, ich versteh’, Herr Pfarrer. Werd’ ich den Herrn also noch ein bissel vertrösten. Allerdings – all zu lang kann ich’s auch net hinausschieben. Sonst wird er mißtrauisch.«

»Schon morgen geh’n wir die Sache an«, erklärte der Geistliche. »Dr. Wiesinger kümmert sich um das Gutachten, und ich werd’ einen Rechtsanwalt beauftragen, bei Gericht eine vorläufige Aufhebung des Beschlusses zu erwirken.

Wenn alles glattläuft, dann ist die Angelegenheit in ein paar Wochen ausgestanden.«

Beim Abendessen, an dem, wie immer, auch Max teilnahm, war die Geschichte um Valentin Hof­thaler natürlich Thema des Tischgespräches.

»Angezeigt gehört der Bursche«, schäumte der Gendarm. »Hoffentlich hat der Valentin kein Mitleid mit seinem sauberen Neffen. Einsperren müßt’ man den!«

»Wer weiß?« meinte sein Bruder. »Er hat ja keine anderen Verwandten mehr. Bestimmt tut der Berthold ihm auch ein wenig leid.«

»Also, wenn’s der Valentin net macht, ich tu’ es bestimmt«, erklärte der Max. »Dazu bin ich verpflichtet, wenn ich Kenntnis von einer Straftat erhalte. Und was der Siebler da gemacht hat, ist Betrug, Freiheitsberaubung, und was weiß ich noch alles!«

Pfarrer Trenker nickte. Natürlich hatte sein Bruder recht. Als Polizeibeamter war er gezwungen, so zu handeln.

»Mach’ deine Anzeige bloß net zu früh«, mahnte er. »Warten wir erstmal ab, was bei diesem Dr. Marner herauskommt. Wenn dessen Gutachten besser ist – wovon ich eigentlich ausgehe – dann haben wir gute Chancen vor Gericht. Das hat zumindest der Rechtsanwalt gesagt, mit dem ich vor dem Abendessen telefoniert habe. Morgen früh’ treffe ich ihn, anschließend fahre ich zur Sägemühle.«

Max hatte sich mit dem Versprechen verabschiedet, noch zu warten, bevor er weitere Schritte unternahm. Sophie Tappert hatte das allabendliche Teekännchen hereingebracht, und sich dann zur Ruhe begeben. Pfarrer Trenker blieb noch eine gute Stunde sitzen, bis er sein Schlafzimmer aufsuchte. Dann lag der Geistliche noch lange wach. Seine Gedanken kamen einfach nicht zur Ruhe. Und immer wieder tauchte das Bild der Sängerin vor seinem geistigen Auge auf. So, wie Toni Wiesinger es ihm geschildert hatte, mochte Maria Devei dem Arzt nicht so recht glauben. Sebastian hatte das unbestimmte Gefühl, daß in dieser Angelegenheit sich doch noch nicht alles so harmonisch aufgeklärt hatte, wie es zuerst den Anschein hatte. Es dauerte jedenfalls sehr lange, bis sich bei dem Geistlichen der Schlaf endlich einstellen wollte.

*

Valentin Hofthaler sah miß­trauisch durch die Scheibe in der Tür. Es hatte eben geklopft. Der Alte atmete erleichtert auf, als er Pfarrer Trenker erkannte.

»Pfüat dich, Valentin«, begrüßte er den Hofthaler, nachdem er ihn hereingelassen hatte.

Der ehemalige Sägemüller hatte sich eingeschlossen und niemanden, außer den Geistlichen und Dr.Wiesinger, hereingelassen. Die beiden hatten abwechselnd nach ihm geschaut, sich über seinen Zustand informiert und ihn mit Lebensmitteln versorgt. Seit drei Tagen war er wieder daheim, und wenn es nach ihm ginge, würde er nie wieder einen Fuß über die Schwelle eines Altenheimes setzen.

»Grüß Gott, Hochwürden«, sagte Valentin. »Gibt’s was Neues?«

Der Geistliche wedelte mit einem Briefumschlag.

»Der ist heut’ morgen mit der Post gekommen«, sagte er. »Vom Gericht in der Kreisstadt. Nächste Woche ist Termin.«

Valentin Hofthaler schluckte.

»KeineBange«, munterte Sebastian ihn auf, »Dr. Wiesinger und ich kommen natürlich mit.«

Der Pfarrer berichtete, was er und der Arzt inzwischen alles in die Wege geleitet hatten.

Zunächst hatten sie durch den Rechtsanwalt eine Aussetzung des Entmündigungsbeschlusses beim Gericht erwirkt, und einen neuen Termin anberaumen lassen. Dabei hatte er ziemlichen Druck gemacht, damit dieser Termin schnell anberaumt wird. Gleichzeitig hatten sie gegen den Gutachter Anzeige erstattet. Nun sollte Valentin noch einmal untersucht werden.

»Der Doktor hat gesagt, daß der Kollege, der dich untersucht, ein wirklicher Fachmann ist«, beruhigte Sebastian den Alten. »Er ist als Gutachter bei Gericht zugelassen. Dieser Dr. Marner konnte es kaum glauben, als Toni Wiesinger ihm erzählte, unter welchen Umständen du in diesem Heim gelandet bist. Ich denk’, wir können die ganze Sache wieder rückgängig machen.«

Valentin wischte sich eine Träne aus dem Auge. Er war sichtlich gerührt.

»Ich weiß gar net, wie ich das wiedergutmachen soll, Hochwürden.«

»Indem du dafür sorgst, daß wir hier in St. Johann keine Diskothek bekommen«, lachte Pfarrer Trenker.

*

Der Termin war schneller heran, als Valentin Hofthaler es sich gewünscht hatte. Trotz der seelischen Unterstützung durch den Pfarrer und den Arzt, fühlte er sich ziemlich mulmig. Aber, es ging besser, als gedacht. Dr. Marner bescheinigte ihm, trotz seines relativ hohen Alters, geistig und körperlich gesund zu sein. Durchaus in der Lage, für sich selbst zu sorgen und Geschäfte zu tätigen. Der Arzt war erstaunt über Valentins Gedächtnis, und darüber, zu welchen körperlichen Anstrengungen er in der Lage war.

»So sind wir eben in den Bergen«, schmunzelte Valentin. »Alpenmilch, ab und zu ein Enzian, halten jeden fit.«

»Dann werde ich schnellstens mit solch einer Kur beginnen«, stimmte Dr. Marner in das Lachen ein und verabschiedete den alten Mann und seine Begleiter.

Mit Hilfe seines Gutachtens würde Valentin Hofthaler rehabilitiert werden können. Dr. Marner selber wollte beim Termin vor dem Gericht zugegen sein.

»Was wirst du jetzt gegen Berthold unternehmen?« fragte Sebastian Trenker auf der Heimfahrt.

»Ach, dieser Bengel«, schimpfte Valentin. »Am liebsten tät ich ihn übers Knie legen. Ich weiß bloß net, wo er steckt.«

»Auf jeden Fall wird Max die Sache der Staatsanwaltschaft übergeben«

»Sei froh, wenn du net wieder von ihm hörst«, meinte Toni Wiesinger.

Valentin nickte. Aber insgeheim gab er die Hoffnung nicht auf, daß der einzige Sohn seiner verstorbenen Schwester eines Tages doch noch auf den rechten Pfad kommen würde.

*

»Grüß Gott, Frau Erbling«, begrüßte Toni Wiesinger die gefürchtete Klatschbase von St. Johann. »Was kann ich für Sie tun?«

Maria Erbling setzte sich auf den Stuhl vor Tonis Tisch und schaute den Arzt durch ihre randlose Brille an. Wie stets, war sie auch heute ganz in schwarz gekleidet.

»Die Frage, ob ich etwas für Sie tun könnt«, gab sie zurück.

Der Arzt sah sie erstaunt an.

»Wie soll ich das verstehen?«

Maria Erbling lehnte sich zurück und schnaufte hörbar.

»Also, es ist ja kein Geheimnis, daß die Frau Devei todsterbenskrank ist«, begann sie. »Genau so hat’s bei meinem verstorbenen Mann – Gott hab’ ihn selig – auch angefangen.«

»Was Sie net sagen. Wie denn?«

»Was?«

»Wie hat’s bei Ihrem Mann angefangen?«

»Naja, eben, wie bei der Sängerin. Was hat sie nun davon, daß sie so berühmt ist? Die Gesundheit ist hin.«

Toni Wiesinger schaute geduldig auf eine Krankenakte, dann sah er wieder die Witwe an.

»Sie wollten mir erzählen, was Sie für mich tun können«, erinnerte der Arzt die Frau.

»Ich könnt’ für Sie ein gutes Wort einlegen«, antwortete sie mit einem gewissen Triumph in der Stimme.

Toni hustete plötzlich, als habe er sich verschluckt.

»Bei wem denn, bitt’schön?«

Die Witwe schaute ihn an und schüttelte den Kopf, als wäre es sonnenklar, wovon sie sprach, und nur der Arzt habe keine Ahnung.

»Beim Brandhuber natürlich. Der hat seine Diagnose schon gestellt.«

»So. War die Frau Devei denn bei ihm in der ›Sprechstunde‹?«

»Das braucht’s net. Der Alois hat die Dame von weitem gesehen und gewußt, was mit ihr los ist. Wenn S’ mir sagen täten, was Sie herausgefunden haben, könnt’ ich’s dem Alois mitteilen, und der hätt’ dann schon das rechte Mittel.«

Toni Wiesinger schaute sie einen Moment lang an.

»Bitt’schön, Frau Erbling, sein S’ net bös’, aber ich hab’ wirklich keine Zeit für solche Dummheiten. Und im übrigen spreche ich mit niemandem über meine Patienten, außer, es handelt sich um einen Kollegen, und als solchen möcht’ ich den Herrn Brandhuber wirklich net bezeichnen.«

Er schaute auf seine Uhr.

»Gibt’s noch etwas, was Sie mir sagen wollten?« erkundigte er sich.

Maria Erbling sah ihn mit blitzenden Augen an.

»Soll das heißen, daß Sie mich hinauswerfen?«

»Natürlich net, Frau Erbling, ich werfe niemanden hinaus. Allerdings ist meine Zeit begrenzt. Sie haben ja gesehen, daß noch ein paar Patienten im Wartezimmer sitzen. Sie werden verstehen, daß ich jetzt keine Zeit habe, mich über Dinge zu unterhalten, die nicht medizinischer Natur sind, und was die Frau Devei angeht – vielleicht fragen S’ sie selbst nach ihrem Befinden.«

Maria Erbling antwortete nicht. Sie erhob sich mit einer schnippischen Bewegung und ging hinaus. Toni Wiesinger schaute ihr kopfschüttelnd hinterher. Ihm war natürlich klar, daß das Gerede über den Brandhuber-Loisl nur vorgeschoben war, um so etwas über den Gesundheitszustand der Sängerin zu erfahren. Es war ja nicht das erste Mal, daß diese Klatschtante in der Praxis auftauchte, ohne wirklich Beschwerden zu haben.

Dr. Wiesinger drückte seufzend den Knopf der Sprechanlage und bat darum, den nächsten Patienten herein zu schicken.

*

Der Arzt hatte gerade seine Sprechstunde beendet, als das Telefon klingelte. Toni nahm den Hörer ab.

»Dr. Wiesinger?« fragte der Anrufer. »Sind Sie Dr. Toni Wiesinger?«

Die Stimme des Mannes klang ungläubig. Toni erkannte sie sofort.

»Ja, Professor Bernhard«, lachte er. »Schön, daß Sie sich melden. Ich hab’ schon auf Ihren Rückruf gewartet.«

»Was machen Sie denn in diesem… wie heißt das? Sankt Johann? Wo ist das denn überhaupt?«

»Richtig, Herr Professor, Sankt Johann. Das ist ein kleines Dorf in den bayerischen Alpen.«

»Ich dachte, ich höre nicht richtig, als mir meine Sekretärin von Ihrem Anruf berichtete. Aber es muß ja wohl stimmen. Was, um alles in der Welt, machen Sie denn dort?«

Toni erzählte von seiner Praxis, der schönen Umgebung, in der er wohnte, und von den Menschen hier. Kurz, von einem Ort, der ihm zur Heimat geworden war. Professor Bernhard staunte nicht schlecht, als er hörte, daß einer seiner besten Schüler es vorgezogen hatte, als einfacher Dorfarzt in den Bergen zu leben, anstatt eine Karriere als Chef eines großen Klinikums anzustreben, wozu Toni nach Meinung seines alten Mentors durchaus das Zeug gehabt hätte.

Schließlich kam Dr. Wiesinger auf den Grund seines früheren Anrufs zu sprechen. Sein Doktorvater fiel aus allen Wolken, als ihm klar wurde, wie tragisch die Angelegenheit war.

»Um Gottes willen, nein, Frau Devei ist kerngesund«, rief er aus. »Ich habe mich schon gewundert, warum sie nicht noch einmal mit mir gesprochen hat. Sie war damals ganz schnell verschwunden, noch bevor ich Gelegenheit dazu hatte. Jetzt ist es mir natürlich klar. Wenn sie wirklich ein Gespräch mit angehört hat, so hat sich das niemals auf sie bezogen. Frau Devei war lediglich psychisch und körperlich erschöpft und brauchte dringend eine Ruhepause. Sagen Sie ihr das, bitte.«

»Das habe ich schon«, erwiderte der Arzt. »So etwas Ähnliches dachte ich mir nämlich, nachdem ich sie untersucht hatte.«

»Also, ich schicke Ihnen gerne meine Untersuchungsergebnisse«, bot der Professor an. »Sie müssen mir nur Ihre genaue Anschrift durchsagen.«

»Sie können mir die Unterlagen auch per Fax schicken«, lachte Toni. »So ganz hinterm Mond leben wir hier nämlich auch nicht.«

Professor Bernhard stimmte in das Lachen ein.

»Nun, es klingt ja auch ganz hübsch, was Sie da über Ihr Sankt Johann erzählt haben. Muß wohl ein kleines Idyll sein.«

»Ist es auch, und wenn Sie einmal Urlaub machen wollen, fernab von der Großstadt mit ihrem Verkehr und der ganzen Hektik, dann sind Sie herzlich eingeladen.«

»Vielen Dank, Toni, vielleicht komme ich wirklich einmal darauf zurück.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile, und der Professor versprach zum Abschied, die Unterlagen sofort herüberzusenden. Schon nach wenigen Minuten hielt der Arzt sie in den Händen und las sie durch. Die Untersuchungsergebnisse aus Frankfurt deckten sich mit seinen eigenen. Maria Devei war absolut gesund. Toni Wiesinger machte sich auf den Weg zum Hotel. Er wollte der Frau so schnell, wie möglich beide Untersuchungsergebnisse vorlegen und damit jeden Zweifel aus der Welt räumen.

*

Er traf Richard Anzinger vor der Tür zum Restaurant. Der Kaufmann war gerade von seinem Zimmer heruntergekommen und auf dem Weg zum Abendessen.

»Dann kommt Frau Devei sicher auch gleich«, vermutete der Arzt.

Richard schüttelte betrübt den Kopf.

»Ich fürchte, es handelt sich um einen Rückfall«, sagte er. »Maria steht dieselben Ängste aus, wie zuvor. Seit Tagen kommt sie net mehr aus ihrem Zimmer heraus.«

Toni Wiesinger schwenkte die Mappe mit den Unterlagen.

»Aber wieso denn?« rief er aus. »Ich habe eben mit dem Professor, in Frankfurt telefoniert. Er hat mir seine Ergebnisse gefaxt, und ich habe sie mit meinen ver­glichen. Frau Devei ist kerngesund. Sie muß es einfach glauben.«

»Kommen Sie!«

Richard Anzinger eilte die Treppe hinauf.

»Maria muß das sofort sehen.«

Vor dem Edelweißzimmer blieben sie stehen. Der Kaufmann klopfte an die Tür. Einmal, zweimal, keine Antwort.

»Maria? Ich bin’s, Richard. Der Doktor ist auch da. Bitte, Maria, mach’ die Tür auf. Die Ergebnisse aus Frankfurt sind da. Du mußt sie unbedingt lesen!«

Hinter der Tür blieb es still. Richard Anzinger drückte die Klinke herunter. Es war zugesperrt.

War Maria nicht auf ihrem Zimmer?

»Merkwürdig«, murmelte der Kaufmann. »Ich hätt’ schwören können, daß…«

»Frau Devei ist net im Haus«, hörten da die beiden Männer die Stimme Sepp Reisingers.

Sie drehten sich um. Der Löwenwirt war vom ersten Stock gekommen und hatte sie vor der Zimmertür stehen sehen.

»Nicht im Hotel?« fragte Ri­chard Anzinger. »Wissen Sie, wohin Frau Devei gegangen ist?«

Sepp schüttelte den Kopf. Ri­chard und der Arzt schauten sich ratlos an.

»Was machen wir denn jetzt?« fragte der Kaufmann verzweifelt. »Ich weiß gar net, wo wir suchen könnten. Zur Alm wird sie doch net hochgegangen sein. Es ist ja schon finster.«

Sepp Reisinger war genauso ratlos.

»Geh’n wir zum Pfarrhaus«, schlug Toni Wiesinger vor. »Vielleicht hat der Pfarrer eine Ahnung…«

Pfarrer Trenker verließ gerade die Kirche, als Richard und der Arzt von der Straße heraufkamen.

»Maria ist fort«, sagte der Kaufmann. »Haben Sie sie gesehen?«

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Der Professor hat seine Ergebnisse gefaxt«, erklärte Toni. »Sie decken sich mit meinen. Das wollt’ ich Frau Devei mitteilen. Als ich ins Hotel kam, war sie net mehr da.«

»Ich hab’ geglaubt, sie wäre auf ihrem Zimmer geblieben«, sagte Richard.

Er schaute sich um. Die Abenddämmerung hatte vollends eingesetzt.

»Es ist doch auch schon dunkel«, fuhr er fort. »Sie wird doch hoffentlich nicht so weit gegangen sein.«

Pfarrer Trenker hatte eine Idee.

»Kommen Sie, Herr Anzinger.«

Der Geistliche deutete in Richtung des Friedhofs.

»Dort ist das Grab ihrer Eltern. Maria war in den letzten Tagen öfter hier. Vielleicht haben wir Glück…«

Auf dem Gottesacker, der im Schatten der hohen Kirchenmauern lag, war es schon richtig dunkel. Daran änderten auch die vereinzelt brennenden ›Ewigen Lichter‹ nichts, die auf den Gräbern standen. Trotzdem erkannte Ri­chard sofort die Gestalt, die in der hinteren Ecke vor einem Grab stand. Er eilte zu ihr. Maria drehte sich überrascht um.

»Eigentlich bin ich dir ein wenig bös«, sagte der Kaufmann. Maria lächelte verlegen.

»Weil ich, ohne ein Wort zu sagen, fortgegangen bin?«

»Das auch. Aber vielmehr, weil du ohne mich hierher gegangen bist«, antwortete er. »Ich möchte an deinem Leben teilhaben, in Freud’ und Leid. Ich möchte wissen, was du denkst und fühlst, und ich will dir deine Ängste nehmen. Ich will für dich da sein, wann immer du mich brauchst.«

Maria schmiegte sich an ihn.

»Du bist ein wunderbarer Mann«, flüsterte sie.

»Und du bist die wunderbarste Frau, die mir je begegnet ist«, sagte Richard Anzinger und zog sie mit sich. »Komm’, Dr. Wiesinger ist da. Er hat mit Professor Bernhard gesprochen, der alles das bestätigt, was schon vermutet wurde. Er hat damals nicht über dich gesprochen. Und ab jetzt gibt es keine trübsinnigen Gedanken mehr.

Das Leben hat dich wieder, und es ist schön!«

Maria blieb stehen, küßte ihn zärtlich und wischte eine kleine Träne aus ihrem Auge fort.

»Das war die letzte«, sagte sie. »Denn das Leben ist schön, wunderschön.«

*

Markus Bruckner hatte ein ungutes Gefühl, als seine Sekretärin ihm mitteilte, daß Otto Hövermann ihn zu sprechen wünsche.

»Halten Sie ihn noch ein bissel hin«, sagte er. »Ich muß erst überlegen, was ich ihm sag’.«

»Ich tu’, was ich kann«, antwortete Katja Hardlacher und ging wieder hinaus.

Markus hörte sie sagen, daß der Herr Bürgermeister telefoniere, und der Besucher sich noch etwas gedulden müsse.

Tja, was sag’ ich dem Herrn bloß, fragte der Bruckner sich und blätterte nervös in einem Berg Akten, die auf seinem Schreibtisch lagen.

Nach fünf Minuten erschien Katja erneut und zog eine Grimasse. Sie deutete mit dem Daumen hinter sich.

»Langsam wird er ungeduldig.«

»Also schön«, seufzte Markus ergeben. »Lassen S’ ihn herein.«

Die junge Frau öffnete die Tür.

»Der Herr Bürgermeister hat jetzt Zeit für Sie.«

Sie trat beiseite und machte Platz für den beleibten Herrn.

»Grüß Gott, Herr Hövermann«, begrüßte Markus den Mann.

Der Besucher war sichtlich erregt.

»Sagen S’ mal, wie lange dauert es denn noch, mit dieser Genehmigung?« fragte er, schwer atmend, als wenn er sehr schlecht Luft bekommen würde.

Markus bot ihm einen Stuhl an.

»Setzen S’ sich doch erstmal. Da redet’s sich leichter.«

Er selber nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Dabei dachte er an das, was Pfarrer Trenker ihm über diesen Herrn, Hofthalers Neffen, und die alte Sägemühle erzählt hatte.

Alt…! Natürlich, das war die Lösung.

»Die Sache ist so«, begann der Bürgermeister von St. Johann. »Ich hab’ Ihren Bauantrag im Gemeinderat vorgelegt, und der Bauausschuß wird in Kürze darüber beraten.«

»Was heißt denn das, in Kürze?« wollte Hövermann wissen. »Seit vierzehn Tagen warte ich nun schon.«

»Die Sägemühle ist ein sehr altes Gebäude«, antwortete Markus Bruckner und beglückwünschte sich, daß ihm das noch rechtzeitig eingefallen war. »Es gibt da ein paar Leute im Ausschuß, die wollen erst einmal überprüfen, ob sie nicht unter Denkmalschutz steht. Ihr Antrag ist eine Nutzungsänderung. Das bedeutet, daß der ursprüngliche Zustand nicht mehr gegeben ist, sind die Umbaumaßnahmen erst einmal durchgeführt.«

Otto Hövermann sah ihn stirnrunzelnd an.

»Was heißt denn das alles, was Sie mir hier erzählen?« fragte er erbost. »Menschenkinders, ich will aus der ollen Bude ein Lokal machen. Das kann doch net so schwierig sein, das zu genehmigen.«

»Doch, leider, Herr Hövermann, wegen dem Denkmalschutz und den damit verbundenen Auflagen.«

Das sah der Herr ein, wenn auch widerwillig.

»Was glauben S’ denn, wie lang’ es noch dauern wird?«

Markus Bruckner wiegte den Kopf hin und her.

»Na, ich will nix versprechen«, meinte er. »Aber so, zwei bis drei Wochen müssen S’ sich noch gedulden.«

Otto Hövermann seufzte noch einmal vernehmlich und stand auf.

»Na, also dann in Gottes Namen«, sagte er und ging zur Tür.

»Der hat bestimmt ein Aug’ d’rauf«, meinte der Bürgermeister.

Sein Besucher sah ihn an, sagte aber nichts dazu.

»Auf Wiederschau’n«, rief Markus ihm hinterher.

Dabei dachte er schmunzelnd an Pfarrer Trenker.

*

Richard Anzinger war aufgeregt, wie ein Kind am Weihnachtsabend. Vier lange Wochen hatten er und Maria sich nicht gesehen. Nach ihrer Genesung hatte die Sängerin ihre Tournee wieder aufgenommen. Zwar hatte man einige Abstriche machen müssen – so wurden die Auftritte in Übersee gestrichen – dennoch führte die Konzertreise in etliche Städte Süd- und Osteuropas. Und überall konnte Maria Devei glänzende Erfolge feiern. Die Fans lagen ihr zu Füßen, und die Kritik überschlug sich mit begeistertem Lob.

Heute, endlich, würde sie wieder in München ankommen, und das war auch der Grund, für Ri­chards Aufregung. Schon Stunden vor ihrer Ankunft, war er auf dem Flughafen, wo die Maschine gegen Mittag landen sollte. Als es dann endlich soweit war, stand der Kaufmann ungeduldig an der Sperre. Er sah sie schon von weitem und winkte ihr zu. Maria erkannte ihn und winkte lachend zurück.

Welch eine wunderschöne Frau, mußt Richard denken. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung im Zug und war seinem Freund, Wewe, unendlich dankbar, für dessen Hilfe. Ohne sie, wäre er heute nicht hier.

Endlich waren die Formalitäten erledigt. Richard überreichte ihr einen Strauß wunderschöner roter Rosen und schloß Maria in seine Arme.

»Endlich!« flüsterte er ihr ins Ohr.

Die Sängerin drückte sich an ihn.

»Ich konnte es auch nicht mehr erwarten«, gestand sie und erwiderte seinen Kuß.

Sie hatten jeden Abend, vor und nach Marias Auftritten, lange telefoniert und sich ihre Liebe versichert. Doch das war kein Ersatz, für das glückliche Gefühl, den anderen in den Armen zu halten.

»Komm«, sagte Richard, »laß uns schnell dein Gepäck holen, und dann geht’s los.«

Kurze Zeit später saßen sie in Richards Wagen.

»Wohin fahren wir?« fragte Maria. »Du sagtest gestern am Telefon nur, du hättest eine Überraschung für mich.«

»Stimmt«, antwortete er und lachte dabei, wie ein Lausbub. »Aber davon wird noch nichts verraten. Nur soviel – wir fahren dorthin, wo unser Glück begann.«

»Nach Sankt Johann? Wie schön«, freute Maria sich. »Es kommt mir beinahe wie eine Ewigkeit vor, daß ich dort gewesen bin. Die Tournee hat viel zu lang’ gedauert.«

»Du hast dich hoffentlich net überanstrengt?« fragte Richard besorgt.

Sie lächelte. Diese Frage hatte er ihr jedesmal gestellt, wenn sie telefonierten.

»Nein, keine Sorge«, erwiderte sie. »Ich fühle mich wunderbar.«

Sie sah ihn an.

»Mit solch einem Mann an meiner Seite, muß es mir doch gutgehen«, setzte sie hinzu.

*

Im Hotel ›Zum Löwen‹ bezogen sie dieselben Zimmer, wie zuvor. Richard hatte ausdrücklich darum gebeten, als er bei Sepp Reisinger reservierte. Und dann wurde Marias Geduld auf eine harte Probe gestellt.

Sie hatten nach ihrer Ankunft in St. Johann eben eine Kleinigkeit gegessen, als Richard sich schon wieder verabschiedete.

»Wohin willst du denn?« fragte die Sängerin erstaunt.

Der Kaufmann machte ein geheimnisvolles Gesicht.

»Das wird net verraten«, antwortete er und lachte dabei spitzbübisch. »Vorerst jedenfalls net.«

Maria hob hilfos die Arme.

»Und die Überraschung…?«

Er gab ihr einen zärtlichen Kuß.

»Geduld, mein Herz. Nur Geduld!«

Sprach’s und war zur Tür hinaus.

Kopfschüttelnd blieb Maria Devei im Restaurant sitzen. Sie lächelte, denn böse sein, konnte sie ihm nicht.

»Grüß Gott, Maria«, sagte Pfarrer Trenker im selben Moment.

Die Sängerin war so in Gedanken versunken gewesen, daß sie gar nicht bemerkt hatte, daß der Geistliche das Lokal betreten hatte. Sie entschuldigte sich.

»Das ist net nötig«, winkte Sebastian Trenker ab. »Ihrem Lächeln nach, muß es etwas sehr Schönes gewesen sein, an das Sie g’rad gedacht haben.

Maria nickte und lud ihn ein, sich zu setzen.

»Schön, daß Sie so bald wieder hergekommen sind«, begann der Seelsorger das Gespräch. »Ist der Herr Anzinger auch hier?«

»Ja, Hochwürden, das ist ja der Grund, warum ich so glücklich bin. Wir haben es beide einrichten können, ein paar Tag’ herzukommen.«

Sie erzählte von der Tournee, den fremden Städten und ihren Menschen, die sie so begeistert gefeiert hatten. Und von den abendlichen Telefonaten, die ihr immer wieder neue Kraft gegeben hatten.

»Ich freu’ mich für euch und bin sehr glücklich, daß alles so ein gutes Ende gefunden hat.«

»Ohne Sie wäre vielleicht alles anders gekommen«, erwiderte Maria. »Wenn sie mir net so zugesetzt hätten, mich noch einmal von Dr. Wiesinger untersuchen zu lassen…«

»Na, ich glaub’, dein Verlobter hat da net weniger Anteil. Aber sag’ mal, wann soll denn eure Hochzeit sein?«

»Richard und ich sind uns einig, daß wir im Herbst heiraten wollen.«

»Ich hoffe doch, hier bei uns?«

Maria nickte.

»Freilich. Das ist ja auch der Grund, für den späten Termin. Wir wollen abwarten, bis die Touristen weg sind, und ein wenig Ruhe eingekehrt ist.«

»Natürlich, das versteh’ ich.«

Der Geistliche sah sich um.

»Wo ist der Herr Anzinger denn?« fragte er. »Ich hätt’ ihn gerne begrüßt.«

Maria hob die Schulter.

»Ich weiß net«, antwortete sie. »Kurz, bevor Sie hereingekommen sind, stand er auf und ging. Er tat sehr geheimnisvoll und sprach von einer Überraschung.«

»Na, dann dürfen wir ja gespannt sein.«

Pfarrer Trenker ahnte, welche Überraschung Richard Anzinger sich ausgedacht hatte, hütete sich aber, auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlauten zu lassen. Er war vor einigen Tagen zur Spitzer-Alm hinaufgewandert und hatte gesehen, welche rasanten Veränderungen es mit der baufälligen Hütte dort oben gegeben hatte.

Sebastian verabschiedete sich von der Sängerin.

»Grüßen S’ mir den Herrn Anzinger. Und laßt’s euch mal drüben in der Kirche sehen.«

»Ganz bestimmt«, versprach Maria. »Wir müssen ja noch den Hochzeitstermin mit Ihnen absprechen.«

*

Richard Anzinger war in seinen Wagen gestiegen und heimlich zur Spitzer-Alm hinaufgefahren. Dazu benutzte er den alten Wirtschaftsweg, der schon seit Jahren nicht mehr so viele Autos gesehen hatte, wie in den letzten Wochen.

Als der Kaufmann bei der Hütte ankam, staunte er nicht schlecht. Alles war so instand gesetzt worden, wie er es mit dem Bauunternehmer, aus St. Johann, abgesprochen hatte. Franz Gruber kam eben um die Ecke, als Ri­chard ausstieg.

»Grüß Gott, Herr Anzinger«, begrüßte er seinen Auftraggeber. »Sie kommen sicher, um zu sehen, wie weit wir sind.«

Die Männer schüttelten sich die Hände.

»Das sieht ja schon großartig aus«, sagte Richard anerkennend. »Es wird doch rechtzeitig fertig?«

Der Bauunternehmer nickte.

»Da können S’ sich darauf verlassen«, versicherte er. »Kommen S’, wir sind gerad’ dabei, die Rückseite fertig zu machen. «

Die Männer gingen durch den Garten. Dort hatten die Arbeiter der Firma Gruber die alten Stallgebäude hergerichtet und wieder instandgesetzt, was der Zahn der Zeit abgenagt hatte.

»Es war net so einfach«, meinte Franz Gruber. »Aber eine reizvolle Aufgabe. Es geschieht viel zu selten, daß wir ein altes Gebäude renovieren lassen. Das ist natürlich auch für meine Lehrbuben interessant.«

Richard Anzinger war, mit dem, was er sah, zufrieden. In der Hütte war alles in den usprünglichen Zustand versetzt worden. Die vier Zimmer hatten neue Wände und Türen erhalten, und am nächsten Tag sollten die Fenster eingebaut werden.

Der Kaufmann rieb sich in freudiger Erwartung die Hände. Himmel, was würde Maria für Augen machen!

Aber noch war es nicht soweit.

»Bis zum Wochenend, müssen S’ sich noch gedulden«, meinte der Bauunternehmer. »Aber dann steht Ihrer Einweihungsfeier nichts mehr im Wege.«

»Ich hoff’ nur, daß Frau Devei net schon vorher herkommen will«, argwöhnte Richard und strich sich übers Kinn. »Dann wär’ die ganze Überraschung dahin.«

Er beendete seinen Rundgang durch die Hütte, aus der inzwischen ein ansehnliches Häuschen geworden war. Zusammen mit einem befreundeten Architekten war Richard oft hier oben gewesen, nachdem die Idee, Marias Geburtsstätte renovieren zu lassen, konkrete Formen angenommen hatte. Der Architekt hatte sich alles angesehen und dann ans Zeichenbrett gesetzt. Schon nach kurzer Zeit hatte Richard erste Entwürfe begutachten können. Und je konkreter alles wurde, um so zappeliger war er dabei geworden. Er kam sich wirklich wie ein Bub vor, der sich aufs Christkindl’ freut. Mehr als einmal war er nahe d’ran gewesen, Maria davon zu erzählen, wenn sie telefonierten. Doch jedesmal riß er sich zusammen und schwieg, so schwer es ihm auch fiel.

Der Kaufmann sah auf die Uhr. Er mußte sehen, daß er wieder hinunter kam. Ohnehin würde Maria ihn fragen, wo er gewesen sei.

Er verabschiedete sich von Franz Gruber und fuhr ins Tal hinunter, sehnsüchtig von der geliebten Frau erwartet.

»Wo warst du nur?« begrüßte die Sängerin ihn.

Richard lächelte wieder so geheimnisvoll.

»Das wird net verraten. Noch net.«

»Ach, Richard.«

Maria wußte nicht, ob sie lachen, oder ihm ernsthaft böse sein sollte.

»Manchmal benimmst’ dich wirklich wie ein kleiner Bub«, tadelte sie ihn.

Er rieb sich die Hände.

»Bald, bald, mein Liebes, ist es soweit«, sagte er gutgelaunt. »Und jetzt, liebste Maria, zieh’ dir eine Jacke über. Ich hab’ Lust, einen Spaziergang zu machen.«

»Eine gute Idee«, meinte die Sängerin. »Vielleicht können wir zur Spitzer-Alm hinaufgehen?«

Es war, als durchlaufe ihn ein eisiger Schock. Richard Anzinger wurde blaß, er schluckte.

»Ach, weißt du«, antwortete er ausweichend, »vielleicht laufen wir einfach nur ein bissel durch’s Dorf. Die Fahrt war doch anstrengend, und nach der Tournee und dem Flug solltest du dich am ersten Tag etwas schonen. Meinst’ net auch?«

»Na gut, dann aber morgen«, willige Maria ein.

Richard atmete unmerklich aus. Das war noch einmal gutgegangen. Er mußte sich wirklich etwas einfallen lassen, um Maria von dem Gedanken abzubringen, ihr Geburtshaus besuchen zu wollen.

*

Pfarrer Trenker klopfte an die Tür der Sägemühle. Valentin Hof­thaler öffnete sopfort. Er empfing den Seelsorger mit einem breiten Lächeln.

»Schön, daß Sie herg’kommen sind, Hochwürden«, sagte er.

»Gestern früh hab’ ich das Schreiben vom Gericht zugestellt bekommen. Jetzt ist alles wieder so wie früher.«

»Gratuliere«, freute Sebastian Trenker sich.

Der Pfarrer und Toni Wiesinger hatten den alten Mann zu seinem Gerichtstermin begleitet. Dr. Marner war ebenfalls gekommen, er wurde noch einmal als Gutachter angehört. Nicht zuletzt wegen seiner Aussage, wurde Valentin Hof­thalers Entmündigung rückgängig gemacht, und gegen den Arzt, der in Berthold Sieblers Namen die Einweisung in ein Heim durchgesetzt hat, ein Strafverfahren eingeleitet.

Valentin lud ihn auf einen Schnaps ein.

»Na gut, aber nur einen, weil du’s bist«, nickte der Geistliche.

»Ohne Sie und den Doktor – Himmel, ich mag gar net daran denken…«

»Hast’ denn ’was vom Berthold gehört?« erkundigte der Pfarrer sich.

Valentin schüttelte den Kopf. Der alte Sägemüller machte einen betrübten Eindruck. Natürlich ging ihm das Schicksal seines einzigen Verwandten – mochte er auch noch so ein Schuft sein – ans Herz. Sebastian tröstete den Alten und sprach ihm Mut zu. Mit der Zeit würde alles vergessen sein.

»Ich hab’s ihm ja schon verziehen, dem dummen Buben«, meinte der Hofthaler.

»Recht so«, nickte der Seelsorger. »Wollen wir hoffen, daß der Herr dem Berthold die Einsicht schenkt, daß er so net weitermachen kann.«

Beim Mittagessen erzählte Sebastian von seinem Besuch in der Sägemühle. Max Trenker hatte dazu Neuigkeiten beizusteuern.

»Den Siebler haben’s geschnappt«, erzählte er.

»Wirklich?«

»Ja. Der Bursch’ ist noch einmal in der Wohnung aufgetaucht, in der er zuletzt gewohnt hat. Dabei ist er von den Kollegen festgenommen worden. Jetzt sitzt er in Untersuchungshaft. Und das tollste ist, der Hövermann hat ebenfalls Anzeige gegen Siebler erstattet, wegen Betrugs. Er hat ihm die Mühle verkauft, obwohl er gar net der Eigentümer war.«

»Na, ich weiß net«, meinte Sebastian. »Wenn die beiden man net gemeinsame Sache gemacht haben…«

Max nickte.

»Das vermuten die Kollegen auch. Der Hövermann betreibt mehrere Diskotheken und Gaststätten, und der Siebler hat für ihn gearbeitet. Frag’ mich net was, auf jeden Fall waren es keine sauberen Geschäfte – der Neffe vom alten Hofthaler ist nämlich kein Unbekannter bei der Kripo. Bloß mit der Sägemühle, da will der Hövermann nix mit zu tun gehabt haben. Er habe im guten Glauben gekauft, behauptet er. Es wird schwer sein, ihm das Gegenteil zu beweisen.«

»Na, die Hauptsache ist, daß der Valentin die ganze Aufregung gut überstanden hat«, sagte Pfarrer Trenker. »Und was den Herrn Hövermann angeht – wenn er wirklich was auf’m Kerbholz hat, dann wird er eines Tages schon seine gerechte Strafe erhalten.«

*

Es klingelte an der Haustür, und das Gespräch der beiden Männer wurde unterbrochen, als Sophie Tappert einen Besucher ankündigte. Richard Anzinger betrat hinter ihr die Küche.

»Bleiben S’ nur sitzen«, sagte der Kaufmann während er Sebastian und Max begrüßte. »Ich will auch net lang’ stören.«

Er wandte sich an die Haushälterin.

»Eigentlich gilt mein Besuch ja Ihnen, Frau Tappert.«

Die Perle des Pfarrhaushaltes sah den Mann erstaunt an.

»Mir? Ja, bitt’schön, setzen S’ sich erst einmal.«

Richard nahm Platz und atmete tief durch.

»Also, Sie wissen ja, daß ich das Haus hab’ renovieren lassen, in dem die Maria geboren und aufgewachsen ist. Morgen abend soll nun endlich die Einweihung stattfinden.«

Er machte eine verzweifelte Handbewegung.

»Und nun droht meine schöne Überraschung zu scheitern.«

»Ja, warum denn?« fragte Pfarrer Trenker.

»Ich wollt’ Sie alle einladen, außerdem kommen ein Freund und meine Sekretärin. Aber die Einladung ist net der einzige Grund, warum ich hier bin. Im Hotel haben s’ morgen so viel zu tun, zwei große Feiern, daß die Frau Reisinger net noch Essen außer Haus liefen kann.«

Er sah die drei verzweifelt an.

»Was soll ich denn nur machen? Ich wollt’ Sie, Frau Tappert, fragen, ob Sie net, eventuell…«

Sophies Augen leuchteten auf.

»Sie meinen, ob ich das Essen machen könnt’?«

Sie schaute den Pfarrer an.

»Freilich, wenn Hochwürden nichts dagegen haben…«

»Natürlich net«, schmunzelte Sebastian, der genau wußte, wie sehr seine Haushälterin sich über Richard Anzingers Anfrage freute.

»Mir fällt ein Stein vom Herzen«, bekannte der Kaufmann. »Natürlich werd’ ich die Kosten übernehmen. Aber, was Sie alles einkaufen müssen, wissen S’ natürlich am besten selbst.«

»Da lassen S’ sich mal keine grauen Haare wachsen«, meinte Pfarrer Trenker. »Die Menüplanung ist bei Frau Tappert in den besten Händen.«

»Genau!« bestätigte sein Bruder Max.

»So, nun muß ich mich aber sputen«, sagte Richard. »Maria ist ohnehin schon mißtrauisch, weil ich in den letzten Tagen so oft verschwunden bin. Aber es gibt ja auch soviel zu erledigen. Ich hoff’ nur, daß Maria mir net allzu böse sein wird, wenn ich mich jetzt schon wieder verspäte.«

»Na, spätestens morgen abend wird sie für alles Verständnis haben«, lachte Pfarrer Trenker. »Vielen Dank für die Einladung. Wir freuen uns und kommen natürlich gerne.«

Schmunzelnd schaute er auf Sophie Tappert. Die Haushälterin hatte sich in eine Ecke gesetzt und schrieb schon fleißig auf, was alles einzukaufen war.

*

»Heute abend mußt du dein schönstes Kleid anziehen«, sagte Richard zu Maria, als sie am nächsten Tag beim Mittagessen zusammen saßen.

Die Sängerin sah ihn verwundert an.

»Was ist denn so besonders, heute abend?« erkundigte sie sich.

Der Kaufmann schmunzelte.

»Wart’s ab«, antwortete er nur und widmete sich wieder seinem Essen.

»Nun sag’ schon«, drängte Maria ihn.

Sie konnte mit dem Verhalten des geliebten Mannes überhaupt nichts anfangen. Seit sie hier waren, tat er so geheimnisvoll. Dann schien er offenbar über etwas bekümmert und machte, wenn er sich unbeobachtet glaubte, ein sorgenvolles Gesicht.

Maria befürchtete schon, es könne etwas in seinem Geschäft in München sein, das ihn beunruhigte. Aber das schien es doch nicht zu sein, denn seit zwei Tagen machte er nur Andeutungen und erging sich in Rätseln.

»Richard Anzinger«, sagte die Sängerin eindringlich. »Wenn du mir net sofort sagst, was los ist, dann reise ich auf der Stelle ab.«

Erschrocken ließ er die Gabel fallen.

»Das meinst’ net ernst…«

»O doch! Seit wir hier sind, kenne ich dich net wieder. Und bei der Hütte waren wir auch noch net.«

Richard nahm ihre Hand.

»Da kann ich dich beruhigen. D’roben bei der Hütte ist alles in Ordnung. Ich schlag’ vor, wir ziehen uns nachher um und fahren dann mit dem Wagen hinauf. Am besten noch vor dem Abendessen. Was meinst?«

»Davon red’ ich die ganze Zeit«, antwortete sie und schaute ihn mit einem nicht ganz bös’ gemeinten Blick an.

Richard Anzinger nahm seine Gabel wieder und aß weiter, so, als wäre nichts geschehen.

Hätte Maria geahnt, was sie bei der Hütte erwartete, sie wäre wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen.

Unter der Leitung von Sophie Tappert, waren Ilse Brandner, Max Trenker und Wolfgang Winkler dabei, die Räume mit Lampions und Girlanden zu schmücken. Da noch keine Möbel vorhanden waren, hatte Sepp Reisinger Festzelttische und Bänke zur Verfügung gestellt. Dr. Wiesinger brachte sie mit seinem Wagen auf die Alm.

Und natürlich hatte Pfarrer Trenkers Haushälterin seit dem Vortag gekocht, gegrillt und gebacken, damit die Feier zur Einweihung des Hauses ein voller Erfolg werden konnte.

Richard Anzinger hatte mit den Gästen verabredet, sich mucksmäuschenstill zu verhalten, damit die Überraschung nicht vorher platzte. Jetzt stand er in seinem Zimmer und band sich eine Krawatte um, als es an der Tür klopfte.

»Richard, ich bin soweit«, hörte er Maria rufen und öffnete die Tür.

»Ich auch«, sagte er, während er seine Jacke überzog. »Wir können.«

Draußen war es herrlich mild. Die junge Frau bedauerte, daß sie nicht zu Fuß gingen.

»Na, wer weiß, wie schnell es dunkel wird«, erwiderte Richard und hielt ihr die Tür seines Wagens auf.

»Ist es net herrlich hier?« fragte Maria, während sie langsam auf den alten Wirtschaftsweg zufuhren. »Eigentlich schade, daß man net so viel Zeit hat, um öfter herzukommen.«

»Ja, es ist wirklich wunderschön«, bestätigte der Kaufmann.

»Könntest du dir vorstellen, für immer hier zu wohnen?«

»Net sofort, du weißt ja, die Firma. Aber als kleines Domizil, wo man mal ein langes Wochenende verbringt, oder einen kleinen Urlaub – das kann ich mir gut vorstellen. Später würd’ ich sogar hier wohnen wollen.«

»Ja, vielleicht wäre es gar net so verkehrt, wenn wir uns, hier in der Gegend, rechtzeitig nach einem kleinen Häuschen umsehen«, überlegte die Sängerin.

»Du wärst also auch einverstanden?«

»Hier zu wohnen? Aber ja. Natürlich – es gibt noch viele Verpflichtungen für mich, mein Manager hat Verträge abgeschlossen, an die ich zumindest die nächsten zwei Jahre gebunden bin. Aber dann werd’ ich auf jeden Fall kürzer treten.« Richard drückte ihre Hand.

»Das ist eine wunderbare Perspektive«, sagte er.

*

Er hielt plötzlich an, obwohl es bis zur Hütte noch ein gutes Stück war. Richard zog einen Seidenschal aus der Jackentasche.

»Was soll denn das?« fragte Maria lachend, als er ihr die Augen zuband.

»Das wird meine Überraschung für dich«, sagte er. »Aber du darfst net schummeln.«

Maria ließ ihn gewähren. Natürlich hatte sie sich so ihre Gedanken gemacht, als ihr mehrfacher Vorschlag, die Hütte aufzusuchen, immer wieder von Richard hinausgeschoben wurde. Sie dachte sich, daß es etwas mit der Überraschung zu tun haben müsse, von der er immer wieder in geheimnisvollen Andeutungen sprach. Aber sie wollte ihm den Spaß nicht verderben und hatte sich mit Geduld gewappnet.

Langsam führte er sie den Weg entlang. Maria verließ sich ganz auf ihn. Richard würde aufpassen, daß sie nicht hinfiel.

»Jetzt«, sagte er und nahm ihr die Augenbinde ab.

Maria blinzelte einen Moment, bis ihre Augen sich wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten, dann riß sie den Mund auf.

»Richard!« entfuhr es ihr.

Sie stand vor der Hütte, die unter fachkundigen Händen zu einem Schmuckstück geworden war. Alles hatte sie erwartet – ein romantisches Dinner unter freiem Himmel, vielleicht sogar ein Ständ­chen durch einen Stehgeiger – aber das nicht!

»Das hast du gemacht?« stammelte sie unter Tränen.

»Danke, Liebster, danke!«

Sie küßte ihn innig.

»Komm’, schau es dir von innen an«, sagte Richard Anzinger und führte sie zur Eingangstür.

Von den Gästen war noch nichts zu sehen, erst als sie den großen Raum betraten, die frühere Wohnküche, da schallte ihnen ein lautes ›Herzlich willkommen!‹ entgegen.

Fassungslos starrte Maria auf die Menschen, die an den Festzelttischen saßen und auf sie warteten.

»Willkommen in deinem Haus«, sagte Richard feierlich und drückte sie fest an sich. »Das jetzt unser Haus werden wird. Ich freue mich auf die Jahre, die wir hier zusammen verbringen.«

Maria war sprachlos. Hilflos hob sie die Arme und ließ sie wieder sinken.

»Ich… ich weiß wirklich net, was ich sagen soll.«

Sie schaute die Menschen an, von denen sie zwei noch net kannte.

»Ich freu’ mich jedenfalls, daß ihr alle da seid.«

Richard nahm sie bei der Hand und zog sie an den Tisch.

»Das hier, liebe Maria, ist Ilse Brandner«, sagte er und deutete auf eine Frau mittleren Alters. »Sie ist meine Sekretärin und die gute Seele meiner Firma. Ohne sie wüßt ich net einmal, wo die Portokasse steht.«

Ilse Brandner stand auf und gab Maria die Hand.

»Der Chef übertreibt mal wieder«, sagte sie mit einem Lachen. »Aber ich hör’ ganz gern, daß ich unentbehrlich bin.«

»Und das hier«, zeigte Richard auf einen hochgewachsenen Mann, »das ist Wewe, Wolfgang Winkler, mein bester Freund seit der Schulzeit.«

Er wandte sich Maria zu.

»Ich weiß, du hast bemerkt, daß ich in den letzten Tagen bedrückt war«, sagte er. »Der Bursche da, ist schuld. Ihm haben wir nämlich zu verdanken, daß wir hier heut’ zusammen sind. Wewe hat damals herausgefunden, daß du unterwegs nach Sankt Johann warst. na, und da mußte er natürlich heute abend dabei sein. Um die halbe Welt hab’ ich ihm hinterher telefoniert, und bis vorgestern sah es net so aus, als könne er es möglich machen, darum meine Kummerstirn. Aber nun hat es ja, Gott sei Dank, geklappt.«

Wolfgang machte eine Verbeugung.

»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, gnädige Frau.«

»Gnädige Frau?«

Richard glaubte nicht richtig zu hören.

»Ihr werdet doch wohl hoffentlich du zueinander sagen.«

»Ich bin einverstanden«, nickte Maria und reichte Wolfgang die Hand.

»Nun aber los, das ganze schöne Essen steht hier ’rum. Davon wird’s auch net besser«, rief eine drängelnde Stimme.

Es war niemand anderer, als Max Trenker.

*

Irgendwann später vermißte Richard Anzinger seine Verlobte. In keinem der Räume konnte er sie entdecken. Pfarrer Trenker bemerkte seinen suchenden Blick. Er ging zu ihm.

»Wenn S’ Maria suchen, ich glaub’, sie ist vor ein paar Minuten hinausgegangen.«

Der Kaufmann nickte ihm dankend zu und verließ den Raum. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Über den Bergen stand ein sternenübersäter Himmel.

»Maria?«

»Ich bin hier, Richard«, hörte er die Stimme von der Rückseite des Hauses.

Die Sängerin lehnte an dem Zaun des kleinen Pferches, der natürlich auch wieder instand gesetzt worden war.

»Geht es dir gut?« erkundigte Richard sich.

»Es ist mir nie besser gegangen«, antwortete sie lächelnd. »Ich mußte halt ein bißchen dem Trubel da drinnen entgehen.«

Sie deutete auf das Haus.

»Weißt’, als junges Madel bin ich von hier fortgegangen. Jung, arm und unerfahren. Nie wieder wollt’ ich zurück. Als scheinbar kranke Frau bin ich dann doch zurückgekehrt, und jetzt ist alles so wunderbar. Ich kann mein Glück gar net fassen.«

Richard hatte seinen Arm um sie gelegt.

»Das mußt du aber«, sagte er. »Du mußt es fassen und nie wieder loslassen. Halt es fest, wie ich dich festhalte, ein ganzes Leben lang.«

»Oh, Richard, womit habe ich das verdient?« fragte sie leise und schaute ihm in die Augen.

»Weil jeder einmal d’ran ist, etwas Glück zu haben«, sagte er und küßte sie voller Liebe und Zärtlichkeit.

Und diesmal war ich an der Reihe, dachte Maria und hielt sich an dem geliebten Mann fest.

*

»Grüß’ Gott, Hochwürden«, sagte der Wirthof-Bauer. »Schon so früh unterwegs?«

»Pfüat dich, Anton«, grüßte Sebastian zurück. »Jetzt ist die schönste Tageszeit.«

»Da haben S’ recht«, nickte der Bauer, der ebenfalls schon so früh auf den Beinen war. »Möchten S’ a’ Stückerl mitfahren?«

»Dank’ schön, für dein Angebot«, nickte der Geistliche und schwang sich auf den Nebensitz im Führerhaus des Traktors.

»Wohin soll’s denn gehen?« fragte Anton, der natürlich die Ausrüstung bemerkt hatte, die Sebastian mit sich trug. »Zur Himmelspitz, oder Wintermaid?«

»Wenn’s mich unterm Höllenbruch ’rausläßt, ist’s schon recht«, rief Pfarrer Trenker durch den Motorenlärm. »Heuer will ich die kleine Wand in der Wintermaid aufsteigen.«

Bis zum Höllenbruch unterhielten sich die beiden Männer, so gut es eben ging. Sebastian erkundigte sich nach der Familie und freute sich, zu hören, daß alle wohlauf waren.

»So, da wären wir.«

Anton Wirth hielt den Traktor an, und der Pfarrer sprang herunter.

»Dank’ dir recht schön«, winkte er zum Abschied und ging den Weg entlang, der zum Fuße des Bergmassivs führte.

*

Sebastian Trenker war mit sich und der Welt zufrieden. Hoch oben in der Südwand der Wintermaid hing der Geistliche in einem Seil und zog sich langsam, aber stetig seinem Ziel näher.

Es war endlich wieder einmal an der Zeit gewesen, eine richtige Bergtour zu unternehmen, nicht nur eine Wanderung. In wetterfeste Kleidung gehüllt, den Rucksack auf dem Rücken, und das Seil um den Körper geschlungen, so hatte er sich auf den Weg gemacht. Es war nur eine kleine Tour, die der Geistliche heute machen wollte. Für eine größere Besteigung, die auch schwieriger war, hätte er sich einen zuverlässigen Bergkameraden mitgenommen.

Weit über seinem Kopf schlug er den letzten Haken in die Wand, ließ den Karabiner einschnappen und zog sich das letzte Stück hinauf.

Mit einem lauten Jauchzer begrüßte er den heranbrechenden Tag. Sebastian gönnte sich eine kleine Atempause, dann ließ er sich ein zweites Frühstück schmecken. Dabei überdachte er die Ereignisse der vergangenen Tage und lächelte.

Die Affäre um den alten Hofthaler und seine Mühle war glücklich überstanden, wenngleich es doch erschütternd war, festzustellen, zu welchen Gemeinheiten Menschen fähig waren, wenn es darum ging, einem anderen das Geld aus der Tasche zu ziehen, oder irgendwie zu übervorteilen.

Ganz besonders freute sich Sebastian über Marias Schicksal. Nach ihrem ersten Zusammentreffen auf dem Friedhof, hätte der Geistliche diese glückliche Wendung nicht für möglich gehalten. Um so dankbarer war er, daß er mit dazu hatte beitragen können. Es war ein wunderbares Gefühl, einem Menschen zur Seite zu stehen, ihn vor Fehler zu bewahren und neue Wege aufzuzeigen, die aus einer Sackgasse herausführten.

Wieder einmal wurde Sebastian Trenker bewußt, daß er sich richtig entschieden hatte, als er damals das Theologiestudium begann. Da hatte er noch nicht geahnt, wie schwer diese Aufgabe manchmal sein konnte. Aber er wußte auch nicht, wie schön sie war.

Diese Erfahrung brachte erst seine Zeit als Bergpfarrer mit sich.

Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman

Подняться наверх