Читать книгу Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 20

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Mit einer wütenden Bewegung führte Robert Demant den Pinsel über das Bild. Es gab ein knirschendes Gräusch, als der Druck seiner Hand die Leinwand zerriß. Noch wütender schlug er mit der Faust darauf und verschmierte die Farben, so daß das Motiv, das zuvor ein Stilleben dargestellt hatte, nun aussah, als wäre es das Experiment eines modernen Künstlers. Dabei stieß er einen gequälten Schrei aus.

Der Maler ließ Pinsel und Palette fallen, und stützte seinen Arm an ein Regal, das an der Wand des Ateliers stand. Dort wurden Töpfe und Tuben mit Farben, Pinsel und Lösungsmittel aufbewahrt. Außerdem stand eine halbvolle Ginflasche darin. Robert nahm die Flasche und schaute sie nachdenklich an. Nein, ging es ihm durch den Kopf, sich zu betrinken war keine Lösung.

Sein Blick schweifte durch das Atelier. Es war der größte Raum in der Wohnung, die Robert vor mehr als zehn Jahren im Münchener Stadtteil Schwabing gemietet hatte. Sie befand sich im obersten Stock des Hauses. Für den Arbeitsraum hatte der Kunstmaler ein riesiges Fenster in das Dach einbauen lassen, um genügend Licht hereinzulassen. Überall standen Bilder, Leinwände, Rahmen und Staffeleien herum. Es roch nach Farbe und Terpentin, und es war seiner Zugehfrau strengstens verboten, das Atelier, außer zum Fensterputzen, zu betreten. Robert war der einzige, der sich in diesem Chaos auskannte.

Nun sah er sich um und dachte darüber nach, was mit ihm geschehen war.

Robert Demant galt seit Jahren als der führende malende Künstler. Nur zu gut erinnerte er sich an die Zeit davor. Mit Aufträgen von Banken und Versicherungen, die irgendwelche Bilder für ihre »Paläste« kauften, hielt er sich über Wasser. Aber, das war nicht das, was er eigentlich malen wollte. Seine Bilder sollten etwas mitteilen, eine Botschaft haben, den Menschen etwas Schönes bieten. Er entwickelte sich vom Expressionisten zum Naturalisten, bildete seine Umwelt naturgetreu in ihrer ganzen Schönheit ab. Offenbar traf er damit den Nerv der Zeit, seine Bilder verkauften sich schneller, als er malen konnte, und Robert war ein begehrter Gast auf allen möglichen Festen und Empfängen.

So ging es eine lange Zeit, doch seit Monaten schon spürte der Maler, daß »die Luft raus war«. Er mußte sich regelrecht dazu zwingen, Pinsel und Palette in die Hände zu nehmen, und mit Sorge beobachtete sein Galerist, wie der Künstler offensichtlich in eine Schaffenskrise geriet. Hinzu kam, daß eine große Ausstellung mit Werken von Robert Demant keinen besonderen Anklang fand. Das Publikum hatte sich anderen Stilrichtungen zugewandt, und die Kritiker fanden nur Worte der Häme für den Maler.

Er habe sich nicht weiter entwickelt, hieß es, seine Bilder wirkten auf den Betrachter wie das Spätwerk eines Hobbymalers, und überhaupt sei der Stil, den Robert Demant male, nicht mehr länger gefragt.

All dies führte dazu, daß der Maler sich mehr zurückzog, Einladungen ablehnte und, außer zu seinem Galeristen und der Putzfrau, jeden Kontakt vermied.

Robert wischte sich die Hände an einem alten Lappen ab, dessen ursprüngliche Farbe unter all den Farbtupfen nicht mehr zu erkennen war. Dann verließ er das Atelier und ging hinüber ins Wohnzimmer. Auch hier hingen und standen überall Bilder, Zeichnungen und Skizzen. Robert setzte sich in einen großen, alten Ohrensessel, den er vor Jahren, als er noch nicht so bekannt gewesen war, vom Sperrmüll gerettet hatte. Seither war es sein Lieblingssessel, in den sich außer ihm niemand setzen durfte. Obwohl der Maler inzwischen in der finanziellen Lage gewesen wäre, sich zehn solcher Sessel zu kaufen, mochte er sich doch nicht von dem guten, alten Stück trennen. Es erinnerte ihn immer wieder an die Zeit, als er vor der Frage stand, ob er das wenige Geld, das er hatte, für Farben oder Brot ausgeben sollte. Meistens hatte er sich für die Farben entschieden, denn Robert Demant war ein von seiner Kunst Besessener gewesen, der eher auf Essen verzichten konnte, als auf seine künstlerische Arbeit.

Mein Gott, wie lange war das schon her! Es kam ihm vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.

Robert erinnerte sich an das letzte Gespräch mit Walter Murrer, dem Mann, dem er so viel zu verdanken hatte. Walters Galerie befand sich nahe dem Stachus in bester Lage. Seine Kunden kamen aus dem Adel und der Hochfinanz. Darunter waren etliche, die es als ihre Pflicht ansahen, junge Künstler als deren Mäzen zu unterstützen. Hatte Walter Murrer einmal einen Maler unter seine Fittiche genommen, so hatte dieser gute Chancen, eines Tages von seiner Kunst leben zu können. Das war auch bei Robert der Fall gewesen. Walter, der immer an ihn geglaubt hatte, vermittelte die Bekanntschaft eines reichen Geschäftsmannes, der den jungen Maler förderte. Damit begann sein Aufstieg.

»Du mußt fort aus München«, hatte Walter bei ihrem letzten Treffen gesagt. »Wann war dein letzter Urlaub? Vor beinahe drei Jahren. Also, setz’ dich in deinen Wagen und fahre irgendwohin. Spanne endlich einmal aus, tanke neue Kraft und komm mit neuen Ideen zurück!«

Warum nicht, dachte Robert. Es wäre wirklich einmal an der Zeit, alles hinter sich zu lassen. Etwas anderes zu sehen, andere Menschen kennenzulernen.

Am besten setzte er die Idee sofort in die Tat um, wenn er noch damit wartete – vielleicht überlegte er es sich dann doch wieder…

*

Sophie Tappert summte leise vor sich hin, während sie mit dem Staubsauger durch das Pfarrbüro fuhrwerkte. Wie alles, was sie tat, verrichtete Sophie auch diese Tätigkeit mit äußerster Sorgfalt. Dabei achtete sie darauf, ja nicht den Stapel Papiere durcheinander zu bringen, den Hochwürden auf seinem Schreibtisch liegen hatte. In der Küche simmerte unterdessen eine kräftige Fleischbrühe auf dem Herd. Frau Tappert warf einen Blick auf die Uhr. Gleich zwölf. Es würde nicht mehr lange dauern, und dann kam Max Trenker zum Essen. Eigentlich müßte er schon in der Tür stehen.

Der Bruder des Geistlichen, und Gendarm in St. Johann, war ein gern gesehener Gast im Pfarrhaus, der die Kochkünste der Haushälterin über alles zu schätzen wußte. Er ließ kaum eine Gelegenheit aus, an den Mahlzeiten teilzunehmen.

Nachdem auch das letzte Staubkörnchen im Sauger verschwunden war, schaltete Sophie Tappert das Gerät ab. Im gleichen Augenblick steckte Sebastian Trenker den Kopf durch die Tür.

»Ist mein Bruder noch net da?« fragte er.

Die Haushälterin hob die Schulter.

»Ich weiß auch net, wo er bleibt. Er müßt’ doch schon da sein.«

»Wie weit sind S’ denn mit dem Essen?« erkundigte Sebastian sich.

»Es ist alles soweit fertig. Bloß anrichten müßt’ ich noch.«

»Gut, dann warten wir halt noch fünf Minuten.«

Maximillian Trenker verspätete sich schließlich um eine geschlagene Viertelstunde. Als er endlich in der Pfarrküche am Tisch saß, machte er einen erschöpften Eindruck. Sophie Tappert hatte vorsorglich die Suppe auf kleiner Flamme gelassen, und füllte die Terrine neu.

»Was hat’s denn gegeben?« wollte Sebastian Trenker wissen.

Sein Bruder sah ihn an und rollte dabei mit den Augen.

»Ich komm’ g’rad vom Moosingerhof. Dem Anton haben’s in der Nacht sein nagelneues Auto gestohlen.«

»Was?« entfuhr es dem Pfarrer. »Schon wieder ein Autodiebstahl in unserer Gegend!«

»Der dritte in vierzehn Tagen, und alles Neuwagen. Der vom Moosinger war erst seit zwei Tagen zugelassen. Da steckt eine ganze Bande dahinter, die die Autos ins Ausland verschiebt. Die Kollegen von der Kripo sind sich da ziemlich sicher.«

»Vielleicht sollten S’ Ihren Wagen net immer hinterm Kirchplatz stehen lassen«, mischte sich Sophie Tappert in das Gespräch. »Eines Tages ist der auch noch verschwunden.«

Pfarrer Trenker besaß tatsächlich ein noch recht neues Auto. Nachdem er jahrelang einem uralten Käfer die Treue gehalten hatte, entschloß er sich doch, schweren Herzens, das alte gegen ein neues, schadstoffarmes Fahrzeug einzutauschen. Hier hatte der Umweltgedanke über die Liebe zu seinem Käfer gesiegt. Ohnehin benutzte Sebastian den Wagen sowieso nur, wenn es unumgänglich war. Meistens bewegte er sich auf Schusters Rappen und wanderte in seinen geliebten Bergen.

»Das glaub’ ich net«, erwiderte Max auf Sophie Tapperts ängstliche Einlassung. »Die Diebe stehlen nur Autos der Luxusklasse. Der vom Moosinger hat mehr als sechzigtausend Mark gekostet.«

»Was, soviel?«

Die Haushälterin war erschüttert. Wie konnte jemand so viel Geld für ein Auto ausgeben?

»Na ja, der hat’s ja auch«, sinnierte sie und deckte den Tisch ab.

Freilich stimmte es. Anton Moosinger war einer der reichsten Bauern in der Gegend um St. Johann. Der Hof war seit Generationen im Familienbesitz, und neben etlichen Hektar Land, gehörten zwei Almwiesen und ein riesiges Waldgebiet dazu. Drei Söhne arbeiteten mit dem Vater zusammen auf dem Hof. Außerdem eine ganze Anzahl Knechte und Mägde, die teilweise schon seit Jahrzehnten zum Moosingerhof gehörten.

»Deswegen darf man ihm aber noch lange net das Auto stehlen«, schüttelte Sebastian Trenker den Kopf. »Wem gehören denn die anderen Fahrzeuge?«

»Der eine war der Wagen vom Dr. Hendrich, dem Kunsthändler aus Garmisch, der andere gehört einem Gast vom Reisinger.«

Dr. Hendrich war ein in Garmisch Partenkirchen ansässiger Kunsthändler, der in der Nähe von St. Johann ein Ferienhaus besaß, in dem er oft und gerne ein paar Tage verbrachte, wenn die Geschäfte es zuließen. Pfarrer Trenker erinnerte sich an einige nette Abende, die er in dem Haus verbracht hatte. Genau wie er auch, so schätzte Dr. Hendrich ebenfalls ein gutes Glas Wein und ein geistvolles Gespräch.

Der Gast vom Hotel »Zum Löwen«, stammte aus dem Rheinland. Er hatte ein paar erholsame Ferienwochen in den Bergen verbringen wollen, die doch so unschön endeten. Wohl oder übel war er gezwungen, mit einem Leihwagen wieder nach Hause zu fahren.

»Natürlich sprangen sofort die Versicherungen ein«, fuhr Max fort. »Aber das entschädigt natürlich net für den ganzen Ärger, den man durch den dreisten Diebstahl hat.«

*

Robert Demant war froh, seinen Urlaub sofort angetreten zu haben. Schon als er in München in den Zug stieg, spürte er ein Gefühl der Entspannung und Erleichterung in seiner Brust.

Viele Sachen hatte er nicht mitgenommen. Lediglich eine Reisetasche befand sich in der Gepäckablage über dem Sitz und ein kleines Köfferchen, in dem Robert ein paar Malutensilien mitnahm. Vielleicht gab es das eine oder andere Motiv, das lohnte, festgehalten zu werden.

Die Fahrt verlief ohne besondere Ereignisse. Von München aus ging es in Richtung Alpen. Der Maler hatte sich auf einen bestimmten Ort festlegen können, und erst die charmante Mitarbeiterin in einem Reisebüro hatte ihm den Hinweis auf ein kleines Dorf in den Bergen gegeben. St. Johann hieß es und war touristisch noch nicht so »heimgesucht« wie andere Orte.

Robert war von der Beschreibung und von dem, was er in einem Prospekt las, angetan und zögerte nicht länger. Jetzt saß er in einem Regionalzug, der scheinbar unendlich langsam durch die kleinen Ortschaften fuhr und an jeder Milchkanne hielt.

Der Maler störte sich nicht daran. Im Gegenteil, er kostete jede Minute der Bahnfahrt aus, schaute dabei aus dem Fenster oder blätterte in den Zeitschriften, die er vor der Abfahrt gekauft hatte.

Schließlich schaute er auf die Uhr. Es war früher Nachmittag. Die übernächste Station war die letzte. Weiter fuhr der Zug nicht. Von dort aus ging ein Bus zu seinem Urlaubsziel. Robert war schon gespannt. Außerdem hatte er noch kein Quartier gebucht. Das hätte die junge Frau im Reisebüro zwar gerne für ihn übernommen, doch der Maler wollte sich erst einmal selbst in St. Johann umsehen. Ob er dann ein Zimmer in einem Hotel nahm, oder in einer kleinen Pension, hing von seiner jeweiligen Laune ab.

Der Zug hielt zum vorletzten Male, und nach kurzer Zeit wurde die Tür des Abteils geöffnet, in dem Robert Demant saß. Bisher hatte er ganz alleine gesessen, nun trat ein junges Madel ein. Es hatte nur eine kleine Tasche als Gepäck. Der Zug ruckelte wieder an.

»Grüß’ Gott«, erwiderte der Mann auf den Gruß der Eintretenden.

Dabei schweifte sein Blick über ihre Gestalt und was er sah, gefiel dem Maler. Ein schlankes, hochgewachsenes Madel mit braunen Augen, das schulterlange Haar hatte die Farbe von Kastanien und in dem aparten Gesicht dominierte ein schwungvolles Lippenpaar.

Die junge Frau setzte sich ihm gegenüber. Sie schien ein wenig außer Atem zu sein.

»Glück gehabt«, sagte sie und holte tief Luft. »Beinah’ hätt’ ich ihn verpaßt.«

Sie lachte herzerfrischend, und Robert konnte nicht anders, als mit einzustimmen.

»Wissen S’, ich war zu Besuch bei einer alten Schulfreundin, und wir hatten uns soviel zu erzählen, daß wir glatt die Zeit vergessen haben.«

»Und einen späteren Zug hätten S’ net nehmen können?« fragte der Maler, dem die offene und freundliche Art der jungen Frau gefiel.

Das Madel schüttelte seinen Kopf.

»Von der Kreisstadt muß ich mit dem Bus weiter, und der fährt um Viertel vor fünf. Das ist der letzte. Wenn ich den verschwitze, kann ich zu Fuß nach St. Johann laufen.«

Robert horchte auf.

»Nach St. Johann wollen S’?«

»Ja«, nickte sie. »Sie etwa auch?«

»Ich mache Urlaub dort«, antwortete er und stellte sich dann vor. »Ich heiße übrigens Robert Demant.«

»Katharina Lehmbacher.«

»Wohnen Sie dort?«

»Inzwischen ja. Ursprünglich stamm’ ich aus Engelsbach. Aber seit einem halben Jahr wohne ich in St. Johann. Ich arbeite als Saaltochter im Hotel ›Zum Löwen‹. Werden S’ denn bei uns wohnen?«

Robert zuckte die Schulter.

»Ich weiß noch net. Mal schau’n, wie’s mir überhaupt dort gefällt.«

Katharina hob den Kopf.

»Toll wird’s Ihnen gefallen. Das kann ich jetzt schon sagen«, erwiderte sie im Brustton der Überzeugung.

Der Maler schmunzelte.

»Sie scheinen ja wirklich überzeugt zu sein.«

»Also, ich hab’ bis jetzt nur nette Menschen dort kennengelernt«, antwortete die junge Frau. »Außerdem ist es ein ruhiges und beschauliches Dorf.«

»Sie machen mich wirklich neugierig.«

Der Zug lief in den Bahnhof der Kreisstadt ein. Die beiden Reisenden machten sich für den Ausstieg bereit.

»Kommen S’, der Bus fährt von dort drüben«, sagte Katharina, als sie auf dem Bahnsteig standen.

Die Rückbank war noch frei und bot genügend Platz für Menschen und Gepäck. Sie setzten sich, während der Fahrt wurde Katharina Lehmbacher nicht müde, die Vorzüge von St. Johann und seiner Bewohner aufzuführen. Außerdem schwärmte sie von dem Hotel, in dem sie arbeitete, daß Robert gar nicht anders konnte, als zu erklären, daß er dort absteigen werde.

Freilich hatte es noch einen anderen Grund – der Maler spürte, daß das Madel eine Saite in ihm zum Klingen gebracht hatte. Er fühlte sich zu ihm hingezogen. Diese herzerfrischende offene Art – wie lange hatte er sie bei einem Menschen nicht mehr gefunden! Robert wollte unbedingt dort sein, wo er Katharina in seiner Nähe wußte.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte die Fahrt noch Stunden dauern können, doch der Bus hielt nach knapp dreißig Minuten an der Haltestelle gegenüber vom Hotel.

»Wissen S’ denn, ob noch ein Zimmer frei ist?« wollte Robert wissen.

Plötzlich hatte er Angst bekommen, das Hotel könne ausgebucht sein.

»Ganz bestimmt«, beruhigte sie ihn. »Die Saison hat ja noch net begonnen.«

*

Wie das junge Madel es gesagt hatte, war es überhaupt kein Problem, ein Zimmer zu bekommen.

»Wie lang’ möchten S’ denn bleiben?« erkundigte sich Sepp Reisinger.

Robert überlegte. Darüber hatte er sich noch gar keine Gedanken gemacht. Eine Woche? Oder zwei?

»Wissen S’ was, nehmen S’ erst mal eine Woch’«, schlug der Wirt vor. »Wenn S’ dann noch bleiben wollen, verlängern S’ eben.«

Damit war der Maler einverstanden. Er bezog ein geräumiges Einzelzimmer, das mehr als komfortabel eingerichtet war. Vom Fenster hatte er einen herrlichen Blick auf die Almwiesen und Berge. Zwei imposante Gipfel dominierten das Bild, deren schneebedeckte Spitzen hoch in den blauen Himmel ragten.

Robert packte seine Reisetasche aus und erfrischte sich im Bad. Dann ging er hinunter ins Restaurant. Er hatte zuletzt am Mittag ein belegtes Brot gegessen und bekam langsam Hunger. Er war froh darüber, wieder Appetit zu haben. In den letzten Wochen hatte er sich regelrecht dazu zwingen müssen, etwas zu essen. Es war eben zuviel gewesen, was da auf ihn einstürmte, doch er glaubte fest daran, daß dieser Urlaub ihm half, die Krise zu überwinden.

Hatte er geglaubt, Katharina Lehmbacher schon heute abend wiederzusehen, so wurde er enttäuscht. Natürlich, fiel es ihm ein, nachdem er vergeblich nach ihr Ausschau gehalten hatte, es war ja ihr freier Tag, da würde sie nicht am Abend im Hotel sein.

Das junge Madel hatte sich lächelnd von ihm verabschiedet, nachdem sie aus dem Bus gestiegen waren.

»Auf Wiedersehen, Herr Demant, ich hoffe, Sie werden sich im Löwen wohl fühlen.«

»Ganz bestimmt«, hatte er geantwortet.

Inzwischen wußte er, daß er gut daran getan hatte, Katharinas Ratschlag, hier im Hotel abzusteigen, zu befolgen. Sepp Reisinger und seine Frau, die Robert ebenfalls kennengelernt hatte, waren freundliche Wirtsleute, und das Personal herzlich und zuvorkommend. Der Maler wählte ein leichtes Fischgericht zum Abendessen und bestellte ein Glas Weißwein dazu. Trotz des regen Abendbetriebs, der im Lokal herrschte, war von Hektik nichts zu spüren. Wie immer hatten Sepp und seine Angestellten alles im Griff, Essen und Getränke wurden prompt serviert.

Früher, als er vor der Frage stand, das wenige Geld, das er besaß für Farben oder Verpflegung auszugeben, hatte Robert nie großen Wert auf das Essen gelegt. Die Nahrungsaufnahme war für ihn ein notwendiges Übel gewesen, zur Aufrechterhaltung der körperlichen Funktionen. Das änderte sich erst mit dem Erfolg, den der Maler mit seinen Bildern hatte. Er lernte den Wert eines guten Essens zu schätzen und nahm sich Zeit, die Mahlzeiten ausgiebig zu genießen. Von dem gebratenen Zander, der auf einem Gemüsebett serviert wurde, war er geradezu begeistert und er bestellte einen weiteren Schoppen von dem leichten Weißwein.

Später saß er am offenen Fenster seines Zimmers und sah in die anbrechende Nacht hinaus. Die beiden Gipfel, es waren der Himmelsspitz und die Wintermaid, wie er inzwischen aus dem Hausprospekt erfahren hatte, konnte er nun nicht mehr erkennen. Allerdings hätte er dafür auch gar kein Auge gehabt, denn vor ihm in der Dunkelheit stand ein anderes Bild – das jener jungen Frau, die er am Nachmittag kennengelernt hatte.

Robert Demant konnte es sich so genau in Erinnerung rufen, als stände sie direkt vor ihm. Jede Einzelheit ihres Gesichts sah er – die braunen Augen, das kecke, kleine Näschen und die geschwungenen Lippen. Und er spürte eine tiefe Sehnsucht, diese Lippen zu küssen…

Diese Gefühle, bei denen er sich jetzt ertappte, waren tiefer, als er es jemals für eine Frau empfunden hatte.

Sein Beruf hatte es mit sich gebracht, daß Robert viele Frauen kennenlernte. Für ein paar von ihnen hatte der gutaussehende Mittdreißiger durchaus Interesse gezeigt, doch zu mehr als ein paar lockeren Verbindungen war es nie gekommen. Der Maler liebte seine Freiheit über alles und fürchtete, in seinem Schaffen eingeengt zu werden, sobald er sich zu sehr an einen anderen Menschen fesseln lassen würde.

Doch jetzt merkte er, daß dieser Freiheitsdrang gar nicht mehr so stark vorhanden war. Beinahe ungläubig gestand er sich ein, daß Katharina Lehmbacher ihm mehr bedeutete, als er bis jetzt geahnt hatte.

*

Wolfgang Lehmbacher blätterte in der Tageszeitung. Als er auf den Anzeigenteil stieß, schlug er die Seite interessiert auf. In Gedanken zählte er die paar Mark durch, die er noch in seiner Geldbörse hatte. Viel war es wirklich nicht, aber für das Bier und die Würste, die er bestellt hatte, würde es noch reichen.

Hoffnungsvoll las er die Anzeigen mit den Stellenangeboten durch. Er mußte unbedingt Arbeit finden. Das Geld war das letzte, und zu Kathie konnte er nicht schon wieder gehen. Er schuldete ihr ohnehin noch vierhundert Mark vom letzten Monat.

In der verräucherten Kneipe in Waldeck saßen nur wenige Gäste. Der Wirt lehnte müde hinter dem Tresen, während seine Frau in der Küche die bestellten Würstchen heiß machte. Wolfgang Lehmbacher ging jede Annonce durch. Alle möglichen Arbeiten wurden angeboten, doch für einen jungen Mann mit abgebrochenem BWL-Studium war nichts darunter. Der Wirt brachte die Würstchen, die lieblos neben einer trockenen Scheibe Brot und einem sparsamen Klecks Senf auf dem Teller lagen.

Wolfgang verzichtete auf das Besteck und aß gleich aus der Hand. Dabei las er weiter.

Da – diese Anzeige! Das konnte etwas sein.

»Junger Mann mit Führerschein Kl. 3, gesucht«, stand dort zu lesen. Es wurde viel Geld für eine leichte Tätigkeit geboten. Darunter stand eine Telefonnummer, hier aus Waldeck.

Wolfgang aß schnell auf und bezahlte. Dann fragte er nach einem Telefon. Zwar besaß er ein Handy, aber da er seit zwei Monaten die Rechnung nicht bezahlt hatte, war der Anschluß gesperrt worden. Der Wirt reichte ihm das Telefon, ein uralter schwarzer Apparat, der noch eine Wählscheibe besaß.

»Macht fünfzig Pfennig, die Einheit«, sagte er.

Wolfgang nickte und wählte die angegebene Nummer.

Nachdem es einige Male geläutet hatte, meldete sich eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Grüß’ Gott. Entschuldigen S’ die späte Störung«, sagte der junge Mann. »Ich hab’ da g’rad’ Ihre Anzeige gelesen und wollt’ mal fragen, ob die Stelle noch frei ist?«

»Freilich«, antwortete der Mann. »Wenn S’ wollen, können S’ noch heut’ abend anfangen.«

»Um was für eine Tätigkeit handelt es sich denn?«

»Das besprechen wir am besten, wenn S’ hier sind.«

Er nannte die Adresse.

»Wissen S’, wo das ist?«

Wolfgang bestätigte, sich auszukennen und hängte ein.

Er konnte sein Glück kaum fassen. Noch vor ein paar Minuten hatte er nicht gewußt, ob er so bald wieder warme Würstchen essen würde, und nun hatte er plötzlich eine neue Arbeitsstelle.

Wieviel sie wohl bezahlten? Hielten die Leute, was sie da in der Anzeige versprachen, oder war es nur Lockangebot? Nun, in ein paar Minuten würde er mehr wissen.

*

Die Adresse war eine noble Villa am Rande von Waldeck. Sie war von einer mannshohen Mauer umgeben, und neben der Toreinfahrt war eine Klingel mit Gegensprechanlage angebracht. Wolfgang drückte den Knopf und nannte seinen Namen, als dieselbe Stimme, wie eben am Telefon, fragte, wer da sei. Ein Summen zeigte an, daß er die Tür aufdrücken konnte.

Über einen sorgsam geharkten Kiesweg gelangte der Besucher zum Haus mit noblem gelbem Putz. Der Weg wurde alle paar Meter mit Laternen beleuchtet, irgendwo plätscherte ein Brunnen. Wolfgang hielt unwillkürlich die Luft an. Arm waren die Leute, die hier wohnten, gewiß nicht. Der Garten ließ erahnen, daß da ein richtiger Gärtner seine Arbeit verrichtete. Rechts von der Villa befanden sich zwei weitere Gebäude, die aber weitgehend im Dunkeln lagen.

Noch bevor er die Haustür erreichte, wurde sie geöffnet und eine Frau stand im Lichtschein, der nach außen drang.

»Guten Abend, Herr Lehmbacher, mein Name ist Krammler. Mein Mann erwartet Sie in seinem Arbeitszimmer.«

Wolfgang nahm die dargebotene Hand. Frau Krammler war kaum älter als seine Schwester Kathie. Sie wirkte elegant. Mit einem Lächeln führte sie den Besucher durch die Eingangshalle zum Arbeitszimmer ihres Mannes.

Justus Krammler war weitaus älter, als seine Frau. Er saß behäbig hinter seinem Schreibtisch und sah kaum von dem Stapel Papiere auf, den er in den Händen hielt. In seinem Mundwinkel qualmte eine Zigarre. Mit einem Kopfnicken winkte er Wolfgang heran.

»Setzen S’ sich«, sagte er und schob eine Zigarrenschachtel herüber. »Bedienen S’ sich.«

»Vielen Dank«, lehnte Wolfgang ab. »Ich bin Nichtraucher.«

»Sehr vernünftig«, meinte der Dicke in seinem Sessel. »Ich kann’s leider net lassen, obwohl mein Arzt immer wieder den Zeigefinger hebt.«

Er warf den Papierstapel beiseite.

»Lassen wir das«, meinte er und sah endlich seinen Besucher direkt an. »Sie sind ja net hergekommen, um meine Krankengeschichte zu hören. Sie wollen einen Job, net wahr?«

»So ist es«, nickte Wolfgang, und überlegte, warum ihm der Mann so unsympathisch war. »Um was für eine Arbeit handelt es sich denn nun?«

Krammler lehnte sich in seinen Sessel zurück und stieß eine graue Rauchwolke aus.

»Folgendes, ich handle mit Autos. Meine Kunden kommen aus dem Ausland. Mal aus Österreich, mal aus Italien, aber überwiegend aus dem östlichen Ausland. Tschechien, Slowenien und Bulgarien. Meine Kunden kaufen auf Empfehlung, das heißt, ich werde ihnen von anderen – zufriedenen – Kunden empfohlen, oder sie ordern ihre neuen Wagen übers Internet. Deshalb suche ich zuverlässige Fahrer, die diese Autos dann überführen.«

Wolfgang hatte schweigend zugehört. Das klang einleuchtend.

»Und wieviel kann man dabei verdienen?« fragte er.

Krammler nahm einen neuen Zug aus der Zigarre und grinste breit.

»Ich zahle für jedes überführte Fahrzeug dreitausend Mark«, antwortete er und grinste noch mehr, als er Wolfgangs überraschtes Gesicht sah. »Plus Spesen für Essen und Trinken, die Rückfahrt mit der Bahn, oder auch für eine Übernachtung, falls sie notwenig sein sollte.«

Dann forderte er den Besucher auf, von sich selber zu erzählen. Wolfgang tat es ohne Arg, Krammler hörte zu und machte sich zwischendurch ein paar Notizen.

»Warum ich soviel zahle? Das will ich Ihnen gern’ erklären«, sagte er schließlich. »Die Autos sind neu und wertvoll, ausschließlich Wagen der Luxusklasse. Ich brauche Fahrer, auf die ich mich verlassen kann, und die ich gut bezahle, damit sie net auf dumme Gedanken kommen und mit den Autos durchbrennen. Das soll’s alles schon gegeben haben. Darum leg’ ich bei jedem fünften Wagen, den ein Mann überführt, einen Tausender d’rauf, als Prämie sozusagen.«

Er reichte Wolfgang die Hand und sah ihn fragend an.

»Also, wie schaut’s aus? Wollen S’ den Job übernehmen. Sie könnten gleich losfahren. Ich hab’ da einen Mercedes in der Garage, der heut’ noch nach Wien müßt’. Wie Sie gesagt haben, sind S’ ja frei und unabhängig. Ich geb Ihnen einen Vorschuß von tausend Mark und dreihundert für die Spesen.«

Wolfgang ließ sich nicht lange bitten und schlug ein.

Eben noch Würstel mit trockenem Brot, jetzt würde er soviel Geld bekommen. Das war doch die Chance seines Lebens! Er müßte ein Dummkopf sein, sie auszuschlagen!

Justus Krammler stand auf und ging zu einem Bild an der Wand. Dahinter war ein Safe versteckt. Der Mann öffnete ihn und entnahm ein paar Banknoten, die er Wolfgang Lehmbacher auf den Tisch zählte. Er ließ sich den Betrag quittieren. Dann führte er ihn zu den Garagen. Es waren die dunklen Gebäude, die Wolfgang vorher nicht hatte erkennen können. Die beiden Gebäude waren miteinander fest verbunden und schienen mehr Werkstatt zu sein, als nur Unterstellplatz für Fahrzeuge. Es gab Werkzeuge, wie in einer Reparaturfirma, sogar eine komplette Hebebühne. In einer Ecke stand der Wagen, den Wolfgang überführen sollte. Ein dunkelblauer Mercedes der E-Klasse. Krammler übergab die Wagenpapiere und Schlüssel, sowie ein Blatt Papier mit der Routenbeschreibung und der Adresse in

Wien, wo der Wagen abgeliefert werden sollte.

Krammler und seine Frau standen vor der Villa, als Wolfgang losfuhr. Sie winkten, als verabschiedeten sie einen guten Freund.

»Meinst’, daß er der richtige ist?« fragte Manuela Krammler.

»Wir werden sehen«, erwiderte ihr Mann. »Wien ist ja die leichte Tour. Kaum noch Zöllner an den Grenzen.«

»Er weiß aber schon, was mit den Autos ist, oder?«

»Um Himmels willen, nein. Natürlich net. Das erfährt er erst nach der dritten Fahrt. Bis dahin hat er schon so angebissen, daß er net mehr auf das viele Geld verzichten will.«

Sie lachten beide, als das Tor elektrisch geschlossen wurde, und sie in das Haus hineingingen.

*

Katharina Lehmbacher bewohnte eine kleine Einliegerwohnung in einem Einfamilienhaus, das nur wenige Straßen vom Hotel entfernt war. Die Vermieter waren ein älteres Ehepaar, das sich durch die Mieteinnahme die Rente ein wenig aufbesserte. Kathie und die beiden alten Leute hatten ein herzliches Verhältnis. Die junge Frau war froh gewesen, so schnell eine bezahlbare Wohnung gefunden zu haben, nachdem sie die Stelle im Hotel »Zum Löwen« angetreten hatte. Mit Schaudern erinnerte sie sich an die erste Woche, die sie in der winzigen Dachkammer des Hotels hatte verbringen müssen. Sepp Reisinger vermittelte zwischen ihr und dem Ehepaar Strohlinger, so daß sie schnell wieder aus diesem Notbehelf ausziehen konnte.

Kathie saß in der kleinen Küche und ließ sich ihr Frühstück schmecken. Da die neue Arbeitswoche mit Spätdienst begann, konnte sie sich reichlich Zeit lassen, ausgiebig zu frühstücken und in der Morgenzeitung zu blättern, die Frau Strohlinger ihr immer vor die Tür legte, nachdem die beiden Alten sie gelesen hatten.

Anschließend machte sie sich daran, den Einkaufszettel zu vervollständigen. Schon bei der Zubereitung ihres Frühstücks hatte sie festgestellt, daß schon wieder vieles fehlte. Sie notierte, was ihr gerade einfiel und dachte darüber nach, was das wieder alles kosten würde. Du lieber Himmel, warum rann einem das Geld nur immer wieder so schnell durch die Finger! Es war einfach unglaublich, je mehr man sich abmühte, es zu sparen, um so knapper wurde es.

Allerdings war es auch kein Wunder wenn man, wie sie, eigentlich zwei Personen durchfütterte. Oft genug kam es nämlich vor, daß Wolfgang sich selbst bei ihr zum Essen einlud. Und als wäre es damit nicht genug, bettelte er immer wieder um Bargeld. Natürlich wußte Kathie, daß es nicht richtig war, doch sie brachte es einfach nicht übers Herz, seine Bitte um Geld, abzulehnen. Auch wenn sie genau wußte, daß es länger, als die versprochene Woche dauerte, bis Wolfgang es ihr zurückzahlte.

Das junge Madel seufzte auf. Was sollte sie denn machen? Auch wenn er ein Leichtfuß war – er war immerhin ihr Bruder. Nach dem Tode der Eltern fühlte sie sich einfach für ihn verantwortlich, obwohl Wolfgang zwei Jahre älter war, als sie selbst.

Dennoch, das mit dem Geld würde ein Ende haben! Wolfgang mußte sich endlich eine Arbeit suchen. Schließlich war es nicht ihre Schuld, daß er sein Studium einfach abgebrochen hatte.

Seufzend stand sie auf und zog ihre Jacke an. Mit dem Einkaufskorb in der Hand verließ sie die Wohnung.

*

Beim Herrnbacher herrschte großer Andrang. Er war der einzige Kaufmann in St. Johann, und entsprechend groß war die Kundschaft. Besondes schlimm war es vor den Wochenenden. Der Laden war nicht besonders groß, und die Regale standen eng beieinander. Einkaufswagen gab es nicht, die Kunden konnten ihre Waren nur in Plastikkörben zur Kasse tragen, an der entweder Ignaz Herrnbacher, oder seine Frau Gertrud, saß.

Ignaz war um die sechzig, mit weißen Haaren, einem kleinen Bäuchlein und immer zu einem Scherz oder einem Schwatz aufgelegt. Seine Kunden kannten ihn nicht anders, als immer gut gelaunt.

Katharina Lehmbacher hatte sich geduldig in die Schlange vor der Kasse eingereiht. Nur das Notwendigste lag in ihrem Einkaufskorb. Während sie darauf wartete, an die Reihe zu kommen, schweifte ihr Blick umher. Plötzlich stutzte sie – da draußen, vor der Eingangstür – war das nicht der Mitreisende von gestern abend? Natürlich, sie erkannte

ihn sofort wieder. Robert Demant ging vor dem Laden auf

und ab, als wartete er auf jemanden.

Aber, wer konnte dieser jemand sein? Er war doch ganz alleine gewesen, als sie sich im Zug begegneten.

Als Kathie schließlich bezahlt hatte und das Geschäft verließ, stand der Mann immer noch da. Mit einem strahlenden Lächeln kam er auf sie zu.

»Grüß’ Gott«, sagte er. »Ich hab’ Sie vorhin in den Laden gehen sehen und wollt’ Sie doch gern’ begrüßen. Ihr Rat mit dem Hotel war goldrichtig.«

»Gefällt es Ihnen?«

»Aber ja. Das Zimmer ist herrlich und erst das Essen!«

»Net wahr, unsere Chefin ist eine richtige Meisterköchin.«

»Das kann man wohl sagen.«

Robert sah sich um.

»Sagen S’, hätten S’ Lust, einen Kaffee mit mir zu trinken?« Das Madel schaute nachdenklich.

»Hm, ich weiß net – der Herr Reisinger sieht’s net gern, wenn jemand vom Personal mit einem Gast…«

»Ach, Unsinn«, schnitt Robert ihr das Wort ab. »Erstens sind S’ net im Dienst, und zweitens kannten wir uns schon, bevor ich in das Hotel gezogen bin.«

»Da haben S’ auch wieder recht«, lachte Kathie.

»Also, ich kenn mich noch net so gut aus. Wo gibt’s denn hier ein Café?«

Es lag nur wenige Schritte weiter die Straße hinunter. Jetzt, am Vormittag, waren nur wenige Gäste da. Die beiden fanden schnell einen freien Tisch. Robert bestellte Kaffee und schaute Kathie an.

»Ich hab’ Sie heut morgen beim Frühstück vermißt«, gestand er.

Das Madel schmunzelte.

»In dieser Woch’ hab’ ich Spätschicht. Ich fang erst am späten Nachmittag meinen Dienst an.«

»Das ist ja wunderbar«, meinte Robert. »Da können S’ ja am Vormittag die Fremdenführerin für mich spielen.«

Er schaute sie mit treuen Augen an.

»Natürlich nur, wenn S’ keine anderen Verpflichtungen haben. Ich will auf keinen Fall Ärger mit Ihrem Mann oder Verlobten bekommen.«

Kathie lachte.

»Da kann ich Sie beruhigen, es gibt weder den einen, noch den anderen.«

Robert atmete insgeheim auf. Das ist doch herrlich, dachte er, genau das, was ich hören wollte!

»Also, abgemacht?« fragte er.

Sie nickte.

»Gut, wenn die Zeit es zuläßt, zeige ich Ihnen gerne ein wenig von der Gegend hier. Was interessiert Sie denn am meisten?«

»Zeigen Sie mir einfach alles.«

»Na, ich werd’ mir etwas überlegen«, nickte sie. »Jetzt muß ich aber los. Vielen Dank für den Kaffee.«

Er begleitete sie vor die Tür.

»Wenn S’ Lust haben, dann schauen S’ sich die Kirch’ an«, schlug Kathie zum Abschied vor. »Sie ist wirklich sehenswert.«

»Mach’ ich«, versprach Robert Demant. »Aber viel mehr freue ich mich auf unseren Ausflug!«

*

Sebastian Trenker kam gerade aus der Sakristei, als der Besucher die Kirche betrat. Staunend sah er sich um und kam näher, als er den Geistlichen an dessen Kragen erkannte.

»Grüß’ Gott, Herr Pfarrer«, nickte er. »Ich hoff’, ich störe net?«

»Nein, nein, seien Sie herzlich willkommen«, widersprach Sebastian. »Ich freue mich immer, wenn jemand unser Gotteshaus besucht. Ich bin Pfarrer Trenker. Sie machen Urlaub in unserem schönen St. Johann?«

»Angenehm, Robert Demant«, deutete der Besucher eine Verbeugung an. »Ja, ich will ein paar Tage ausspannen.«

Sebastians Miene erhellte sich, als er den Namen hörte.

»Robert Demant, sagen Sie? Etwa der Maler?«

»Sie kennen mich?«

Robert war überrascht.

»Ich habe ein paar Ihrer Bilder gesehen und war sehr beeindruckt«, nickte der Geistliche.

»Vielen Dank. Aber sagen Sie, wie kommen meine Bilder nach St. Johann?«

»Sagt Ihnen der Name Werner Hendrich etwas?«

»Natürlich. Dr. Hendrich ist ein bekannter Galerist und Kunsthändler.«

»Er besitzt hier bei uns ein Ferienhaus, in dem drei Ihrer Bilder hängen.«

»Ach, darum. Ich wußte gar net, daß er welche besitzt.«

»Kommen Sie, ich zeig’ Ihnen erstmal die Kirche«, bot Sebastian an. »Deswegen sind S’ ja hereingekommen.«

Der Pfarrer führte den Maler herum und erläuterte ihm diese und jene Besonderheit. Es gab viel zu sehen und zu bestaunen. Besonders imposant waren die Mengen an Blattgold, die in früheren Zeiten bei der Gestaltung des Kirchenschiffes Verwendung gefunden hatten. Figuren und Bilder waren damit verziert.

»Das könnt’ man heutzutage gar net mehr bezahlen.«

Dem konnte Robert nur zustimmen. »Aber wunderschön ist’s«, nickte er.

Es wurde ein ausgiebiger Exkurs in die Geschichte der Kirche zum Heiligen Johannes, bei dem der Geistliche nicht müde wurde, dem Besucher alles zu zeigen und zu erklären.

»Ich hoff’, Sie fühlen sich bei uns wohl«, wünschte Sebastian, als sie sich später vor der Kirche verabschiedeten.

»Das glaube ich schon«, meinte der Maler nachdenklich. »Ich merke jedenfalls, wie dieser kleine Ort mir immer mehr gefällt.«

*

Daß der bekannte Kunstmaler als Feriengast in St. Johann weilte, war natürlich auch Gesprächsthema beim Mittagessen, an dem, wie immer, auch Maximilian Trenker teilnahm. Allerdings hatte der Polizeibeamte im Augenblick wenig Sinn für die schöne Kunst der Malerei. Die Autodiebstähle nahmen zu, und die Diebe wurden dabei immer dreister. Eigentlich war Max rund um die Uhr im Einsatz, weil er auch nachts noch Streife fuhr. Zwar wechselte er sich dabei mit Kollegen aus der Kreisstadt ab, dennoch waren die paar Stunden Schlaf einfach zu wenig.

»Kommen S’, essen S’ nur tüchtig. Das bringt Sie wieder auf die Beine«, sagte Sophie Tappert und füllte Max den Teller voll.

Es gab knusprige Fleischpflanzerl mit frischem Kohlrabigemüse und Kartoffelpürreé, aber obwohl es zu Max’ ausgesprochenen Lieblingsgerichten zählte, aß er heute doch deutlich weniger, als an den anderen Tagen.

»Drei Wagen in der letzten Nacht«, stöhnte er und schob den Teller beiseite. »Und immer gerade da, wo ich vorher Streife gefahren bin. Man könnt’ meinen, die Kerle wüßten, wo sie freie Bahn haben.«

»Also, nach dem Essen legst’ dich erst einmal eine Stunde hin«, schlug sein Bruder vor. »Danach geht’s dir wieder besser.«

»Na, hoffentlich«, gab Max zurück. »Lang’ halt ich das net mehr aus!«

Die Haushälterin trug den Nachtisch auf, Schokoladenpudding mit Vanillesauce.

»Bewahren S’ mir ’was davon auf«, bat der junge Polizist und erhob sich. »Ich geh’ wirklich erstmal ein Stündlein schlafen.«

Besorgt sah Sophie Tappert ihm hinterher. Auch Sebastian machte sich seine Gedanken. So niedergeschlagen hatte er den Bruder selten erlebt. Der Fall mußte ganz schön an Max’ Nerven zerren.

»Und Sie sollten doch Ihren neuen Wagen irgendwo unterstellen«, beharrte die Haushälterin. »Wer weiß, ob er sonst net doch eines Tages gestohlen wird.«

»Ich kann mich ja mal nach einer Garage umsehen«, stimmte Sebastian schließlich, um des lieben Friedens willen, zu.

Sophie Tappert würde doch nicht eher Ruhe geben. Es war schon schade, daß es keine Garage beim Pfarrhaus gab, aber damals, als es gebaut wurde, gab es noch gar keine Autos, und später hatte niemand daran gedacht, daß ein Geistlicher vielleicht einmal ein Auto benötigen könnte.

*

Als Kathie wieder nach Hause kam, erlebte sie eine Überraschung. Vor der Wohnung wartete ihr Bruder. Sie hielt unwillkürlich die Luft an, als sie ihn sah.

Wolfgang trug einen neuen Anzug, dazu ein weißes Hemd und Krawatte. Kathie glaubte ihren Augen nicht zu trauen, so hatte sie ihn seit seiner Abiturfeier nicht mehr gesehen! Stolz wie ein Pfau drehte er sich und zeigte sich ihr von allen Seiten.

»Ja, sag’ mal, hast’ in der Lotterie gewonnen?« fragte sie, als sie in der kleinen Küche saßen.

»Viel besser, Schwesterherz«, antwortete er übermütig und zog ein Geldbündel aus der Jackentasche.

»Du lieber Himmel – woher hast du das viele Geld?«

Sie sah ihn mißtrauisch an. Sollte der Bursche etwa auf Abwege geraten sein…?

»Schau net so! Ich hab’s net gestohlen, sondern ehrlich verdient.«

»Verdient? Ja, bei was denn?«

»Ich hab’ endlich eine Arbeit«, sagte er, während er die vierhundert Mark abzählte, die er seiner Schwester schuldete.

»Und jetzt bin ich dabei, meine Schulden zu bezahlen, und über mein Handy kannst’ mich auch wieder erreichen.«

Kathie setzte sich ihm gegenüber. Sie konnte es noch immer nicht glauben.

»Eine Arbeit, wirklich? Das ist ja wunderbar. Erzähl’ doch mal, was ist es denn für eine Tätigkeit? Wart’, ich koch’ uns schnell eine Kleinigkeit zum Mittag. Beim Essen kannst mir dann ja alles erzählen. Ich bin schon so gepannt.«

Sie war aufgesprungen, um an den Kühlschrank zu gehen, doch ihr Bruder wehrte ab.

»Laß nur«, sagte er. »Ich bin nur gekommen, um dir dein Geld zu bringen. Ich hab’ noch einen Termin, heut’ nachmittag – einen geschäftlichen Termin.«

Noch ehe sie etwas sagen konnte, war er aufgestanden und aus der Küche.

»Ich meld’ mich«, rief er ihr noch zu, dann klappte auch schon die Haustür.

Katharina Lehmbacher blieb ratlos zurück. Sie nahm die Geldscheine, die er ihr auf den Tisch gezählt hatte, und schaute sie kopfschüttelnd an. Zu gerne hätte sie gewußt, was das für eine Arbeit war. Offenbar wurde sie nicht schlecht bezahlt.

Sie spürte eine leichte Hoffnung. Vielleicht war das ja endlich die Arbeit, die Wolfgang sich immer gewünscht hatte und die er nicht gleich am dritten Tag wieder hinwarf. Sie wünschte es ihm, denn dann würde auch für sie vieles leichter sein.

Kathie steckte die vierhundert Mark – die sie insgeheim schon abgeschrieben hatte – in einen Briefumschlag und legte ihn zu ihrem Sparbuch. Später konnte sie, auf dem Weg zur Arbeit, bei der Bank vorbeigehen und das Geld einzahlen. Viel war es net, aber immerhin ein Notgroschen.

Erleichtert über die neue Lebenssituation ihres Bruders, bereitete sie sich auf den Spätdienst vor. Dazu gehörte, daß sie sich sorgfältig frisierte und ein wenig schminkte. Nicht zuviel, nur so, daß die gepflegte Erscheinung unterstrichen wurde.

Sie saß im Bad vor dem Spiegel und hielt plötzlich inne. Nach zwei freien Tagen freute sie sich wieder auf die Arbeit, doch eben, als sie an das Hotel und die Kollegen dachte, spürte sie ihr Herz heftig klopfen, denn in diese Gedanken schlich sich ein Name ein – Robert Demant.

Kathie hielt in ihrer Tätigkeit inne. Bis zu diesem Augenblick war er nicht mehr, als eine flüchtige Bekanntschaft gewesen, doch nun merkte sie, daß sie plötzlich viel intensiver an ihn dachte, als zuvor…

Und ihr Herz schlug auf einmal viel schneller, sehr viel schneller!

*

Sie ahnte nicht, daß es Robert Demant nicht anders erging. Der Kunstmaler saß wieder am Fenster des Hotelzimmers, es war schon so etwas wie sein Lieblingsplatz geworden. Nachdem er zunächst gedankenverloren hinausgeschaut hatte, stand er schließlich auf und nahm das Köfferchen mit den Malutensilien zur Hand. Neben Farben, Pinseln und Lösungsmitteln befanden sich ein Skizzenblock und Zeichenkohle darin.

Robert verspürte seit langer Zeit wieder einmal den Drang, etwas aufs Papier zu bringen. Mit nur wenigen Strichen skizzierte er das Panorama des Zwillingsgipfel, das sich ihm so prächtig darbot. Doch bevor er daran ging, die

Skizze auszuarbeiten, legte er die Kohle zur Seite. Wie so oft an diesem Tag mußte er an das junge Madel denken, in das er rettungslos verliebt war. Er sehnte den Abend herbei, wo er Kathie in seiner Nähe wußte, auch wenn sie dann nur arbeitete und für ihn kaum Zeit haben würde. Aber da war ja immer noch die Aussicht, auf einen gemeinsamen Ausflug. Sie hatte doch versprochen, ihm alles zu zeigen.

Er riß das Blatt Papier vom

Skizzenblock und verharrte einen kurzen Moment mit geschlossenen Augen. Einen Moment, in dem er sich das Gesicht, das er so sehr lieb gewonnen hatte, ins Gedächtnis rief. Dann warf er mit schnellen Bewegungen das Antlitz der geliebten Frau auf das Weiß. Das schmale Kinn, darüber die geschwungenen Lippen und die kleine Nase. Zuletzt die Augen, die so herrlich strahlten, in ihrem samtenen Braun.

Kritisch betrachtete er sein Werk, radierte hier und verbesserte da und nickte schließlich zufrieden. Ja, das war das Gesicht. Das war Katharina Lehmbacher. Die Augen waren so gezeichnet, daß der Betrachter meinte, der Blick des Madels würde immer ihm folgen, egal, wohin er sich auch wandte.

Robert setzte sich auf das Bett und stellte den Skizzenblock so an die Nachttischlampe, daß er das Bild immer im Blick hatte. Dann schaute er es lange und intensiv an.

*

Wolfgang Lehmbacher fuhr den Wagen mit hohem Tempo über die Autobahn. Schon der zweite Auftrag in einer Woche. Wenn das so weiterlief, dann brauchte er sich um seine Zukunft keine Gedanken machen.

Die heutige Tour ging nach Südtirol. Wenn alles glatt lief, würde er morgen mittag den Wagen abgeliefert haben und dann bequem mit dem Zug die Heimreise antreten. Gut gelaunt schaltete er das Radio ein und pfiff die Melodie des Schlagers mit, der gerade gesendet wurde. Dabei mußte er an Kathie denken. Die hatte vielleicht Augen gemacht? Und ihm hatte es gefallen, ihr endlich einmal Geld zu geben, anstatt es immer nur von ihr zu nehmen. Mal sehen, dachte er, vielleicht fand sich ein schönes Andenken, das er ihr mitbringen konnte. Eine Kette vielleicht, oder ein Armband. Wenn er das Auto seinem neuen Besitzer übergeben hatte, war noch genügend Zeit, um einen kleinen Einkaufsbummel zu machen. Auf jeden Fall sollte es eine Überraschung für die Schwester werden. Wolfgang wußte, daß sie es nicht immer leicht mit ihm gehabt hatte. Er mußte zugeben, daß es leichtsinnig und auch dumm gewesen war, das Studium einfach hinzuschmeißen, ohne zu wissen, wie es weitergehen sollte. Mit etlichen Aushilfsjobs hatte er versucht, sich über Wasser zu halten. Doch meistens hatte er nach nur wenigen Tagen wieder aufgehört. Entweder war ihm die Arbeit zu stumpfsinnig, oder sie wurde schlecht bezahlt. Da war sein neuer Job doch etwas ganz anderes. Der Herr Krammler zeigte sich äußerst großzügig. Wolfgang dachte an das viele Geld, daß er in seiner Brieftasche trug. Obwohl er seine ganzen Schulden bezahlt und sich neu eingekleidet hatte, war es mehr, als er für gewöhnlich in der Tasche hatte. Dabei hatte er auch noch die Miete für das möblierte Zimmer, das er in Engelsbach bewohnte, für die nächsten drei Monate im voraus bezahlt.

Ach ja, es ging ihm wirklich gut!

*

Das dachte auch Robert Demant, als er im Restaurant des Hotels saß und aus Kathies Hand die Speisekarte entgegennahm. Die junge Saaltochter hatte ihm zugelächelt, als er hereingekommen war, und ihn an den Tisch begleitet. Robert hätte alles darum gegeben, könnte das Madel neben ihm sitzen. Aber das ging natürlich nicht.

Er ließ sich bei der Auswahl seines Abendessens beraten und bestellte nach Kathies Vorschlägen.

»Ich vertraue Ihnen blind«, sagte er gut gelaunt.

Als sie ihm schließlich den Schoppen Wein brachte, heute war’s ein roter, und er davon trank, wußte er, daß es auch diesmal die richtige Wahl war. Er nahm einen neuen Schluck und dachte, ja, es geht mir richtig gut!

»Wie lang’ müssen S’ denn arbeiten?« erkundigte er sich, als Kathie den Tisch abräumte.

Die junge Frau deutete auf die besetzten Tische.

»Eigentlich bis zehn«, antwortete sie. »Aber Sie sehen ja, was los ist, da kann es leicht sehr viel später werden. Außerdem ist drüben im Lokal Stammtischabend. Wenn die Brüder richtig in Fahrt kommen, wollens’ gar net mehr nach Haus. Und ich muß die Kollegin später ablösen.«

»Haben S’ sich denn schon Gedanken um unseren Ausflug gemacht.«

»Und ob«, nickte sie schmunzelnd. »Lassen S’ sich überraschen. Aber eins kann ich Ihnen jetzt schon sagen – Sie werden ins Schwitzen kommen.«

»Wann soll’s denn losgehen?«

»Morgen, so gegen elf«, schlug Kathie vor. »Wanderschuh’ sind Pflicht, aber keine dicke Joppen, sonst werden S’ wirklich schwitzen wie ein Ochs’.«

Lachend brachte sie das Geschirr zur Küche. Sepp Reisinger, der das Gespräch zwar mitverfolgt, aber nicht verstanden hatte, kam an Roberts Tisch. Er wußte inzwischen, daß seine Angestellte mit dem Gast bekannt war.

»Sie waren zufrieden?« fragte er.

»Wie immer«, antwortete der Kunstmaler. »Ihre Frau ist eine exzellente Köchin.«

»Wenn S’ mögen, dann sind S’ nachher zum Stammtisch eingeladen, läßt unser Herr Pfarrer Ihnen ausrichten.«

»Warum net«, nickte Robert Demant.

Der Geistliche war ihm gleich sympathisch gewesen, und es war lange her, daß der Maler an einem echten Männerstammtisch teilgenommen hatte.

*

Herrschten im Restaurant des Hotels edles Tafelsilber, Kerzenleuchter und gestärkte Tischdecken vor, so war es in der Wirtsstube ungleich rustikaler. Holzbänke und Tische standen darin, auf denen keine Decken lagen. Statt heller Kronleuchter, hingen schwere Lampen darüber, die aus den Geweihen erlegter Hirsche gearbeitet waren. Die Wände schmückten Bilder und Schnitzereien, die Szenen aus dem Leben der einfachen Bergbauern wiedergaben und die Holzvertäfelung war von Generationen von Pfeifen- und Zigarrenrauchern wirklich schwarz gefärbt worden.

Rechts neben dem Tresen stand der runde Stammtisch, an dem bis zu zehn Personen sitzen konnten. Einmal in der Woche trafen sich dort die Honoratioren des Ortes zu einem gemütlichen Plausch, der auch schon mal – je nachdem, worüber man sich unterhielt – zu einem Streit, oft gar politischer Art, auswachsen konnte.

Heute saßen neben Sebastian Trenker und dessen Bruder Max auch der Bürgermeister von St. Johann sowie Dr. Toni Wiesinger, der junge Mediziner, dort, der vor nicht all zu langer Zeit die Praxis des verstorbenen Dorfarztes übernommen hatte.

Als Robert Demant in die Gaststube trat, stand Pfarrer Trenker auf und empfing ihn.

»Schön, daß Sie sich ein wenig zu uns gesellen wollen«, begrüßte er ihn.

Robert bedankte sich für die Einladung und überließ es dem Geistlichen, ihn vorzustellen.

»Also, das ist Herr Demant, ein bekannter Kunstmaler aus München«, erklärte Sebastian den anderen.

Er nannte die Namen der anderen, und Robert begrüßte sie mit einem Kopfnicken.

»Setzen S’ sich«, forderte Sebastian auf und winkte die junge Bedienung heran.

»Vielen Dank für Ihre Einladung«, sagte Robert noch einmal. »Wenn S’ erlauben, dann geht die nächste Runde auf mich.«

Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden. Man prostete sich zu, und als das Gespräch in Gange gekommen war, schien es, als gehöre Robert Demant schon seit ewigen Zeiten in die Stammtischrunde.

Thema war, wie so oft, der Ausbau des Fremdenverkehrs. Hier kamen Pfarrer Trenker und Bürgermeister Bruckner sich oft ins Gehege, denn Sebastian hatte mehr als einmal alle Hände voll zu tun, die hochtrabenden Pläne des Kommunalpolitikers in die Schranken zu weisen. Wäre es nach dem Bruckner-Markus gegangen, so müßte St. Johann in einer Reihe mit so bekannten Wintersport- und Kurorten, wie St. Moritz, Davos oder Kitzbühel stehen. Dazu bedurfte es natürlich enormer Um- und Neubauten, die nicht nur sehr viel Geld kosteten, sie bedeuteten auch schwerwiegende Eingriffe in die Natur, die gerade hier noch sehr intakt war.

»Leute, denkt doch nur einmal an die Steuereinnahmen«, gab Markus zu bedenken. »Ganz abgesehen von den Umsätzen, die die Geschäftsleute machen würden.«

»Aber zu welchem Preis?« wandte Dr. Wiesinger ein, der in dieser Frage auf der Seite des Geistlichen stand. »Lohnt es sich wirklich, wegen einiger hundert Mark, die mehr in der Kasse klingeln, eine gesunde Umwelt durch den Massentourismus in Gefahr zu bringen?«

»Die Leut’ kommen nur, wenn man ihnen Attraktionen anbietet«, beharrte Markus Bruckner auf seinem Standpunkt. »Und die haben wir nun einmal nicht.«

»Sag’ das net, Bürgermeister«, widersprach Pfarrer Trenker. »Es gibt den herrlichen Wanderweg über die Hohe Riest, den Höllenbruch, schließlich den Ainringer Forst, als Naherholungsgebiet, und, schlußendlich, haben wir den Zwillingsgipfel, der eine Herausforderung für jeden Bergsteiger ist. Wenn das net Attraktionen genug sind, dann weiß ich auch net…«

»Net zu vergessen, der Achsteiner-See«, fügte Max Trenker hinzu. »Da gibt’s reichlich Freizeitmöglichkeiten, vom Surfen bis zum Tretbootfahren. Sogar Camping.«

»Der gehört zur Gemeinde Waldeck, und davon haben wir gar nix«, konterte der Bürgermeister.

Robert Demant hatte dem Disput eine Weile zugehört.

»Also, wenn mich jemand fragt«, mischte er sich ein, »mir gefällt an St. Johann gerade, daß es net so überlaufen ist. Ich kenn’ die anderen Orte net so genau, aber ich könnt’ mir vorstellen, daß es auch dort viele Menschen gibt, die froh wären, wenn es bei ihnen etwas ruhiger zuging.«

»Aber, finden S’ denn net auch, daß zu einem modernen Ort, ein modernes Tourismusangebot gehört?«

»Nein, im Gegenteil«, wandte der Maler sich direkt an den Bürgermeister. »Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Menschen sich nach Ruhe und Beschaulichkeit sehnen. Mit knapp über dreißig fühle ich mich den jungen Leuten durchaus noch zugehörig. Dennoch hat es mich nicht dorthin gezogen, wo ›alle Welt‹ Urlaub macht. Der Prospekt, den ich in München im Reisebüro zu lesen bekam, hat geradezu den Wunsch in mir geweckt, hierher zu fahren und net an den See oder in den Ort, der gerade ›in‹ ist.«

Doch damit war die Debatte noch lange nicht beendet. Bis in die Nacht zog sie sich hin. Katharina Lehmbacher hatte inzwischen den Dienst in der Wirtsstube übernommen, was von Robert mit einem Lächeln quittiert wurde.

Sebastian Trenker war dieses Lächeln nicht verborgen geblieben. Er ahnte, daß es ein unsichtbares Band gab, das den Maler und das junge Madel verband.

Der Pfarrer kannte Kathie und wußte um deren Bruder, der seiner Schwester oft Kummer machte, weil er keiner geregelten Arbeit nachging. Jetzt fiel ihm auf, daß das Madel fröhlicher als sonst schien. Der Grund dafür saß offenbar hier am Stammtisch. Sebastian beobachtete den Blick, den die beiden sich zuwarfen, und schmunzelte still in sich hinein.

*

Immer wieder schaute Robert Demant ungeduldig auf die Uhr. Er stand vor dem Hotel und wartete. Endlich war es soweit. Kurz vor elf sah er Kathie die Straße heraufkommen. Freudestrahlend ging er ihr entgegen. Das junge Madel trug Kniebundhosen, Wanderschuhe und einen leichten

Anorak. Auf dem Rücken hing ein Rucksack. Kritisch nahm sie Roberts Äußeres unter die Lupe. Auch er hatte derbe Stiefel angezogen, trug eine Cordhose und ebenfalls einen Anorak. Irma Reisinger hatte ihm eine Brotzeit und eine Thermosflasche Tee eingepackt, die er in einem Rucksack untergebracht hatte, den die Wirtin ihm freundlicherweise auslieh.

»Nun, sind S’ zufrieden, mit dem, was Sie sehen?« fragte er. Kathie nickte.

»Absolut«, sagte sie. »Dann kann’s losgehen.«

»Und wohin, wenn man fragen darf?«

»Man darf. Ich hab’ mir für heut’ eine kleine Tour ausgedacht, es geht auf die Kanderer-Alm. Es ist schon ein ganz schöner Marsch, dort hinauf. Aber es lohnt sich. Haben S’ einen Fotoapparat dabei?«

»Ich besitze gar keinen«, gestand der Maler.

»Macht nix«, erwiderte das Madel. »Ich hab’ einen, und später können S’ die Abzüge bekommen.«

Der Aufstieg begann relativ leicht, wurde aber schwerer, je höher sie kamen. Robert bewunderte die Kondition der jungen Frau. Der Stammtisch hatte sich bis nach Mitternacht hingezogen, da war der Maler schon recht müde gewesen und sehr schnell eingeschlafen. Am Morgen hatte er sich aus dem Bett zwingen müssen. Erst der Gedanke an die Verabredung mit dem Madel hatte ihn munter gemacht.

Kathie hingegen wirkte frisch und ausgruht. Dabei mußte es bei ihr ja noch später gewesen sein, bevor auch sie endlich Feierabend machen konnte. Schließlich mußte ja erst aufgeräumt und abgerechnet werden.

Nach eineinhalb Stunden gab Kathie das Zeichen zur ersten Pause. Sie hatten die Hohe Riest überquert, und vor ihnen erstreckte sich eine weite Almwiese. Von der anderen Seite grüßte der Zwillingsgipfel.

»Tun wir’s den Viechern gleich«, meinte sie fröhlich und zeigte auf eine Anzahl Kühe, die sich auf der Wiese Kräuter und Wildblumen schmecken ließen.

Sie setzten sich auf das Gras und holten die Verpflegung hervor. Robert ließ es sich besonderes schmecken. Hier in der freien Natur war es noch köstlicher als ohnehin.

»Kunstmaler sind S’ also, wie ich g’hört hab’«, sagte Kathie zwischendurch. »Was für Bilder malen S’ denn?«

Robert war zunächst erfreut, daß sie völlig unbedarft schien. Von seiner Berühmtheit schien sie gar keine Ahnung zu haben.

»Es hat lange gedauert, bis ich meinen Stil gefunden habe«, erklärte er. »Früher waren meine Bilder wild und ungestüm, so, wie ich auch. Inzwischen bin ich viel ruhiger, die Bilder ebenfalls. Der Stil ist naturalistisch.«

Kathie spielte gedankenverloren mit einem Grashalm.

»Und wo kann man Ihre Bilder sehen?« fragte sie.

Robert hob die Schulter.

»Das weiß ich eigentlich gar net so genau«, erwiderte er. »In München gibt es einen Galeristen, der sie ausstellt und verkauft. Ein paar hängen in verschiedenen Museen, und die meisten sind in Privatbesitz.«

»In Museen sogar«, staunte Kathie. »Dann sind S’ wohl sehr berühmt?«

Robert lachte.

»Das ist so eine Sache mit der Berühmtheit«, entgegnete er. »Solange man gut ist und Erfolg hat, ist es schön, berühmt zu sein, doch wehe, man befriedigt den Geschmack des Publikums net mehr, dann kann es auch ein Fluch sein, wenn man so bekannt ist.«

Das Madel sah ihn nachdenklich an.

»Und Sie hat dieser Fluch getroffen?«

Der Maler war überrascht, daß sie es sofort erkannt hatte.

»Ja«, nickte er. »Sehr plötzlich und sehr hart. Beinahe über Nacht geriet ich in eine Schaffenskrise. Meine Bilder wurden vom Publikum kaum noch wahrgenommen, und von der Kritik in Grund und Boden gestampft. Es hätte net viel gefehlt und aus der Schaffenskrise wäre eine Identitätskrise geworden. Ich zweifelte nicht nur an meiner Kunst, sondern an mir selbst. Mein Fortgang aus München glich einer regelrechten Flucht. Ich war sicher, nie wieder einen Pinsel in die Hand zu nehmen, nie wieder Farben zu mischen und auf die Leinwand zu bringen, nie wieder das Glücksgefühl zu empfinden, das einen überfällt, wenn man ein Werk vollendet hat.«

Er hielt einen Moment inne und schaute sie beinahe zärtlich an. Kathie sah diesen Blick, und er verwirrte sie so, wie ihre Gedanken sie verwirrten, die sich seit gestern nur noch mit dem Mann beschäftigten, der jetzt neben ihr saß.

»Doch seit ich hier bin, geht es mir viel besser«, fuhr Robert fort. »Ich schöpfe neue Kraft und Hoffnung, und vielleicht schon bald werde ich ein neues Bild beginnen. Ich sehe es schon ganz genau vor mir, jede Einzelheit…«

Wie gerne hätte er jetzt ihre Hand ergriffen und sie an sich gezogen. Doch irgend etwas hielt ihn davon ab. Vielleicht der Gedanke, das solch eine Handlung den Zauber des Augenblicks zerstört hätte. So ahnte jeder die Sehnsucht des anderen, doch noch blieb sie unerfüllt.

*

Wie aus einem Traum erwachend standen sie auf und setzten ihren Weg fort. Zur Kanderer-Alm war es noch ein gutes Stück zu gehen. Immer höher hinauf, über karges Gestein und schmale

Pfade. Schließlich erreichten sie einen breiten Weg, der von der anderen Seite des Tales heraufführte.

»Jetzt wird’s einfacher«, erklärte Kathie. »Das ist der Wirtschaftsweg zur Kanderer. Der wär’ natürlich bequemer gewesen, aber längst net so schön.«

Robert holte tief Luft, bevor er antwortete.

»Schön war’s wirklich«, prustete er. »Aber auch anstrengend.«

»Dafür werden S’ gleich mit der besten Milch belohnt, die’s überhaupt gibt. Da schmecken S’ richtig die Blumen und Kräuter, die die Küh’ gefressen haben.«

Kathie übertrieb nicht. Als sie vor der Sonnenwirtschaft auf den Holzbänken saßen und zwei große Gläser kalte Milch vor sich stehen hatten, überkam sie beide ein wohliges Gefühl. Es war das Gefühl, etwas geschafft, der Anstrengung getrotzt zu haben. Kathie nahm ihr Glas und prostete dem Maler zu.

Es war einfach herrlich, das eiskalte Getränk die ausgedörrte Kehle hinunterfließen zu spüren. Und wie es schmeckte! Robert war sicher, nie zuvor solch eine Milch getrunken zu haben.

»Na, hab’ ich zuviel versprochen?« fragte Kathie und wischte sich den weißen Milchbart vom Mund.

Robert schüttelte den Kopf.

»Nein, ganz gewiß net. Das ist net einfach nur Milch, das ist ein Getränk für die Götter!«

Lachend bestellten sie zwei neue Gläser und verzehrten dazu ein Brot, das mit herzhaftem Bergkäse belegt war, den der Senner seit Monaten gepflegt und erst am Morgen angeschnitten hatte.

»Ich denk’, ich werd’ auf jeden Fall länger, als nur eine Woche bleiben«, sagte Robert Demant, als sie sich auf den Rückweg machten. »Es ist so schön hier, ich will es einfach noch genießen. Außerdem – bei solch einer netten Fremdenführerin… ich hoffe doch, daß dies net unser letzter Ausflug gewesen ist.«

»Es gibt noch viele schöne Ecken«, antwortete Katharina Lehmbacher. »Ich zeig’ Sie Ihnen gern’.«

»Ich nehm’ Sie beim Wort«, drohte er schmunzelnd.

Als sie am Nachmittag wieder im Tal angelangt waren, blieb Kathie gerade noch Zeit, sich auf den Dienst vorzubereiten. Kaum, daß sie ein paar Minuten hatte, um sich auszuruhen. Dennoch machte sie wie immer einen fröhlichen, ausgeglichenen Eindruck.

Robert, der geglaubt hatte, todmüde ins Bett zu fallen, war indes viel zu aufgekratzt. Er nahm den Skizzenblock und setzte sich wieder an das Fenster. Kathies Gesicht lachte ihm entgegen, und der Maler spürte mit jeder Faser, wie sehr er das junge Madel begehrte.

Die Begegnung mit ihr hatte ihm wieder neuen Lebensmut gegeben. Vom ersten Augenblick ihres Kennenlernens war es ihr gelungen, die dunklen Gedanken, die ihn beherrschten, zu verdrängen, und die Krise war schneller überwunden, als er es zu hoffen gewagt hatte. Unbändig fühlte er den Drang, wieder zu Pinsel und Farben zu greifen. Einem ersten Impuls folgend, hatte der Maler eigentlich alles zu Hause lassen wollen, was mit seinem Beruf zusammenhing. Robert war froh, es nicht getan zu haben. In dem kleinen Koffer war alles, was er benötigte, um ein neues Bild zu beginnen. Lediglich eine Leinwand hatte er nicht mitgenommen. Doch die aufzutreiben, sollte keine Schwierigkeit sein. Er wollte wieder malen, und es würde wieder so sein, wie früher. Und zum ersten Mal würde er dazu keine Vorlage brauchen, kein Modell, denn was er malen wollte stand fest.

Das Bild der Frau, die er liebte, und das war ja schon fertig – fest eingebrannt in seinem Herzen.

*

Justus Krammler sah kurz von seinem Schreibtisch auf, als Manuela das Arbeitszimmer betrat.

»Was gibt’s?« fragte er.

»Wolfgang Lehmbacher ist da.«

Krammlers Miene erhellte sich.

»Sehr gut«, nickte er. »Auf ihn ist Verlaß. Heut’ könnt’s zum ersten Mal ein wenig heikel werden.«

Seine Frau war an den Schreibtisch getreten. Sie legte ihren Arm um den Hals des Mannes.

»Glaubst’ net, daß es noch zu früh ist, ihn für solch gefährliche Tour auszusuchen? Wenn nun etwas schiefgeht?«

Ihr Mann hob die Arme.

»Was soll ich denn machen?« fragte er. »Der Bichler fällt die nächsten Tage aus, und der Wagen muß morgen früh in Polen sein. Außerdem – ich möcht’ ihn auch net länger auf dem Hof haben. Nein, nein, der Lehmbacher macht das schon.«

»Ich denk’, wir sollten in der nächsten Zeit etwas kürzer treten«, meinte Manuela Krammler. »Es waren sehr viele Autos in den letzten Wochen. Die Polizei schläft auch net, und ich möcht’ net die nächsten Jahre im Gefängnis verbringen.«

»Na schön«, lenkte ihr Mann ein. »Diesen einen noch, dann ist erst einmal Schluß. Mal sehen, vielleicht fahren wir ein paar Wochen in Urlaub. Leisten können wir’s uns ja. Tät’ dir die Karibik gefallen?«

Manuela stieß einen entzückten Schrei aus. Sie umarmte ihn und gab ihm einen dicken Kuß.

»Nun komm«, drängte Justus Krammler. »Wir wollen unseren Herrn Lehmbacher net zu lange warten lassen.«

Er ging an den Safe und nahm ein paar Geldscheine heraus, dann folgte er seiner Frau nach draußen.

Wolfgang Lehmbacher ging in der Halle auf und ab. Immer wieder schaute er bewundernd auf die wertvollen Bilder, Teppiche und Möbel. Der Herr Krammler mußte wohl ein Heidengeld mit seinem Autoexport verdienen! Na ja, dachte Wolfgang, wenn ich dabei bleibe, dann kann ich mir auch einigen Luxux leisten.

Heute sollte seine dritte Tour stattfinden. Er war gespannt, wohin sie ihn führen würde. Von dem Geld, daß er bisher verdient hatte, war der größte Teil tatsächlich von ihm zur Seite gelegt worden. Wolfgang hatte sich ernsthaft vorgenommen, sparsam damit umzugehen. Er hatte sich ausgerechnet, wieviel er verdiente, wenn er jede Woche drei solcher Touren hatte. Da würde im Monat mehr herauskommen, als er jemals zuvor für irgendeine Arbeit erhalten hatte.

Und davon ließ sich prima leben.

Am Anfang hatte er leise Zweifel gehabt, ob denn bei seinem neuen Job alles mit rechten Dingen zugehe. Eine Exportfirma Krammler, die Autos ins Ausland verkaufte, war ihm bis dahin nicht bekannt gewesen. Doch der Hinweis seines neuen Chefs auf dessen Geschäfte im Internet, hatten Wolfgangs Bedenken zerstreut. Kathies Bruder kannte sich nur wenig mit diesen neuen Medien aus, es interessierte ihn nicht sonderlich, nächtelang vor dem Computer zu sitzen. Aber wer wußte schon, daß es solche Geschäfte gab, wie Krammler sie tätigte.

Was sollte daran unseriös sein?

»Ah, da sind S’ ja, lieber Herr Lehmbacher«, rief Justus Krammler, als er in die Halle trat.

Er schüttelte Wolfgang die Hand.

»So, hier ist ein Vorschuß, wie immer«, sagte er dann und zählte ihm das Geld in die Hand. »Tausend Mark, plus dreihundert für die Spesen.«

»Wohin geht’s denn diesmal?«

Krammler zog ihn mit sich zu der Tür, die die Villa mit der riesengroßen Garage verband.

»Nach Polen«, antwortete er. »Ihren Reisepaß haben S’ doch dabei?«

»Natürlich. Sie hatten ja gesagt, daß ich ihn brauchen werde.«

»Sehr schön«, nickte sein Chef und schaltete das Licht ein.

Es war ein dunkelblauer Sportwagen. Der Schlüssel steckte. Wolfgang setzte sich hinein, und Krammler reichte ihm das Blatt Papier mit den Angaben über die Fahrtstrecke und die Adresse des Kunden.

»Passen S’ gut auf ihn auf«, ermahnte Justus Krammler seinen Fahrer. »Und gute Fahrt.«

»Mach’ ich, Chef«, antwortete Wolfgang und winkte Manuela Krammler zu, die das Garagentor geöffnet hatte und nun neben ihrem Mann stand.

Beide winkten zurück. Das Tor schloß wieder elektrisch, als der Sportwagen vom Hof gefahren war.

»Hoffentlich geht alles gut«, sagte die Frau. »Ich hab’ ein ungutes Gefühl.«

»Nun unk’ bloß net herum«, raunzte ihr Mann. »Der Bursche ist goldrichtig.«

»Aber diesmal hat er einen Zöllner an der Grenze«, gab Manuela zu bedenken. »Du hättest ihm sagen sollen, was da unter Umständen auf ihn zukommen kann. Die Papiere sind in Ordnung?«

»Absolut«, antwortete ihr Mann. »Besser können sie gar net sein…«

Dabei grinste er.

Manuela schaute ihn einen Moment fragend an, dann weitete sich ihr Gesicht vor Entsetzen.

»Du hast ihm doch nicht etwa die Originalpapiere mitgegeben?«

Krammler zuckte die Schulter.

»Was hätt’ ich denn machen sollen? Der Wagen ist erst in der letzten Nacht beschafft worden, und so schnell konnt’ ich keine anderen Papiere besorgen. Der Kunde in Polen besteht nun mal darauf, daß der Wagen morgen früh da ist. Ich hatte doch gar keine andere Wahl, als die Originalpapiere zu nehmen.«

Er legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie mit ins Haus.

»Wird schon schiefgehen«, beruhigte er sie. »Und wenn nicht? Pech gehabt. Ich kenne den Herrn net, der da jetzt mit einem blauen Sportwagen nach Polen unterwegs ist. Du etwa? Na, also. Auf meinem Schreibtisch liegen Kataloge aus dem Reisebüro. Such’ dir etwas Schönes aus.«

Seine Frau schmiegte sich an ihn. Es war schon ein herrliches Gefühl, wenn man sich keine Gedanken um das Geld machen mußte, dachte sie.

*

Pfarrer Trenker hatte sich endlich einmal wieder die Zeit für seine Lieblingsbeschäftigung genommen – das Bergwandern. In den letzten Wochen war sein Hobby eindeutig zu kurz gekommen, zuviel war es gewesen, das den Geistlichen in Anspruch nahm und um das er sich in seiner Eigenschaft als Seelsorger kümmern mußte.

In aller Herrgottsfrühe machte Sebastian sich auf den Weg. Sophie Tappert hatte ihm den Rucksack, wie immer, gut gefüllt. Brot und Schinken befanden sich darin, außerdem Kaffee, heißgehalten in einer Thermoskanne. Natürlich hatte die Haushälterin ihn auch diesmal ermahnt, vorsichtig zu sein. Sie hatte eine Heidenangst, der Herr Pfarrer könne durch eine Unachtsamkeit in eine Schlucht stürzen, oder so etwas Ähnliches.

Dabei war diese Ermahnung bei Pfarrer Trenker mehr als überflüssig. Er kannte sich in den Bergen aus, wie kein zweiter. Jeder Hügel, jeder Strauch war ihm vertraut. Nicht umsonst nannte man ihn den »Bergpfarrer«, was weniger mit seinem Beruf zu tun hatte, als viel mehr mit seiner Leidenschaft fürs Wandern und Klettern. Manchen gut gemeinten Spott hatte er schon über sich ergehen lassen, weil seine engsten Freunde eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Namensvetter, dem Schauspieler und Regisseur, Luis Trenker sehen wollten, und, tatsächlich sah man Sebastian seinen Beruf nicht an. Besonders, wenn er seine Wanderkleidung trug. Dann hatte er schon manchen, der ihn nicht kannte, durch sein sportliches, durchtrainiertes Aussehen verblüfft. Es war sogar schon vorgekommen, daß man ihn für einen Schauspieler gehalten hatte, was der Geistliche mit einem Lachen verneinte.

Sebastian hatte den Fuß der Hohen Riest erreicht und machte sich an den Aufstieg. Über dem Himmelsspitz und der Wintermaid stand schon die Sonne, als er schließlich eine erste Pause einlegte. Von dort oben hatte er einen herrlichen Rundblick, bis über den Ainringer Forst. Wieder einmal war der Geistliche von dem grandiosen Panorama gefesselt, und er war dankbar, Gottes Schöpfung so unmittelbar erleben zu dürfen.

Unter ihm bewegte sich ein dunkler Punkt, der sich beim Näherkommen, als ein weiterer Wandersmann herausstellte. Sebastian indes setzte seinen Weg fort, bis er die Kanderer-Alm erreichte. Er schaute immer wieder gerne hier vorbei, wußte er doch, daß die Sennerfamilie sich darauf freute, wieder einmal ein Wort mit ihm zu wechseln. Außerdem kaufte er auf der Almhütte von dem Bergkäse ein gutes Stück, der im Pfarrhaushalt gerne gegessen wurde.

Der alte Lorenz hatte ihn schon von weitem kommen sehen. Trotz seiner weit über sechzig Jahre hatte der Alte immer noch Augen wie ein Adler.

»Grüß’ Gott, Herr Pfarrer«, begrüßte er Sebastian.

Theresa, seine Frau, trat aus der Tür, gefolgt von einem wild umherspringenden Hund.

»Hochwürden, schön, daß S’ uns wieder einmal besuchen«, rief sie.

»Pfüat euch, ihr zwei«, nickte Sebastian. »Ich wär’ schon viel eher mal gekommen, wenn ich denn die Zeit dazu gehabt hätte.«

Resl eilte wieder in die Almhütte, um eine Brotzeit vorzubereiten, die natürlich aus Käse und Milch bestand.

»Euch geht’s gut, hoff’ ich?« erkundigte Pfarrer Trenker sich, während die drei es sich schmecken ließen.

»Wir können net klagen«, entgegnet Lorenz. »Jetzt ist’s auch noch ein bissel ruhiger. Wenn die Touristen erst einmal kommen, geht’s anders zu, bei uns hier d’roben.«

»Und wie schaut’s d’runten im Tal aus?« wollte Resl wissen.

»Ist schon alles in Ordnung bei uns«, erzählte Sebastian. »Bis auf ein paar Kleinigkeiten. Nur eine Sache gibt’s, die mir Sorge macht.«

Er berichtete von den sich häufenden Autodiebstählen.

»Na, da sind wir froh, daß wir hier oben nix damit zu tun haben«, meinte Lorenz. »Hier gibt’s kein Auto, das man stehlen könnt’.«

Er wandte sich an seine Frau.

»Siehst, Mutter, es hat schon sein Gutes, daß wir uns für die Alm entschieden haben.«

Resl sah ihren Mann liebevoll an und nickte.

Der Seelsorger erhob sich.

»Ja, Leute, es wird Zeit, daß ich mich auf den Rückweg mach’«, sagte er. »Ach, bevor ich’s vergeß, Resl, bitt’schön, pack mir noch was von eurem Käs’ ein. Die Frau Tappert würd’s mir net verzeihen, wenn ich keinen mit heimbrächte.«

Die Sennerin lief in die Hütte, um den Wunsch des Pfarrers zu erfüllen. Es war ein großes Stück Käse, das sie schließlich brachte. Die beiden alten Leute bestanden darauf, es dem Geistlichen zu schenken und ließen sich nicht davon abbringen.

»Dann vergelt’s Gott«, bedankte Sebastian sich und packte das Käsestück in seinen

Rucksack. »Bis zum nächsten Mal.«

Die Sennersleute winkten ihm hinterher, bis der Seelsorger nicht mehr zu sehen war.

*

Kurze Zeit später traf Sebastian auf jemanden, den er hier oben nicht erwartet hätte. Am Rande einer Almwiese hockte Robert Demant auf einem Felsbrocken. Vor ihm stand eine Staffelei im Gras, darauf eine Leinwand.

Der Kunstmaler war noch am Abend vorher in die Kreisstadt gefahren, nachdem es unmöglich war, in St. Johann eine Leinwand aufzutreiben. In einem Fachgeschäft fand er, was er suchte. Sogar die Staffelei erwarb er dort. Derart ausgerüstet hatte er sich gleich am Morgen auf den Weg gemacht. Da er sich nicht so gut auskannte, hatte er eine Stelle ausgesucht, an der er am Vortag mit Kathie gesessen hatte.

»Ich grüße Sie«, sagte Pfarrer Trenker, nachdem er den Maler erkannt hatte. »Wie ich seh’, können S’ auch im Urlaub net ohne Pinsel und Palette auskommen.«

Er warf einen Blick auf das Bild und erkannte das Gesicht einer jungen Frau, das mit wenigen Strichen skizziert war.

»Ja, es hat mich wieder gepackt«, bestätigte Robert. »Kommen S’, setzen S’ sich einen Augenblick zu mir.«

Sebastian nahm die Einladung gerne an. Er spürte, daß der Maler den Drang hatte, sich ihm mitzuteilen.

»Sehen S’, Herr Pfarrer, noch vor ein paar Tagen, da hatte ich das entsetzliche Gefühl einer großen Leere in mir. Irgendwie trat ich auf der Stelle, kam einfach net voran. Meine Kunst interessierte mich net mehr, und die Menschen merkten das natürlich. Allen voran die Kritiker, die kein gutes Haar an mir ließen.

Dann lernte ich jemanden kennen, und diese Bekanntschaft veränderte mein Leben. Plötzlich wurde mir klar, wieviel mir die Malerei bedeutet, die ich noch vor kurzem so verdammt hatte. Und ich spürte die ungeheure Kraft, die von diesem Menschen ausgeht und mich erfüllt. Ja, ich kann und werde wieder malen. Dieses Bild ist erst der Anfang, aber ein ganz besonderer, denn es ist der Frau gewidmet, die mir mehr bedeutet, als jeder Mensch zuvor.«

Er sah Sebastian an.

»Ich war innerlich gestorben, Hochwürden, jetzt können S’ mich wieder unter den Lebenden begrüßen.«

Pfarrer Trenker hatte einen kurzen Blick auf die Leinwand geworfen. Trotz der wenigen Bleistiftstriche wußte er, wen das fertige Bild später einmal darstellen sollte.

»Ich freue mich für Sie und für Katharina Lehmbacher«, sagte er. »Sie ist wirklich ein wunderbarer Mensch.«

»Ja, das ist sie, denn sie hat ein Wunder an mir vollbracht.«

Er machte eine bittende Geste.

»Verzeihen S’ mir, Hochwürden, ich weiß natürlich, daß Wunder eher in Ihr Ressort gehören, dennoch…«

Sebastian Trenker lachte.

»Wer weiß«, antwortete er, »ob unser Herrgott da net auch seine Finger mit im Spiel hatte. Es ist ja bekannt, daß er oft durch andere wirkt.«

Er erhob sich.

»Ich würd’ gern’ noch mit Ihnen plaudern, Herr Demant«, entschuldigte er sich. »Aber ich hab’ noch einiges in der Kirche vorzubereiten für die Abendmesse. Aber bestimmt ergibt sich die eine oder andere Gelegenheit, unser Gespräch fortzusetzen.«

»Bestimmt, Hochwürden, ich freu’ mich schon darauf.«

*

Wolfgang Lehmbacher spürte, daß er langsam müde wurde. Die ganze Nacht hindurch war er gefahren, hatte nur einmal eine kleine Pause gemacht, um etwas zu essen. Justus Krammler hatte die Sache dringend gemacht, und Wolfgang war daran gelegen, seinen Auftrag pünktlich zu erfüllen und bei seinem Chef einen guten Eindruck zu machen. Jetzt war er nur noch wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Auf einem Rastplatz hielt er kurz an. Hier standen schon zahlreiche LKWs, die immer sehr lange an dem Grenzübergang warten mußten. Wolfgang Lehmbacher stieg kurz aus, machte ein paar Lockerungsübungen und setzte sich wieder in den Wagen. Er suchte seinen Reisepaß hervor und die Wagenpapiere, damit es vielleicht bei der Zollabfertigung etwas schneller ging.

Merkwürdig, dachte er, als er den Fahrzeugschein durchlas, der Wagen war erst in der letzten Woche zugelassen worden, und nun hatte der Besitzer ihn schon wieder verkauft. Na ja, manche Leute merkten erst später, daß der Wagen doch nicht der richtige war.

Er ordnete die Papiere und fuhr wieder los. Nach einigen Kilometern wurde die Autobahn mehrspurig, und er konnte die lange Schlange der LKWs überholen, die sich bereits seit einiger Zeit auf der rechten Fahrbahnseite gebildet hatte. Kurz darauf sah er die Grenzstation. Mehrere langgezogene graue Baracken und, direkt an der Straße, kleine Hütten, vor denen die Grenzposten und Zollbeamten standen.

Wolfgang befand sich in einer Reihe mit mehreren PKW, die langsam an die Grenzstation heranfuhren. Im Gegensatz zu den schweren Lastwagen, wurde hier schneller abgefertigt. Auf der deutschen Seite winkte man sie, nach einem kurzen Blick in das Wageninnere, durch.

Wolfgang wollte gerade eben durchfahren, als die Hand des Grenzpostens ihn zum Halten zwang. Er kurbelte die Scheibe hinunter.

»Ist ’was net in Ordnung?« fragte er.

Der Posten, ein junger Mann, sah ihn durchdringend an.

»Fahren Sie bitte dort drüben rechts ran und halten Sie Ihre Papiere bereit«, sagte er.

Wolfgang beschlich ein mulmiges Gefühl, als er der Aufforderung nachkam. Warum nur hatte der Mann so merkwürdig geschaut. Plötzlich wurde die Tür geöffnet.

»Steigen Sie bitte aus«, sagte eine Stimme zu ihm, und ehe

er sich versah, war Kathies Bruder von drei, vier Grenzposten umringt. Zwei von ihnen

hatten Gewehre auf ihn gerichtet.

»Was… was ist denn los?« fragte Wolfgang Lehmbacher überrascht.

Er verstand die Welt nicht mehr, wurde behandelt wie ein Schwerverbrecher. Das konnte doch nur ein Irrtum sein! Man mußte ihn mit jemandem verwechseln.

»Sie sind vorläufig festgenommen«, sagte der Beamte, der ihn schon zum Aussteigen aufgefordet hatte.

»Was? Aber, warum?«

»Das wird man Ihnen noch mitteilen«, lautete die Antwort.

Die Grenzposten nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn, unter den neugierigen Blicken der anderen Autofahrer, denen die Aktion nicht verborgen geblieben war, zu einer der grauen Baracken. Dort sperrten sie ihn in eine Zelle, nachdem sie ihm zuvor die Krawatte, den Gürtel und sogar die Schnürsenkel aus seinen Schuhen abgenommen hatten.

Wolfgang Lehmbacher setzte sich auf die harte Pritsche, die an der Wand befestigt war, der einzigen Sitzmöglichkeit, die es in der Zelle gab. Er saß dort wie ein Häufchen Elend. Zum ersten Mal in seinem Leben war er verhaftet und eingesperrt worden und war sich doch keiner Schuld bewußt. Er zermarterte sich das Gehirn, was wohl der Grund für seine Festnahme sein konnte.

Ob es doch etwas mit dem Auto zu tun hatte, das er überführen sollte? Aber Justus Krammler hatte doch versichert, daß mit den Fahrzeugen alles in Ordnung war. Sie waren rechtmäßig erworben und weiterverkauft worden. Nach der ersten Tour hatte Wolfgang gefragt, warum der Fahrzeugbrief, der den Besitzer des Wagens auswies, nicht bei den Unterlagen sei. Krammler hatte geantwortet, daß er den Brief als Sicherheit behalte, bis der neue Besitzer das Auto vollständig bezahlt habe, weil viele der Kunden lediglich eine Anzahlung machten und den Restbetrag überwiesen, wenn das Fahrzeug bei ihnen angekommen war. Eine einleuchtende Erklärung, schließlich behielten Banken, die ein Auto finanzierten ebenfalls den KFZ-Brief, bis die Schuld getilgt war. Wolfgang hatte sich also mit dieser Erklärung zufrieden gegeben.

Doch nun, in dieser kleinen engen Gefängniszelle kamen ihm ernsthafte Zweifel, ob bei der Firma Krammler wirklich alles mit rechten Dingen zuging…

*

»Sie werden beschuldigt, diesen Wagen gestohlen zu haben«, sagte der Beamte zu dem völlig verstörten Mann. »Es war ein Glücksfall, daß der Kollege gerade erst heute morgen das Kennzeichen in die Fahndungsliste übertragen hat. Dadurch merkte er es sich und erkannte es sofort wieder, als Sie versuchten, die Grenze zu überqueren.«

»Aber…, das ist alles ein furchtbares Mißverständnis!« beteuerte Wolfgang Lehmbacher.

Der Vernehmungsbeamte sah ihn mißtrauisch an.

Vor einer halben Stunde hatte man ihn aus dem Wagen gezerrt und in eine Zelle gesperrt. Jetzt saß er in einem kahlen Büro, in dem, außer einem Tisch und zwei Stühlen, nichts weiter stand, und wurde mit diesem Vorwurf konfrontiert.

»Sie leugnen also, das Auto gestohlen zu haben?«

Der junge Mann rang verzweifelt die Hände.

»Aber, wenn ich es Ihnen doch sage!«

»Der Besitzer sind Sie aber auch nicht«, stellte der Beamte fest. »Das Fahrzeug ist nicht auf Ihren Namen zugelassen. Außerdem ist es seit vorgestern nacht als gestohlen gemeldet. Der Besitzer ist ein gewisser Franz Langner aus Engelsbach. Sie selber stammen doch auch von dort.«

Wolfgang schüttelte den Kopf.

»Hören Sie, das ist alles ganz anders«, sagte er. »Lassen Sie es mich Ihnen bitte erklären.«

»Nur zu«, nickte sein Gegenüber. »Ich bin schon ganz gespannt, was Sie zu erzählen haben.«

Katharinas Bruder lehnte sich zurück und berichtete von Anfang an. Der Beamte hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen. Nur ab und an machte er sich Notizen auf einen Block. Als Wolfgang Lehmbacher mit seiner Schilderung der Sachlage zu Ende war, schaute der Mann ihn lange, beinahe mitleidig an.

»Also, wenn das stimmt, was Sie mir da erzählt haben, dann sind Sie ziemlich blindlings in eine Sache hineingeraten, die Sie teuer zu stehen kommen kann«, sagte er.

»Aber, wieso? Ich habe doch nur meine Arbeit gemacht…«

»Ja, merken Sie denn immer noch nicht, worauf Sie sich da eingelassen haben?« fragte der Beamte entgeistert. »Dieser Justus Krammler ist ein Krimineller höchsten Grades, der offenbar teure Autos stehlen läßt und sie dann ins Ausland verschiebt. Dazu benutzt er solche unbedarften Menschen wie Sie.«

Er schüttelte den Kopf.

»Haben Sie denn noch immer keinen blassen Schimmer, was da vonstatten gegangen ist? Was glauben Sie denn, warum der Mann Ihnen so viel Geld gezahlt hat? Damit Sie keine überflüssigen Fragen stellen!«

Er stand auf und ging in dem kleinen Büro auf und ab.

»Ich fürchte, es sieht nicht gut für Sie aus«, meinte er schließlich. »Kein Gericht der Welt wird Ihnen glauben, daß Sie von den Hintergründen dieses Autohandels nichts gewußt haben. Und selbst wenn, Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Man wird Ihnen vorwerfen, sich nicht genügend über diesen Herrn Krammler und seine Firma informiert zu haben.

Also, wenn Sie mich fragen – ein, bis zwei Jahre Gefängnis sind da für Sie d’rin.«

Blankes Entsetzen stand auf Wolfgangs Gesicht, als er dies hörte. Der Beamte sah ihn an.

»Na, Kopf hoch«, sagte er. »Vielleicht wird’s ja auch ’ne Bewährungsstrafe, wenn Sie sonst noch nichts auf dem Kerbholz haben. Möchten Sie einen Kaffee? Der muntert Sie auf.«

Wolfgang nickte.

»Was geschieht denn jetzt weiter?« fragte er.

»Zunächst nehmen wir ein Protokoll auf, und dann werden Sie nach Frankfurt an der Oder überstellt. Dort haben Sie dann auch Gelegenheit, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen. Aber, erstmal hole ich Ihnen einen Kaffee. Kann nur einen Moment dauern. Ich muß dazu in die andere Baracke rüber.«

Wolfgang Lehmbacher hockte wie ein Häufchen Elend auf seinem Stuhl und starrte vor sich hin. Wie ein Schwerverbrecher kam er sich vor. Fehlte nur noch, daß man ihm Handschellen anlegte!

Dieser Krammler – wenn er den in die Finger bekam! Reingelegt hatte der ihn, und jetzt mußte er dem Gericht klarmachen, daß er unschuldig in die Sache hineingeraten war.

Wenn er wenigstens Katharina anrufen könnte. Aber sie hatten ihm ja alles abgenommen, auch sein Handy.

Wolfgang wußte nicht, wie lange er schon alleine in dem kleinen Büro saß. Der Beamte, der ihm den Kaffee holen wollte, war noch nicht wieder zurück.

Plötzlich kam ihm eine Idee…

Wenn er nun fliehen würde – dann konnte er Krammler stellen und ihn dazu zwingen, seine Unschuld zu bezeugen!

Noch ehe er diese Idee weiter ausspinnen konnte, hatte er sie auch schon in die Tat umgesetzt. Mit einem Sprung war er an der Tür und lauschte. Auf dem Flur der Baracke waren Stimmen zu vernehmen, die aus den anderen Räumen kamen. Er probierte die Klinke und wurde enttäuscht. Der Beamte hatte von außen abgeschlossen.

Wolfgang sah sich um. Das Fenster in dem Büro war nicht vergittert. Bestimmt war es besser, dort hinaus zu springen, und zu fliehen, als abzuwarten, was weiter mit ihm geschah. Wenn er erst einmal in einem Gefangenentransporter saß, war die Chance, zu fliehen, gleich Null.

Mit einer schnellen Handbewegung hatte er den Fenstergriff umgelegt und die beiden Flügel aufgestoßen. Es war niemand zu sehen, als Wolfgang nach draußen schaute. Diese Barackenseite lag halbwegs im Dunkel der anbrechenden Nacht. Der Eingang auf der Vorderseite dagegen, wurde von gleißenden Schweinwerfern in ein helles Licht getaucht.

Wolfgang Lehmbacher rannte, so schnell er konnte, ohne Senkel in den Schuhen. Einige Meter vor sich, sah er zwei, drei Lastwagen stehen, von denen soeben einer langsam anfuhr. Es war ein Laster mit Plane. Wolfgang gelang es, sich im letzten Augenblick hinaufzuschwingen. Während der Wagen an Fahrt gewann, nestelte der Flüchtende mit fliegenden Fingern die Schnüre los, mit denen die Plane gehalten wurde.

Als der Wagen die Autobahn erreichte und noch schneller wurde, schlüpfte Wolfgang Lehmbacher mit letzter Kraft hinein und ließ sich auf den Boden des Anhängers fallen.

Es war ihm ganz egal, wohin der Wagen fuhr, Hauptsache, er brachte ihn so weit wie möglich von hier fort!

*

Robert Demant betrachtete zufrieden sein Werk. Das Bild entsprach exakt seinen Vorstellungen, eine Fotografie von Kathie Lehmbacher hätte nicht treffender sein können.

Ein, zwei Tage wollte er es noch trocknen lassen, bevor es Katharina zu sehen bekommen sollte. Ein paar Monate würde es dauern, bis es dann ganz getrocknet war und fixiert werden konnte.

Doch bis dahin wollte Robert die Frau seiner Träume längst geheiratet haben… Er war selbst überrascht gewesen, als dieser Gedanke ihm kam. Bisher hatte er nie daran gedacht, in den Hafen der Ehe einzulaufen. Nun war er sogar bereit, seinen Wohnsitz von München nach St. Johann zu verlegen, sollte Kathie nicht bereit sein, von hier fortzuziehen.

Von all diesen Plänen wußte das Madel noch nichts. Mit Rücksicht auf ihre Arbeitszeiten hatte Robert Kathie nicht schon wieder um einen Ausflug bitten wollen und statt dessen vorgeschlagen, bis zu ihren nächsten freien Tagen zu warten. So kam es, daß der Maler immer häufiger alleine in der näheren Umgebung spazieren ging. Und jedesmal gefiel ihm der kleine Ort besser. Es mußte doch möglich sein, hier irgendwo ein Haus zu finden, in dem man auch ein Atelier einrichten konnte. Denn malen wollte er. Seit er hier war, hatte Robert so viele Ideen entwickelt und sah so viele Motive vor seinem geistigen Auge, daß er fast schon ungeduldig wurde. Er zwang sich regelrecht zum Nichtstun, weil er nichts überstürzen wollte. Zunächst wurde es höchste Zeit, Kathie zu gestehen, wie es um ihn stand. Robert glaubte zu wissen, daß es dem Madel nicht anders ging. Ihre Blicke und Gesten ließen keinen anderen Schluß zu, und beinahe wäre es ja schon zum ersten Kuß gekommen…

Der Maler warf einen Blick auf die Uhr. Schon war es wieder Abend geworden. Er zog sich zum Essen um und ging hinunter in das Restaurant, wo er von Katharina Lehmbacher mit einem freudigen Lächeln begrüßt wurde.

Nach dem Essen setzte er sich in die Wirtsstube hinüber, die besonders von den Einheimischen gerne besucht wurde. An einem der Tische saß Dr. Wiesinger beim Abendschoppen.

Der junge Arzt lud den Kunstmaler mit einer Handbewegung ein, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Es war eine herzlich gemeinte Geste, die Robert da entgegengebracht wurde. Obwohl er nur Urlauber war, hatte er das Gefühl, in die Dorfgemeinschaft aufgenommen zu sein.

Mediziner und Künstler waren bald in eine angeregte Unterhaltung vertieft, die sich um beider Berufe drehte. Dabei vergaßen sie beinahe die Zeit. Gerade Toni Wiesinger hatte viel zu erzählen. Als Zugereister hatte er nicht immer einen leichten Stand in St. Johann. Die Einheimischen trauerten ihrem guten, alten Doktor nach, und dem jungen trauten sie noch net so recht zu, ein richtiger Arzt zu sein. Da ihm das Alter fehlte, meinten sie, fehle ihm auch die Erfahrung. Einzig Pfarrer Trenker stand dem Arzt immer wieder hilfreich zur Seite und versuchte, auf seine Schäflein einzuwirken, sich auf das Können des Doktors zu verlassen. Dennoch gab es Momente, in denen Toni Wiesinger der Meinung war, die Dörfler hätten sich gegen ihn verschworen.

Hinzu kam der Ärger, den Toni immer wieder mal mit dem alten Brandhuber-Loisl hatte. Der Alte, der von sich behauptete, ein Wunderheiler zu sein, stellte irgendwelche obskuren Tees, Salben und Mixturen her, wofür er in bestimmten Nächten Kräuter und Wildblumen sammelte und verarbeitete. Diese »Medikamente« verkaufte er dann für viel Geld an seine gutgläubigen Mitmenschen. Dabei konnte es unter Umständen lebensgefährlich sein, sich auf die Heilwirkung zu verlassen.

Sepp Reisinger trat an ihren Tisch, und die beiden sahen erstaunt auf. Der Wirt hatte ein Tablett mit drei Schnapsstamperl darauf.

»So, meine Herren, das ist der letzte, der geht aufs Haus«, sagte er und stellte das Tablett ab.

»Du lieber Himmel, ist’s schon so spät?«

»Ja«, nickte Sepp. »Kurz vor Mitternacht.«

Dennoch setzte er sich für einen letzten Augenblick mit an den Tisch.

»Ich hab’ gar net bemerkt, wie die Zeit dahin ist«, schüttelte Dr. Wiesinger den Kopf.

»Stimmt«, gab Robert Demant ihm recht. »Mir geht’s ebenso.«

Er lachte den Wirt an.

»Es ist aber auch saugemütlich in Ihrer Stuben!«

»Es freut mich, daß es Ihnen gefällt. Also, auf eine gute Nacht«, hob Sepp Reisinger sein Glas.

Der Enzian sorgte für einen guten Schlaf. Als Robert sich verabschiedete und auf sein Zimmer ging, da hatte Kathie längst Feierabend gemacht. Der Kunstmaler streckte sich in seinem Bett aus und löschte das Licht, nachdem er einen letzten Blick auf das Bild geworfen hatte. Dann schlief er mit einem seeligen Lächeln ein.

»Ich wünsch’ dir eine gute Nacht«, flüsterte er, bevor er in den Schlaf hinüberglitt.

*

Katharina Lehmbacher trat vor das Hotel und atmete tief durch. Es war eine angenehm frische Nachtluft.

Endlich Feierabend. Und endlich war es mal nicht so spät geworden. Heute hatte sie nur im Restaurant bedienen müssen. Die junge Frau freute sich auf ihre kleine Wohnung. Sie würde sich noch einen Tee kochen und dann mit einem guten Buch ins Bett gehen.

St. Johann lag weitgehend im Dunkeln, als sie nach Hause schlenderte. Es brannten nur noch wenige Straßenlaternen, und auch die würden bald verlöschen. Trotzdem hatte Kathie keine Furcht, als sie mutterseelenallein durch die Straßen ging. Noch nie war ihr jemand begegnet, wenn sie vom Spätdienst kam, und sie hatte auch nie davon gehört, daß jemand nächtens überfallen wurde.

Allerdings hatte sie von den Autodiebstählen erfahren, die sich in der letzten Zeit häuften, und sie hielt schon Augen und Ohren offen, ob sie etwas Verdächtiges bemerkte.

Sie hatte nur noch wenige Schritte bis zu ihrer Wohnung zu gehen, als sich ihr überraschend jemand in den Weg stellte. Kathie stieß einen erstickten Schrei aus und hielt sich die Hand vor den Mund, als sie die Gestalt bemerkte.

»Wolfgang…!« entfuhr es ihr. »Wie siehst du denn aus?«

Beinahe hätte sie ihren Bruder nicht erkannt. Er war unrasiert, und die Haare hingen wirr an seinem Kopf. Die Hose schlotterte um die Hüfte, in den Schuhen fehlten die Schnürsenkel, und weder Sakko, noch Krawatte waren vorhanden. Ängstlich, ganz so, als würde er verfolgt, schaute Wolfgang Lehmbacher sich immer wieder um. Seine Schwester packte ihn am Arm und schüttelte ihn durch.

»Was ist denn passiert? Um Himmels willen, so red’ doch endlich!«

»War… war die Polizei bei dir?« fragte er und schaute wieder mit unstetem Blick um sich.

»Die Polizei? Nein. Was soll denn die Polizei bei mir?«

Ihr Bruder rang hilflos die Hände.

»Sie sind hinter mir her. Sie suchen mich! Ich bin da in eine dumme Sache geschlittert.«

Lähmende Angst griff nach der jungen Frau. Sie sah Wolfgang kopfschüttelnd an. Worauf hatte er sich da nur wieder eingelassen? Sie hatte ja gleich ein ungutes Gefühl gehabt damals, als er mit dem vielen Geld in ihrer Küche saß.

»Jetzt komm’ erstmal mit«, sagte sie. »Hier, auf der Straße können wir schlecht bereden, was geschehen ist.«

Sie zog ihn mit sich. Vor dem Haus, in dem sie wohnte, brannte eine kleine Lampe über der Eingangstür. Wolfgang blieb drei Schritte vor dem Haus stehen, so daß er sich noch im Halbdunkel befand.

»Mach’ erst das Licht aus«, forderte er seine Schwester auf.

Kathie tat, wie ihr geheißen. Mit zitternden Fingern führte sie den Hausschlüssel in das Schlüsselloch und sperrte auf. Dann drehte sie die Schalter für das Straßenlicht, der gleich hinter der Tür war. Sekunden später huschte Wolfgang in den Flur und schlich die Treppe hinauf.

Wie ein Dieb, dachte Kathie, als sie ihm folgte.

»Zieh’ erst die Vorhänge zu, bevor du Licht machst«, sagte er, als sie in der kleinen Wohnung standen.

»Warum? Wovor hast du denn solche Angst? Die Fenster gehen fast alle zum Hof hinaus. Von der Straße kann man kaum etwas sehen.«

»Aber das, was man sehen kann, ist vielleicht schon zuviel«, antwortete Wolfgang Lehmbacher und ließ sich erschöpft auf die Eckbank am Küchentisch sinken.

»Kannst du mir ein Brot machen?« bat er. »Ich hab’ seit gestern abend nichts mehr gegessen.«

»Ja, natürlich. Aber jetzt sag’ doch endlich, was passiert ist?«

Sie stellte ihm eine Mineralwasserflasche auf den Tisch und ein Glas. Wolfgang trank gleich aus der Flasche. Er leerte sie in zwei langen Zügen, während Kathie Wurst und Butter aus dem Kühlschrank holte. Dann schnitt sie Brot ab, legte Brett und Messer dazu, und setzte sich schließlich selbst.

»So, jetzt aber raus mit der Sprache!« forderte sie ihn auf.

Ihr Bruder schlang gierig zwei Scheiben Brot hinunter, bevor er sich zurücklehnte und die Augen schloß. Für Sekunden verharrte er so, dann öffnete er sie wieder und sah seine Schwester an.

*

»Ich bin der größte Trottel, der herumläuft«, sagte er dann mit leiser Stimme und berichtete, was sich ereignet hatte.

Katharina hörte zu, und je mehr sie zu hören bekam, um so verständnisloser schaute sie Wolfgang an.

Verhaftet, geflüchtet, von der Polizei gesucht! Gestohlene Autos – natürlich, das mußten die Wagen sein, die in den letzten Tagen und Wochen in St. Johann und Umgebung gestohlen wurden. Und ihr Bruder war in diese kriminellen Machenschaften verstrickt!

Entsetzt hob das Madel die Hände, und bittere Tränen rannen ihr übers Gesicht.

»Du mußt dich stellen«, sagte sie schließlich. »Du mußt zur Polizei, sonst macht’s die Sach’ nur noch schlimmer.«

»Auf keinen Fall! Net bevor ich diesen sauberen Herrn Krammler net gepackt und eigenhändig auf die Wach’ geschleppt hab’!«

»Sei vernünftig, Wolfgang«, redete Kathie auf ihn ein. »Das ist Sache der Polizei. Du weißt ja gar net, wie gefährlich die Bande ist. Da gehören doch noch mehr dazu, als nur dieser Krammler und seine Frau.«

Wolfgang schüttelte den Kopf.

»Den Burschen hol’ ich mir«, beharrte er. »Ich bin ja schon bei der Villa gewesen. Aber da ist niemand. Draußen ist ein Schild, daß sich der feine Herr in Urlaub befindet. Aber er wird ja zurückkommen, der Justus Krammler. Er ahnt ja net, daß sein letzer Coup geplatzt ist.«

»Aber, was willst denn so lange machen? Willst dich etwa hier verstecken? Das geht doch net.«

Wolfgang hob beruhigend die Hand.

»Nein, natürlich net. Verstecken werd’ ich mich schon, aber net hier. Ich kenn da einen guten Platz in den Bergen. Da werden s’ mich net so schnell finden. Ich brauch nur ein bißchen Verpflegung und ein paar andere Sachen zum Anziehen. Meine alte Hose und der dunkle Anorak sind doch noch hier. Und ein paar Schnürsenkel werden sich bestimmt noch irgendwo finden.«

Er rieb sich müde über die Augen. Keine einzige Minute hatte er mehr geschlafen, seit er in der vergangenen Nacht aus dem Polizeigewahrsam geflohen war. Der Lastwagen war bis in die Nähe von Augsburg gefahren. Von dort hatte Wolfgang sich bis hierher durchgeschlagen. Zweimal hatten ihn mitleidige LKW-Fahrer mitgenommen, denen er eine haarsträubende Geschichte erzählte, die letzten Kilometer war er zu Fuß gegangen. Kathie war seine einzige Hoffnung gewesen. Bei

ihr würde er Hilfe und Zuflucht finden. Er hoffte nur, daß die Polizei noch nicht bei ihr gewesen war.

Gottlob hatte sich dann diese Befürchtung nicht bestätigt.

»Willst dich net erst einmal ein wenig hinlegen?« fragte seine Schwester. »Du mußt doch hundemüde sein!«

Wolfgang schaute auf die Küchenuhr über dem Herd. Beinahe Mitternacht. In wenigen Stunden würde es schon wieder hell werden. Aber die Verlockung, für eine kurze Zeit die Augen zu schließen, war einfach zu groß, zumal Hunger und Durst gestillt waren, und sich ein wohlig schläfriges Gefühl in ihm breit machte.

»Aber net lang«, stimmte er schließlich zu.

Kathie machte ihm ein Bett auf dem Sofa in der Wohnstube zurecht.

»Weck’ mich aber, bevor die Sonne aufgeht«, ermahnte ihr Bruder sie, bevor er die Augen schloß.

Die junge Frau räumte die Lebensmittel zusammen und stellte sie zurecht. Dann kochte sie eine große Thermoskanne Kaffee und packte alles in einen Rucksack, der sich in der Abstellkammer fand. Dort lagen auch die alten Kleider, von denen Wolfgang gesprochen hatte. Kathie nahm sie und legte sie zu den anderen Sachen.

Dann setzte sie sich in einen Sessel und schaute lange Zeit ihren schlafenden Bruder an. Sie selber fand keine Ruhe, viel zu aufgewühlt war sie, als daß sie auch nur eine Minute hätte schlafen können.

Ach, Wolfgang, dachte sie, wann wirst du endlich gescheit? Seit dem Tod der Eltern war es mit ihm nur noch bergab gegangen. Einfach das Studium geschmissen, zig Arbeitsstellen wieder aufgegeben und nie etwas Rechtes getan. Und immer wieder der Schwester auf der Tasche gelegen.

Jetzt hatte es beinahe so ausgesehen, als würde er endlich einen Glücksgriff getan haben, doch der erwies sich als Griff in einen Riesentopf, der bis an den Rand mit Pech gefüllt war. Sie hatte es auch nicht so recht glauben mögen, als er in der Küche gesessen war und ihr das Geld vorzählte.

Aber, daß es so schlimm kommen würde, hätte sie niemals geahnt.

Kurz vor vier Uhr weckte sie ihn. Schlaftrunken schreckte Wolfgang hoch, besann sich aber sogleich, wo er war, und zog sich um, während Kathie frischen Kaffee für ihn kochte und ihm zwei belegte Brote machte.

Wolfgang aß und trank im Stehen. Dann schnallte er den Rucksack um und umarmte seine Schwester.

»Dank’ dir, für alles! Ich mach’s wieder gut«, versprach er. »Und wenn die Polizei kommt – du hast mich net gesehen!«

»Wohin willst’ denn eigentlich? Kann ich dich irgendwie erreichen?«

»Besser net«, schüttelte er den Kopf. »Auch wenn du’s net willst – unabsichtlich könnt’st mich doch verraten. So, und jetzt muß ich los, bevor die Sonne richtig aufgeht.«

»Paß auf dich auf«, konnte Katharina gerade noch sagen, dann war er auch schon durch die Tür gehuscht.

Angstvoll stand sie ein paar Minuten da, dann sank sie in sich zusammen und schleppte sich in ihr Schlafzimmer. Aufschluchzend ließ sie sich auf das Bett fallen. Ihr Körper zuckte, als sie sich endlich in den Schlaf weinte.

*

Maximilian Trenker las interessiert das Fernschreiben, das eben in seinem Büro angekommen war. Darin wurde ein gewisser Wolfgang Lehmbacher als möglicher Autodieb und Schieber gesucht. Eine Personenbeschreibung stand ebenfalls in der Mitteilung, sowie der Hinweis, daß der Gesuchte aus dem Polizeigewahrsam an der deutsch-polnischen Grenze geflohen sei.

Der Gendarm schüttelte den Kopf. Das war ja ein dolles Ding! Aber er hatte noch nicht zu Ende gelesen. Im letzten Absatz stand, daß Wolfgang Lehmbacher aus Engelsbach stammte und eine Schwester hatte, die in St. Johann wohnhaft sei. Hauptwachtmeister Trenker wurde angewiesen, die Schwester des Flüchtigen in der Angelegenheit zu vernehmen und über den möglichen Aufenthaltsort ihres Bruders zu befragen.

Max ließ das Blatt sinken. Darum also wurde er benachrichtigt, weil der Lehmbacher hier eine Schwester hatte. Der Beamte wußte sofort, wer sie war. Die Saaltochter aus dem Hotel »Zum Löwen«, Katharina Lehmbacher.

Der Mann war in der Nacht zu gestern geflüchtet, überlegte Max. Da war es durchaus denkbar, daß er sich bis hierher durchgeschlagen hatte, um bei der Schwester Zuflucht und Hilfe zu suchen. Komisch, dachte er, die Kathie war doch so ein patentes Madel, daß die solch einen mißratenen Bruder hatte!

Es war kurz nach acht. Max Trenker hatte gerade erst seinen Dienst begonnen, als der Fernschreiber losratterte. Er hätte gerne noch etwas gewartet, bevor er der Kathie einen Besuch abstattete, aber das war unmöglich. Sollte der Bruder wirklich bei ihr sein, bestand Fluchtgefahr.

Seufzend setzte er seine Dienstmütze auf und schloß das Büro hinter sich zu. Wenig später hielt der Polizeiwagen vor dem Haus, in dem Katharina Lehmbacher wohnte. Max Trenker stieg aus und klingelte. Das Läuten war so laut, daß es im ganzen Haus gehört werden mußte.

Der Beamte wartete ab. Ein, zwei Minuten, dann klingelte er noch einmal. Diesmal länger. Die Klingel gab ein ohrenbetäubendes Geräusch von sich. Nach einer weiteren Minute, Max wollte gerade noch einmal den Klingelknopf drücken, wurde die Tür geöffnet, und eine kleine weißhaarige Frau steckte ihren Kopf heraus.

»Was machen S’ denn für einen Lärm?« schimpfte sie und deutete mit dem Zeigefinge nach oben. »Die Frau Lehmbacher schläft bestimmt noch. Die hat doch Spätschicht gehabt. Sie kommt meist net vor Mitternacht nach Hause. Die braucht doch ihren Schlaf.«

Max Trenker tippte sich an den Mützenschirm.

»Grüß Gott, Frau Strohlinger«, sagte er. »Entschuldigen S’ die Störung, aber ich müßt’ die Frau Lehmbacher sprechen.«

Die alte Dame zuckte mit der Schulter.

»Wie ich g’sagt hab’, sie wird noch schlafen. Warten S’, ich geh’ nachschau’n.«

Im selben Moment wurde die Tür oben geöffnet, und Kathie sah die Treppe hinunter.

»Guten Morgen, was gibt’s denn?«

Von dort oben konnte sie nur ihre Vermieterin sehen, den Beamten, der daußen vor der Tür stand, hingegen nicht.

»Die Polizei, Kathi. Der Herr Trenker möcht’ dich sprechen.«

Geahnt hatte sie es schon und war gefaßter, als sie zunächst vermutet hatte, als sie den Gedanken durchspielte, die Polizei könne sie befragen wollen. Sie war von dem energischen Läuten wachgeworden, und eigentlich gab es niemanden – außer Wolfgang –, der so früh bei ihr klingelte. Es mußte also die Polizei sein.

Schnell war sie aufgestanden und hatte ihre Sachen glatt gestrichen. In der Nacht, als ihr Bruder das Haus verlassen hatte, war sie ins Bett gefallen, ohne sich zu entkleiden.

»Kommen S’ herauf«, rief sie und fuhr sich noch einmal durch die Haare.

Max Trenker kam die Treppe herauf.

»Grüß Gott, Kathie«, sagte er und gab ihr die Hand.

Im Wirtshaus duzte er sie auch, und wenn die Angelegenheit hier auch amtlich war, blieb er doch dabei. So war der Besuch net ganz so offiziell.

»Pfüat dich, Max. Magst dich setzen?« bot sie ihm einen Platz in der Küche an. »Was führt dich denn hierher?«

Der Beamte setzte sich auf einen Stuhl. Kathie ging zur Kaffeemaschine und füllte Wasser und Kaffeepulver ein.

»Tja, also, ich hab’ da ein paar Fragen an dich«, erklärte Max seinen Besuch. »Es handelt sich um deinen Bruder.«

Kathie tat überrascht und drehte sich um.

»Wolfgang?« rief sie. »Was ist mit ihm? Hatte er einen Unfall?«

»Nein, nein. Es ist etwas anderes.«

Sie griff sich ans Herz.

»Hat er gar etwas ausgefressen? Geh’, Max, das glaub’ ich net. Doch net der Wolfgang!«

Der Gendarm hatte seine Mütze abgesetzt und neben sich auf die Eckbank gelegt. Dann zog er das Fernschreiben aus der Jackentasche und strich es glatt. Das Madel schaute ihm reglos zu. Mit keiner Miene gab Kathie zu verstehen, daß sie längst wußte, worum es bei diesem Besuch eigentlich ging.

»Dein Bruder wird beschuldigt, Autos gestohlen und ins Ausland verschoben zu haben«, sagte der Beamte mit ernster Stimme.

Er erzählte, was das Madel eigentlich schon von Wolfgang erfahren hatte. Katharina Lehmbacher hörte zu, ohne sich von der Stelle zu rühren. Erst als die Kaffeemaschine blubbernd anzeigte, daß der Brühvorgang beendet war, regte sie sich. Sie drehte sich um und öffnete eine Tür des Küchenschranks.

»Magst’ auch einen Kaffee?«

Max Trenker verneinte. Irgendwie kam Kathie ihm merkwürdig vor. Sie tat, als ginge sie das alles gar nichts an. Oder hielt sie die Sache für einen dummen Scherz?

»Madel, das ist kein Spaß«, sagte er. »Ich muß dich jetzt offiziell fragen: War dein Bruder gestern abend, oder in der Nacht, hier bei dir? Weißt du, wo er sich jetzt aufhält?«

Sie schüttelte zaghaft den Kopf.

»Ich muß dich net erst darauf aufmerksam machen, daß es strafbar ist, einem entflohenen Straftäter zu helfen«, mahnte der Beamte.

»Ich weiß nix«, erwiderte Katharina Lehmbacher beinahe trotzig. »Und überhaupt – habt ihr denn Beweise? Hat jemand gesehen, daß der Wolfgang ein Auto gestohlen hat?«

»Das net. Aber er hat in einem gestohlenen Fahrzeug gesessen und wollte es über die Grenze schmuggeln. Das ist doch Beweis genug.«

Max Trenker schlug sein Dienstbuch zu, in das er einige Notizen eingetragen hatte und stand auf.

»Du bleibst also dabei, daß du net weißt, wo dein Bruder sich jetzt aufhält«, stellte er fest. »Gut, es kann sein, daß ich dich noch einmal zu einer weiteren Befragung, vorladen muß. Sollte dein Bruder sich bei dir melden, dann versuch’ ihn dazu zu bringen, daß er sich stellt. Sonst verschlimmert er die ganze Angelegenheit nur noch. Es ist zu seinem besten, glaub’ mir, Madel.«

Er setzte seine Mütze wieder auf und griff nach dem Türgriff.

»Pfüat dich, Kathie«, sagte er im Gehen. »Wenn irgend was ist, wenn du Hilfe brauchst, oder mit jemandem reden möchst’ – mein Bruder und ich, wir sind immer für dich da. Ich möcht’, daß du das weißt.«

»Dank’ dir, Max«, nickte Kathie und schloß die Tür.

*

Das Madel hörte noch den Beamten die Treppe hinunter gehen, als es auch schon zusammenbrach. Laut aufschluchzend sank Kathie auf einen Stuhl und weinte hemmungslos. Es dauert länger als eine Viertelstunde, bis sie sich etwas beruhigte und wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.

Wie gerne hätte sie Max die Wahrheit gesagt, ihm gestanden, was sie wußte. Statt dessen hatte sie gelogen. Ausgerechnet sie, die Lügen mehr haßte, als alles andere auf der Welt. Strafbar hatte sie sich gemacht, indem sie dem Polizisten verschwieg, daß ihr Bruder in der Nacht hier gewesen war.

Kathie trocknete sich die Tränen. Wenigstens in einem Punkt hatte sie nicht gelogen. Sie wußte wirklich nicht, wo Wolfgang sich zur Zeit aufhielt, außer, daß er sich irgendwo in den Bergen versteckte.

Dennoch war alles schlimm genug, und die hatte keinen Menschen, dem sie sich anvertrauen konnte. Selbst Pfarrer Trenker konnte sie nichts sagen, der würde ihr auch nur raten, seinen Bruder darüber informieren, und Max würde sofort eine Großfahndung einleiten.

Und Robert Demant? Kathie lachte auf, aber es war kein frohes Lachen, sondern verzweifelt und voller Trauer. Er würde sie verachten, wenn er die Wahrheit erfuhr. Ihr Bruder ein Verbrecher, und sie war nicht besser, weil sie ihn deckte.

Dabei hatte es so schön begonnen. Schon lange wußte Katharina Lehmbacher, daß sie den Maler liebte, und sie glaubte, daß er diese Liebe erwiderte. Es waren wunderbare Augenblicke, wenn sie zusammen waren. Für morgen hatten sie einen Ausflug verabredet, doch daraus würde nun nichts mehr werden.

Überhaupt – es war ihr unmöglich, ihm noch einmal unter die Augen zu treten. Die Wahrheit konnte sie ihm nicht sagen, unter gar keinen Umständen, und anlügen wollte sie ihn nicht. Ihn ganz bestimmt nicht, auch nicht um ihres Bruders willen!

Also war es das beste, ihn nicht wiederzusehen. Sie würde sich krank melden. In der Lage zu arbeiten, war sie in diesem Zustand ohnehin nicht, und gleichzeitig bot sich ihr die Chance, so lange zu Hause zu bleiben, bis Robert abgereist war.

So schwer es ihr auch fallen würde, diese Idee erschien ihr die beste. So schlug sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Ewig konnte der Maler ja nicht im Hotel wohnen bleiben.

Die junge Frau richtete sich wieder auf. Der Kaffeeduft durchzog die kleine Küche und weckte Kathies Lebensgeister. Sie stand auf und schenkte sich eine Tasse ein. Sie wollte noch einen Moment warten, bis sie ihre Nerven wieder unter Kontrolle hatte. Dann mußte sie im Hotel anrufen und Bescheid sagen, daß sie die nächsten Tage nicht zum Dienst kommen konnte. Anschließend würde sie Dr. Wiesinger bitten, sie nach seiner Sprechstunde zu besuchen. Ihm konnte sie vielleicht erklären, warum sie sich krank und elend fühlte, wenn sie ihm auch nicht die ganze Wahrheit sagen wollte.

Lieber Gott, betete sie stumm, bitte, laß alles wieder gut werden und beschütz’ meinen Bruder. Er ist kein schlechter Kerl, nur manchmal ein bissel leichtsinnig…

Und wieder rannen ihr Tränen übers Gesicht.

*

»Was ist los? Hast keinen Hunger?«

Pfarrer Trenker sah seinen Bruder erstaunt an, der am Tisch in der Küche des Pfarrhauses saß und lustlos mit der Gabel auf seinem Teller herumfuhrwerkte. So kannte der Geistliche den Max gar nicht, der immer mit einem riesigen Appetit gesegnet war. Und schließlich gab’s gesottenen Tafelspitz in Meerrettichsauce, mit Roten Beten, die Sophie Tappert selber eingelegt hatte. Eine von Max’ Leib- und Magenspeisen. Auch die Haushälterin betrachtete den jungen Mann eingehend.

»Stimmt was net mit der Ochsenbrust?« fragte sie. »Oder ist die Sauce net scharf genug?«

Max schaute auf.

»Wie? Nein, nein«, beeilte er sich zu versichern. »Es schmeckt prima, wie immer. Es ist nur…«

»Na los, heraus mit der Sprache«, forderte sein Bruder ihn zum Reden auf. »Man sieht’s dir doch an der Nasenspitze an, daß dich etwas beschäftigt.«

Max legte die Gabel aus der Hand.

»Es geht um die Kathie«, begann er. »Katharina Lehmbacher, die Bedienung aus dem ›Löwen‹ und um ihren Bruder.«

Dann erzählte er von dem Fernschreiben und der Befragung.

»Ihr Bruder soll also einer der Autodiebe sein…«

Pfarrer Trenker schüttelte fassungslos den Koopf.

»Ja, irgendwie steckt er jedenfalls da mit drin«, sagte Max.

»Der Wagen, mit dem er über die Grenze wollte, gehört einem Mann aus Engelsbach. Wolfgang Lehmbacher wohnt auch dort. Ich weiß net was, aber irgend etwas hat er damit zu tun. Was mir allerdings Kopfzerbrechen macht, ist die Kathie. Ich werd’ das Gefühl net los, daß sie mich belogen hat, als ich sie fragte, ob ihr Bruder sich bei ihr gemeldet hätte, oder ob sie wüßte, wo er sich aufhält. Sie war so merkwürdig – ach, ich weiß auch net. Es täte mir nur leid, wenn sie wegen ihres leichtsinnigen Bruders selber mit dem Gesetz in Konflikt käme.«

Sebastian nickte. Er verstand seinen Bruder genau, und das war auch das, was er an Max so bewunderte – er war kein sturer Beamter, der alles nur nach Gesetzen und Paragraphen machte. Ihm waren, ebenso wie dem Geistlichen, die Menschen wichtig. Max versuchte immer zuerst zu helfen.

»Ich hab’ ihr natürlich deine und meine Hilfe angeboten«, fuhr er fort. »Aber ich glaub’ net, daß die Kathie mich wirklich verstanden hat. Sie hat mir ja kaum zugehört. Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck.«

»Ich werd’ sie auf jeden Fall besuchen«, schlug Sebastian vor. »Vielleicht kann ich etwas erreichen.«

*

Robert Demant machte ein enttäuschtes Gesicht, als er am Abend das Restaurant betrat und statt des erwartenen Gesichts, das einer anderen Bedienung erblickte.

»Die Kathie hat sich krank gemeldet«, sagte die andere Saaltochter auf seine Frage.

»Krank?« rief er bestürzt. »Was fehlt ihr denn?«

Das junge Madel zuckte die Schultern.

»Da bin ich leider überfragt«, lautete die Antwort.

Robert hielt es nicht länger im Restaurant.

»Der Chef ist drüben, in der Wirtsstube?«

Das Madel nickte.

Der Maler bedankte sich und ging hinüber. Sepp Reisinger stand hinter der Theke und zapfte Bier.

»Guten Abend, Herr Demant«, begrüßte er den Gast. »Haben S’ schon gegessen? Meine Frau hat heut’ taufrische Saiblinge aus dem Achsteinersee bekommen.«

Robert winkte ab.

»Vielen Dank, im Moment nicht«, antwortete er. »Aber ich hab’ gehört, daß Kathie Lembacher krank ist. Was fehlt ihr denn?«

Sepp Reisinger wußte um die Bekanntschaft zwischen dem Kunstmaler und seiner Angestellten, und vielleicht ahnte er auch, daß da noch mehr war, als nur ein bloßes Kennen. Er beging also keinen Vertrauensbruch, wenn er Robert Demant etwas über Kathie erzählte. Allerdings wußte er auch nicht sehr viel zu berichten. Die junge Frau hatte am Morgen anrufen lassen und sich arbeitsunfähig gemeldet. Die Bestätigung durch Dr. Wiesinger war noch am Nachmittag vom Arzt selber hereingereicht worden, nachdem dieser einen Hausbesuch bei Katharina Lehmbacher gemacht hatte.

Ein nervöser Erschöpfungszustand, ausgelöst durch eine persönliche Krise – so lautete die Diagnose. Dr. Wiesinger hatte Kathie gleich bis zum Ende der nächsten Woche krankgeschrieben.

»Fragen S’ mich bitte net, was das eigentlich ist«, sagte Sepp Reisinger. »Ich hoff’ nur, daß das Madel schnell wieder gesund wird. Schließlich ist die Kathie eine meiner besten Kräfte.«

Robert war verzweifelt. Kathie krank! Eine persönliche Krise – wodurch mochte die nur ausgelöst worden sein?

Er mußte sie sprechen, unbedingt!

»Sagen Sie, kann ich Kathie anrufen?« fragte er den Wirt.

Sepp schaute ihn ratlos an.

»Ich… ich weiß net, ob das richtig…«

»Bitte, Herr Reisinger, geben Sie mir die Telefonnummer. Sie wissen doch, wie gut Kathie und ich uns kennen. Ihnen kann ich es ja sagen – wir stehen uns nahe, sehr nahe. Bitte, lassen Sie mich mit ihr sprechen.«

»Also gut«, willigte Sepp Reisinger ein.

Was der Kunstmaler ihm da eben erzählte, hatte er sich ja sowieso schon gedacht. Er nahm das Telefon und wählte Kathies Nummer, dann reichte er Robert den Apparat.

Es läutete und läutete, doch am anderen Ende nahm niemand ab.

»Bitte, Kathie, geh’ ran«, flüsterte der Maler vor sich hin.

Nach einer Weile endete der Klingelton und das Besetztzeichen war zu hören. Verzweifelt legte Robert auf und drückte die Wahlwiederholung.

So ging es noch zwei-, dreimal, dann gab er auf.

»Sie geht net ran, net wahr?«

Der Wirt sah den Maler mitfühlend an.

»Lassen S’ ihr Zeit«, sagte er. »Wenn’s so um Sie beide steht, wie Sie’s mir gesagt haben, dann wird sie früher oder später mit Ihnen sprechen wollen. Kommen S’, trinken S’ ein Schnapsl mit mir.«

Robert sah ein, daß der Wirt recht hatte. Es war zwecklos, stundenlang das Telefon klingeln zu lassen. Wahrscheinlich würde das dauernde Geräusch Kathies Nerven nur noch mehr beanspruchen, und was das Madel jetzt brauchte, war absolute Ruhe.

Der Maler beließ es bei einem Glas. Dann erbat er sich ein belegtes Brot, das er mit auf sein Zimmer nahm. Richtig zu speisen, so, wie er es sonst gerne tat, danach stand ihm der Sinn im Moment nicht.

Auch das Brot mochte ihm net so recht schmecken, wenngleich es appetitlich hergerichtet und bestimmt lecker war. Robert Demant saß am offenen Fenster, und seine Gedanken waren bei der Frau, dessen Bild er vor sich hatte. Beinahe zärtlich fuhren seine Finger darüber, streichelten das Gesicht, die Lippen, die er so gerne geküßt hätte.

»Bald«, sagte er zuversichtlich zu sich selbst. »Bald.«

Doch, es sollte alles ganz anders kommen.

*

Kathie hörte das Klingeln des Telefons und ahnte, wer da anrief.

»Hör’ auf. Bitte, hör’ auf«, sagte sie leise. »Vielleicht hab’ ich sonst net mehr die Kraft und nehme doch ab.«

Zehn Minuten, oder noch länger, ging es so. Dann war Ruhe in der kleinen Wohnung, nur das Ticken der Uhr in der Küche drang durch die offene Tür in das Wohnzimmer.

Kathie lag auf dem Sofa. Seit dem Morgen hatte sie es kaum verlassen. Nachdem Max Trenker gegangen war, klopfte es kurze Zeit später an der Wohnungstür. Kathie wußte, daß es ihre Vermieterin war. Frau Strohlinger stellte keine Fragen, sie sah, daß es der jungen Frau schlecht ging, und handelte.

»Sie legen sich erstmal hin«, befahl sie. »Wenn S’ net ins Bett wollen, dann auf das Sofa.«

Sie warf einen Blick auf Kathies halbvolle Tasse.

»Kaffee ist ganz schlecht in Ihrem Zustand. Ich koch’ Ihnen gleich einen Kräutertee, aber vorher ruf’ ich den Doktor an. Der muß unbedingt herkommen und Sie anschau’n.«

Die kleine, resolute Person wirbelte so durch die Wohnung, daß Kathie gar keinen Widerspruch gewagt hatte. Außerdem war sie dankbar, daß Frau Strohlinger sich um sie kümmerte. Schließlich brachte sie den Tee und setzte sich zu der Kranken. Zuvor rief sie im Hotel an und meldete Kathie krank.

»So, den trinken S’ jetzt schön langsam«, befahl sie sanft. »Und wenn S’ mögen, dann können S’ mir Ihr Herz ausschütten.«

Kathie sah sie dankbar an.

Ja, es tat so gut, sich einem Menschen anvertrauen zu können. Kathie berichtete mit langsamen, stockenden Worten, was geschehen war, und warum der Polizeibeamte sie aufgesucht hatte.

Frau Strohlinger strich ihr dabei immer wieder tröstend über die Wange.

»Mag ja sein, daß es net ganz richtig war, daß Sie dem Max Trenker net gesagt haben, wo Ihr Bruder sein könnte – aber, du lieber Himmel, ewig wird der Wolfgang sich ja net verstecken können. Und so richtig gelogen haben S‘ ja gar net, nur etwas verschwiegen. Also, Kopf hoch, Kathie, das wird schon wieder.«

»Glauben S’ wirklich?« fragte sie zweifelnd.

»Bestimmt. Da bin ich sicher. Und wenn Ihr Bruder unschuldig in die Sache hineingeraten ist, dann wird er auch einen gnädigen Richter finden.«

Diese Worte waren es, die Katharina Lehmbacher wieder etwas aufrichteten, und an die sie sich klammerte. Dr. Wiesinger kam, und es war für den Arzt gar keine Frage, die junge Frau krank zu schreiben, nachdem er ihren Zustand überprüft hatte. Er erbot sich, die Krankmeldung persönlich im »Löwen« abzugeben und verschrieb ein Beruhigungsmittel auf pflanzlicher Basis, das Frau Strohlinger aus der Apotheke mitbrachte.

Am Nachmittag gelang es Kathie dann sogar, ein wenig zu schlafen. Sie wachte erst wieder auf, als das Telefon klingelte.

Gottlob, dachte sie, es hatte aufgehört.

Nein, sie wollte nicht mit ihm sprechen, denn dann hätte sie ihm alles sagen müssen. Belügen wollte sie ihn nicht, und die Wahrheit war so schrecklich, daß sie sie ihm nicht sagen konnte, denn dann mußte er sie verachten. Wie sie es auch drehte und wendete – sie war die Schwester eines Kriminellen, und als solche konnte sie niemals eine engere Verbindung mit Robert Demant eingehen.

So schwer es ihr auch fiel – sie mußte und wollte ihn vergessen!

*

Die beiden nächsten Tage waren für den Kunstmaler die schwersten seines Lebens. So sehr er auch darauf hoffte, Kathie ließ nichts von sich hören. Mehr als einmal war er drauf und dran gewesen, einfach zu ihrer Wohnung zu gehen und sie zu besuchen. Einzig der Gedanke, daß es ihrer Gesundheit schaden könnte, hielt ihn davon ab.

Schließlich hatte er versucht, durch Dr. Wiesinger etwas über die junge Frau in Erfahrung zu bringen, doch der Arzt schüttelte nur den Kopf. Er war noch zweimal zu einem Hausbesuch bei ihr gewesen, doch er durfte nichts darüber sagen. Seine ärztliche Schweigepflicht hinderte ihn daran, obwohl er gerne geholfen hätte. Inzwischen wußte auch er, daß Katharina dem Maler alles bedeutete.

»Sie ist auf dem Wege der Besserung, und es besteht absolut kein Grund zur Sorge«, war alles, was er dem Maler sagen konnte.

Die meiste Zeit verbrachte Robert auf seinem Zimmer, selbst die Mahlzeiten ließ er sich dort servieren. Die wenigen Male, in denen er es verließ, wanderte er einsam durch die Gegend, immer bemüht, den Menschen aus dem Wege zu gehen, um mit seinen Gedanken ganz bei der geliebten Frau zu sein.

Am dritten Tag, nachdem Kathie krank geworden war, hielt er es nicht mehr länger aus. Er brauchte endlich jemanden, mit dem er reden konnte, dem er seine Ängste und Sorgen mitteilen konnte. Der einzige Mensch, der dafür in Frage kam, war der Pfarrer des kleinen Ortes.

Robert fand Sebastian Trenker in der Kirche, wo der Geistliche zwei Buben in die Pflichten als Meßdiener unterrichtete. Der Pfarrer nickte dem Maler zu, der sich in eine Bank setzte und wartete.

Nach einer Weile entließ er die beiden Jungen und setzte sich zu Robert in die Kirchenbank.

»Grüß Gott, Herr Demant, geht’s Ihnen net gut?«

Sebastian war gleich beim Eintreten des Malers dessen Gesichtsausdruck aufgefallen.

»Haben S’ Kummer?«

Robert versuchte zu lächeln. Schließlich sprach er über das, was ihn bedrückte. Sebastian hörte ihm geduldig zu. Dann lehnte er sich zurück.

»Ich war gestern bei Frau Lehmbacher«, berichtete er.

Roberts Augen leuchteten

auf.

»Und, wie geht es ihr?« fragte er hastig.

»Körperlich geht es ihr gut«, sagte Sebastian. »Zumindest hatte ich den Eindruck. Seelisch jedoch…«

Der Maler rang verzweifelt die Hände.

»Aber, was ist denn nur geschehen, das diesen Zusammenbruch auslöste? Als ich Kathie das letzte Mal sah, da ging es ihr doch ausgezeichnet.«

Der Pfarrer schaute den Maler prüfend an.

»Sie wissen nichts über die Hintergründe?«

»Nein. Woher denn? Mir darf ja niemand etwas sagen. Der Herr Reisinger weiß selber nichts, und der Dr. Wiesinger stützt sich auf seine Schweigepflicht.«

Sebastian strich sich nachdenklich über das Kinn.

»Das müßt’ ich eigentlich auch«, meinte er.

Robert Demant hob bittend die Hände.

»Bitte, Hochwürden, wenn Sie etwas wissen – Sie müssen’s mir sagen«, flehte er. »Vielleicht kann ich ja helfen.«

Diese Bitte brachte den Geistlichen in einen echten Zwiespalt. Natürlich mußte er sich an seine Schweigepflicht halten, aber vielleicht konnte er auch abwägen, ob er sie brach, wenn er nicht alles erzählte, was er wußte.

»Ich glaub’ net, daß Sie da helfen können«, sagte er schließlich nach langem Zögern. »Es geht um den Bruder von Frau Lehmbacher, der in Schwierigkeiten steckt. Wissen S’, die Kathie hat sich nach dem Tode der Eltern um den Wolfgang gekümmert, doch der Bursche ist ein leichtsinniger Vogel. Er ist da in eine dumme Sache hineingeschlittert, und das macht der Kathie zu schaffen.«

»Ja, aber kann man denn da gar net helfen?«

Jetzt hob Pfarrer Trenker hilflos die Arme.

»Dazu müßt’ man wissen, wo Wolfgang Lehmbacher steckt«, meinte er.

Er berichtete, wie er eindringlich mit Kathie über die Angelegenheit gesprochen hatte, doch das Madel konnte, oder wollte, nichts über den Aufenthaltsort seines Bruders sagen.

Robert Demant war aufgestanden. Nervös ging er zwischen den Bankreihen auf und ab. Zwar hatte er nicht darüber gesprochen, doch Sebastian wußte ja längst, wie es um ihn und das Madel stand.

»Sie lieben die Kathie wohl sehr?« sagte er zu dem Maler.

Robert drehte sich um und schaute ihm in die Augen.

»Ja«, nickte er. »Sie bedeutet mir alles!«

Pfarrer Trenker legte ihm tröstend den Arm um die Schulter.

»Ich wollt’ heut nachmittag die Kathie noch einmal besuchen. Soll ich ihr von Ihnen etwas ausrichten?«

Roberts Augen leuchteten hoffnungsvoll.

»Ja, bitte, sagen Sie ihr, daß ich sie liebe. Ich wünsche ihr gute Besserung, und ich freue mich auf unseren Ausflug. Bitte, sagen Sie ihr das.«

»Das will ich gerne tun«, antwortete Sebastian Trenker.

*

Wolfgang Lehmbacher hatte sich in ein unwirtliches Berggebiet zurückgezogen, das oberhalb der Jenner-Alm lag. Seit drei Tagen versteckte er sich nun, und allmählich gingen seine Vorräte zu Ende. Er mußte sich überlegen, wie es weitergehen sollte. Durst würde er nicht leiden, unweit seines Versteckes floß ein munterer Bergbach ins Tal hinunter.

Kopfzerbrechen bereitete ihm das Essen. Es war nur noch wenig Käse und Schinken in dem alten Rucksack, und das Brot wurde allmählich hart.

Der Flüchtige hatte sich so gut es eben ging in einer Höhle eingerichtet, in der er nachts etwas Schutz vor Regen und Kälte hatte. Tagsüber waren die Temperaturen angenehm, doch die Nächte wurden immer noch empfindlich kalt.

Zu dem Essenproblem kam die Angst, Kathie könne doch etwas verraten haben. Den ganzen Tag streifte Wolfgang in der Nähe seines Versteckes umher und beobachtete die Gegend. Doch bisher hatte er noch nichts Verdächtiges entdeckt.

Trotzdem – die Angst blieb. Krammler würde erst am Ende der Woche aus dem Urlaub zurückkehren. So lange mußte er durchhalten, wenn er den Mann zur Strecke bringen wollte. Und bis dahin mußte er etwas zu essen aufgetrieben haben.

Wenn es denn sein mußte, würde er nicht zögern, sich etwas von der Alm zu holen, die unter ihm lag. Nachts, wenn es niemand bemerkte. Er wußte, daß er damit zum Dieb wurde, aber das war ihm jetzt auch egal. Später, wenn er die Sache durchgestanden und seine Unschuld bewiesen hatte, dann konnte er den Schaden ja wieder gutmachen.

Noch einmal schaute er ins Tal hinunter, bevor er sich in seine Höhle zurückziehen wollte. Sorgfältig suchten seine Augen den Hang und den steinernen Weg ab, der nach unten führte – und gewahrte den kleinen dunklen Punkt, der offenbar näher kam…

Plötzlich stieg Panik in ihm auf. Es konnte nicht mehr lange dauern, und wer immer da auf dem Weg herauf war – er würde auf Wolfgang Lehmbacher stoßen.

Er überlegte hastig. Sollte er sich in der Höhle verstecken, oder besser noch weiter hinaufklettern. Wolfgang sah nach oben. Es

schien ihm nicht ungefährlich und er war kein geübter Kletterer, dennoch – er hatte keine andere Wahl. Vielleicht war es ja nur ein Zufall, daß dort jemand herauf kam…

Bestimmt war es so, beruhigte er sich. Die Polizei würde doch mit einem größeren Aufgebot nach ihm suchen.

Wolfgang machte sich nicht die Mühe, den Rucksack aus dem Versteck zu holen. Wer auch immer das war – Wanderer oder Bergsteiger – er kam rein zufällig hierher und würde schon bald wieder verschwinden.

Mit diesem Gedanken begann er den Aufstieg, der ihn noch höher bringen sollte, als er ohnehin schon war. Darüber, daß er gar keine Ausrüstung für solch eine Klettertour hatte, darüber dachte er gar nicht nach.

*

»Gibt’s denn neue Nachrichten über Wolfgang Lehmbacher?« fragte Sebastin seinen Bruder beim Mittagessen.

»Net viel«, antwortete der Polizeibeamte. »Die Fahndung konzentriert sich zwar auf den Raum hier, zwischen St. Johann, Engelsbach und Waldeck, aber mehr als ein paar Straßenkontrollen sind net drin. Es sind einfach zu wenig Beamte im Einsatz.

Man hat inzwischen ein paar Zeugen, die Wolfgang gesehen haben, als er hierher unterwegs war. Er muß also irgendwo hier in der Gegend sein.«

Max Trenker legte sein Besteck beiseite.

»Er wird jetzt übrigens als Hauptverdächtiger gesucht. Die Fahrzeugdiebstähle haben schlagartig aufgehört, seit er vor drei Tagen zum ersten Mal geschnappt wurde. Die Kollegen von der Kripo machen sich natürlich ihren Reim darauf. Und dieser mysteriöse Herr Krammler ist in Urlaub«, fuhr er fort.

»Sie vermuten, daß Wolfgangs Komplicen kalte Füße bekommen haben.«

»Richtig. Ich denk’ auch, daß jetzt erst einmal eine Weile Ruhe ist. Allerdings net für mich. Solange Wolfgang Lehmbacher net gefaßt ist, gibt’s keinen freien Tag mehr für mich. Ich werd’ heut nachmittag noch einmal die Kathie befragen. Das Madel weiß etwas, da bin ich mir ganz sicher.«

Pfarrer Trenker runzelte die Stirn.

»Laß mich erst einmal mit ihr reden«, schlug er vor. »Ich wollt’ sowieso heut’ zu ihr. Vielleicht hat sie ja jetzt, nach ein paar Tagen, Abstand gefunden und sieht die Angelegenheit net mehr so dramatisch. Sie ist doch eine kluge Frau, die weiß, daß ihr Bruder seinen Fehler bezahlen muß. Bestimmt kann ich sie überzeugen, mir zu sagen, was sie weiß.«

»Also gut«, stimmte Max Trenker zu. »Versuch’ dein Glück. Wenn es aber net klappt, dann muß ich die Kathie offiziell vorladen.«

Gleich nach dem Mittagessen machte sich Sebastian auf den Weg. Im Garten des Hauses waren Kathies Vermieter damit beschäftigt, die ersten Salate und Radies auszusäen.

»Grüßt euch«, sagte Pfarrer Trenker. »Geht’s gut?«

Die beiden alten Leute sahen von ihrer Arbeit auf.

»Wir können net klagen«, erwiderte Hubert Strohlinger. »In unserem Alter ist man für jeden Tag dankbar, den man ohne Zipperlein übersteht.«

»Na, ihr schaut doch beide noch ganz rüstig aus. Und Gartenarbeit hält jung.«

»Sie wollen sicher zur Kathie«, stellte Frau Strohlinger fest.

»Ja«, bestätigte der Geistliche. »Wie geht es ihr denn?«

»Sehr viel besser«, bekundete die alte Frau. »Wenigstens weint sie net mehr so viel.«

»Schön, daß Sie sich ein bissel um sie kümmern«, sagte Sebastian.

»Na ja, sie ist ja auch ein liebes Madel. Könnt’ ja fast unsere Tochter sein. Schade nur, daß sie solch einen mißratenen Bruder hat.«

Pfarrer Trenker hob beide Hände.

»Wer weiß, wie der in die Sach’ hineingeschlittert ist«, meinte er. »Vielleicht ist er gar net so schlecht, wie er jetzt erscheint.«

Dieser Satz war typisch für den Seelsorger, der in den Menschen zunächst einmal nur das Gute sah.

»Ich geh’ dann mal hinauf«, nickte er den beiden alten Leuten zu.

Katharina Lehmbacher öffnete sofort auf sein Klingeln. Sie lächelte, als sie den Besucher erkannte.

»Darf ich eintreten?« fragte Sebastian.

»Bitt’schön«, lud sie ihn ein. »Setzen S’ sich.«

Sie hatten in Kathies Wohnzimmer Platz genommen.

»Ich hab’ grade Tee gekocht – Frau Strohlinger meint, Kaffee wäre nichts in meinem Zustand – möchten S’ eine Tasse?«

»Sehr gerne. Kathie. Wie ist denn dein Zustand?«

Die junge Frau holte eine zweite Tasse und stellte sie vor Pfarrer Trenker auf den Tisch.

»Es geht so«, antwortete sie, während sie eingoß. »So langsam beruhige ich mich wieder.«

Sie reichte Zucker und Sahne und stellte einen Teller mit Plätzchen dazu. Sebastian bediente sich.

»Hm, schmeckt herrlich, der Tee.«

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück.

»Kathie, du kannst dir denken, warum ich hier bin«, begann er das Gespräch. »Natürlich zum einen, weil ich mich erkundigen will, wie es dir geht. Zum anderen natürlich wegen deines Bruders. Du weißt, daß er da eine große Dummheit gemacht hat. Aber alles auf der Welt läßt sich wieder ausbügeln. Nur, dazu muß er sich stellen.«

»Aber er ist doch unschuldig in diese Sache hineingeraten«, begehrte das Madel auf. »Man hat ihn hereingelegt. Wolfgang wußte doch gar net, daß die Autos gestohlen waren!«

»Das mag sein, aber warum stellt er sich dann nicht den Behörden und macht seine Aussage?«

»Weil… weil er den Kopf der Bande überführen will. Und das kann er nur, wenn er net im Gefängnis sitzt, sagt er.«

»Du meinst diesen Herrn Krammler?«

»Ja. Er hat doch Wolfgang dafür bezahlt, daß er die Autos überführt. Sogar sehr gut bezahlt.«

»Und den will dein Bruder zur Rede stellen? Ja, Herr im Himmel, ist er denn ganz narrisch geworden? Was glaubt der denn, was der Krammler macht, wenn Wolfgang bei ihm auftaucht? Zum Schweigen wird er ihn bringen! Der Mann ist – wenn es stimmt, was Wolfgang ausgesagt hat – der Chef einer ganzen Bande, die keine Rücksicht nimmt, wenn sie in die Enge getrieben wird.«

Kathie war bei diesen Worten leichenblaß geworden.

»Ich will dir keine Angst machen, Madel, aber ich fürchte um deinen Bruder… Weißt’ wirklich net, wo er steckt?«

Kathie wand sich hin und her. Von dieser Seite aus hatte sie die Angelegenheit noch gar nicht betrachtet, sondern nur Wolfgangs Plan gesehen, der so einfach

schien. Daß ihr Bruder sich dabei in Gefahr bringen könnte, hatte sie gar nicht bedacht.

»Nicht genau…«, erwiderte sie schließlich. »Er wollte in die Berge, sich dort irgendwo verstecken, bis dieser Krammler aus dem Urlaub zurück ist.«

Pfarrer Trenker holte tief Luft. Irgendwo in den Bergen war ein weiter Begriff.

»Hast du keine Vorstellung, wo genau er sich verstecken könnte? Kennt er sich denn da oben aus?«

»Net besonders gut. Eigentlich waren wir nur einmal zusammen droben, bis zur Jenner-Alm.«

»Jenner-Alm – da drüber ist doch die Höhle im Berg.«

Sebastian war aufgesprungen.

»Ist der Bursche etwa da hochgeklettert?« fragte er erregt.

»Hat er denn überhaupt eine Ausrüstung dabei? Seile und Haken?«

Kathie schüttelte den Kopf.

»Nein, soviel ich weiß, net…«

»Dann muß ich so schnell wie möglich hinauf«, entschied der Geistliche. »Hoffentlich finde ich ihn, bevor…«

Er sprach nicht aus, was er befürchtete.

»Madel, mach’ dir keine Gedanken«, sagte er statt dessen. »Ich find ihn und bring’ ihn heil wieder runter.«

*

»Wollen S’ jetzt etwa in die Berge?« fragte Sophie Tappert entgeistert, als sie den Pfarrer in seinen Wandersachen sah.

»Ja, aber net zum Vergnügen«, antwortete er. »Wolfgang Lehmbacher ist irgendwo da oben.«

Die Haushälterin hielt sich erschreckt die Hand vor den Mund.

»Und da wollen S’ ganz allein hinauf? Ganz allein einem Verbrecher gegenüberstehen?«

»Na, na, Frau Tappert, Sie wissen doch, wie ich darüber denk’. Erst wenn jemand wirklich überführt ist, dann ist er auch schuldig. Außerdem glaub’ ich net, daß der Wolfgang ein gefährlicher Verbrecher ist, sondern eher ein irre geleitetes Schaf, das auf den rechten Weg zurückgebracht werden muß.«

»Wollen S’ net trotzdem dem Max Bescheid sagen?«

»Dazu ist jetzt keine Zeit. Wer weiß, wo ich ihn überhaupt erreiche. Meinetwegen können S’ es versuchen. Wenn es klappt, soll er mich bei der Jennerhütte treffen.«

Mit dem Wagen fuhr Sebastian bis zur Alm hinauf. Dies entsprach überhaupt nicht seiner Gewohnheit, aber er wollte keine Zeit verlieren. Über den Wirtschaftsweg erreichte er die Almhütte in wenigen Minuten und stellte den Wagen dort ab. Von hier an ging es wirklich nur noch zu Fuß weiter.

Der Geistliche warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Im Osten standen graue Wolken. Hoffentlich kommt kein Wetter, dachte er. Ein Unwetter war das letzte, das er jetzt gebrauchen konnte.

Als er dann mit dem Aufstieg begann, spürte er doch schon die ersten Regentropfen.

Sebastian kannte die Lage der Höhle, in der er Wolfgang Lehmbacher vermutete, recht genau. Wenn er sich beeilte, konnte er sie erreichen, bevor der Regen vollends einsetzte. Allerdings durfte er dabei keine Vorsichtsmaßnahme außer acht lassen. Sicherheit war das oberste Gebot.

Allmählich wurde der Regen stärker. Der Geistliche hatte die Kapuze seines Anoraks über den Kopf gezogen, und am Kinn festzusammengebunden. Stetig kam er voran. Endlich sah er den Eingang der Berghöhle vor sich.

Sie war aus vorgeschichtlicher Zeit, und Archäologen vermuteten, daß sie einst von Urzeitmenschen bewohnt worden war. Nur knapp drei Meter führte sie in den Berg hinein, schützte aber gut vor Wind und Wetter. Ein ideales Versteck, für jemanden, der auf der Flucht war. Sebastian vermutete, daß Wolfgang ihn längst gesehen hatte – wenn er sich denn dort drinnen versteckt hielt.

Ein schmaler Pfad führte zum Höhleneingang. Pfarrer Trenker verschnaufte einen Moment, dann schaute er hinein.

Die Höhle war leer!

Zumindest der Teil, den man vom Eingang aus sehen konnte. Sebastian ließ seine Taschenlampe aufleuchten.

»Wolfgang Lehmbacher, sind Sie hier drinnen?« rief er in die Höhle hinein. »Ich bin Pfarrer Trenker, aus St. Johann. Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

Wie er es beinahe erwartet hatte, erhielt der Seelsorger keine Antwort. Er ließ den Schein der Lampe umherwandern und entdeckte in der hintersten Ecke ein Bündel, das sich als Rucksack entpuppte, als Sebastian näher trat und es in Augenschein nahm.

Das war also der Beweis. Kathies Bruder hielt sich wirklich hier oben versteckt. Doch wo war er jetzt?

Sebastian ging zum Ausgang zurück.

Wolfgang mußte ihn gesehen haben, als er heraufkletterte, und war noch weiter heraufgeklettert. Anders konnte es nicht sein. Auf dem Weg nach unten hätten die beiden sich begegnen müssen.

Pfarrer Trenker sah die Wand hinauf. Für einen geübten Kletterer stellte sie keine großen Anforderung dar, doch ohne entsprechende Ausrüstung… Wolfgang konnte sich nur mit den Händen und Füßen in irgendwelchen Felsspalten halten und so versuchen, die Wand zu nehmen. Das war zwar schwierig, aber nicht unmöglich – wenn denn anderes Wetter herrschte.

Als habe Petrus seine Überlegung geteilt, entlud sich im selben Augenblick ein krachendes Gewitter über dem Berg.

Hilft nix, dachte Sebastian und kletterte los. Er kam besser voran, als er gedacht hatte, lediglich der Regen störte ein wenig. Nach einer Viertelstunde erreichte er ein schmales Plateau. Dort hockte, wie ein Häufchen Elend, Wolfgang Lehmbacher, die Jacke über den Kopf gezogen, um so etwas Schutz vor dem Regen zu finden.

*

Kathies Bruder war, so gut er konnte, die Wand hochgeklettert. Bei ihm war es pure Not, die ihn dazu zwang, von Leidenschaft konnte keine Rede sein. Er erinnerte sich, wie er damals mit seiner Schwester auf der Jenner-Alm gewesen war. Da war er aus lauter Neugierde ein Stück höher geklettert und hatte dabei die Höhle entdeckt. Aber wirklich Freude würde er am Bergsteigen niemals haben. Dazu war er auch viel zu unsportlich, wie er sich selbst eingestand.

Wolfgang erreichte das schmale Plateau, als der Regen einsetzte. Zwar hätte er noch höher klettern können, doch das wagte er nicht. Schließlich war er nicht lebensmüde. Also hockte er sich eng an die Wand und zog die Jacke über den Kopf.

Hoffentlich regnet es nicht zu doll, dachte er, und hoffentlich verschwindet dieser andere Wanderer bald wieder!

Von seinem Platz aus konnte Wolfgang nicht sehen, was sich bei der Höhle abspielte, aber es schien, als riefe jemand seinen Namen. Er lauschte. Oder hatte er sich verhört? Jetzt war alles ruhig.

»Verhört«, sagte er zu sich selbst.

Der Regen weitete sich zu einem Gewitter aus. Wolfgang fluchte still vor sich hin. Er schimpfte auf das Wetter, die Polizei und auf Krammler, der ihn in diese Lage gebracht hatte.

»Wart’ nur, Bursche, wenn ich dich in die Finger krieg’!«

Er hatte diese Drohung fast laut ausgestoßen. Auch wenn Krammler ihn im Moment überhaupt nicht hören konnte.

»Herr Lehmbacher«, rief plötzlich eine Stimme.

Wolfgang fuhr hoch. Über den Rand des Plateaus lugte ein Kopf. Sie waren also doch hinter ihm her. Kathie hatte nicht dicht gehalten!

Ohne zu überlegen versuchte er weiter aufzusteigen. Einen guten Meter hatte er schon geschafft, ohne auf die Rufe des anderen zu achten.

»Herr Lehmbacher, kommen S’, um Himmels willen, wieder runter!« rief Sebastian Trenker, der das Unglück kommen sah und doch nicht verhindern konnte.

Wolfgangs rechter Fuß rutschte aus dem Spalt, und seine Finger glitten an dem nassen Gestein ab. Vergeblich suchte er nach einem Halt. Er fiel auf das Plateau und rollte auf den Abgrund zu.

Im letzten Moment griffen seine Hände und hielten sich an der Kante fest, während seine Beine in der Luft baumelten.

Pfarrer Trenker hatte sich hochgezogen. Mit drei Schritten war er bei Wolfgang Lehmbacher, der ihn aus angstvoll geweiteten Augen ansah. Sebastian packte ihn bei den Handgelenken.

»Versuchen S’, daß die Füße Halt finden«, rief er.

Jetzt, wo er die sichernden Hände spürte, wurde Kathies Bruder ruhiger. Er stützte die Füße ab und arbeitete mit, als Sebastian ihn langsam hochzog. Dann rollten sie vom Abgrund weg und blieben erschöpft liegen.

»Das war in letzter Minute. Vielen Dank, Herr…«

»Trenker. Ich bin Pfarrer Trenker, aus St. Johann. Hören Sie mir jetzt mal einen Moment zu.«

Aus dem Moment wurde eine gute halbe stunde, in der der Geistliche auf den jungen Mann einredete. Zunächst schien Wolfgang den Worten des Pfarrers nicht zu trauen, doch dann nickte er.

»Ich weiß, ich hab’ ziemlichen Mist gebaut«, sah er ein.

»Doch daß die Wagen geklaut waren, das hab ich net gewußt.«

»Ich glaub’ Ihnen, genauso, wie Ihre Schwester Ihnen geglaubt hat. Sie hat nur aus Sorge um Sie preisgegeben, wo Sie sich aufhalten. Also, seien Sie ihr net

bös’.«

»Der Kathie? Bestimmt net. Aber, ein bissel mulmig ist mir schon, wenn ich daran denk’, daß ich jetzt ins Gefängnis gehen muß.«

»Es ist ja net für immer«, tröstete Sebastian ihn. »Außerdem warten wir erstmal den Prozeß ab. Bis dahin kommen S’ bestimmt wieder auf freien Fuß, wenn Sie Ihre Aussage gemacht haben.«

»Na, Ihr Wort in Gottes Ohr«, meinte Wolfgang Lehmbacher keck.

Pfarrer Trenker schmunzelte.

»Da sind S’ bei mir an der richtigen Stelle. Ich werd’s vermitteln.«

*

»Wann wird Frau Lehmbacher denn wieder ihren Dienst antreten?« fragte Robert Demant immer wieder.

»Heut’ mittag ist’s soweit«, lachte Sepp Reisinger, der den Maler verstehen konnte.

Seit Tagen hatte Robert nichts von Kathie gehört, und seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Zeit hatte er sich damit vertrieben, das Bild, das er von der geliebten Frau gemalt hatte, zu vervollkommnen und kleine Korrekturen vorzunehmen. Jetzt stand es in seinem Zimmer auf der Staffelei und wartete darauf, von der Dargestellten bewundert zu werden.

Pünktlich zur Mittagszeit war Robert unten. Er begegnete Kathie im Vorraum des Restaurants.

»Da sind Sie ja endlich wieder«, sagte er und streckte eine Hand nach ihr aus.

Die junge Frau zuckte unwillkürlich zurück.

»Grüß’ Gott«, sagte sie, aber es klang sehr förmlich.

So, wie wenn sie irgendeinen Gast begrüßte und nicht ihn. Robert wußte nicht, was er davon halten sollte. Kathie stand an einem Schränkchen und sortierte Servietten in eines der Fächer.

»Kathie, was ist geschehen?« fragte Robert Demant. »Hab’ ich etwas getan, das Sie verletzt hat? Sagen Sie es mir. Es war gewiß nicht meine Absicht.«

Sie schaute ihn traurig an, und wenn er sich nicht täuschte, dann sah er in ihren Augen Tränen glitzern.

»Es ist nichts, Herr Demant«, antwortete sie. »Entschuldigen S’ mich, ich hab’ zu tun.«

Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen.

Völlig durcheinander ging Robert wieder auf sein Zimmer. So hatte er sich das Wiedersehen mit der Frau, die er liebte, nicht vorgestellt. Im Gegenteil, wie oft hatte er es sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn sie zusammenträfen, und er ihr seine Liebe gestehen konnte.

Doch dieses Wiedersehen war wie eine eiskalte Dusche gewesen.

Kathie indes hatte sich in den Personalraum geflüchtet, wo sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Sie hatte nicht damit gerechnet, Robert Demant noch anzutreffen, hatte vielmehr geglaubt, er wäre abgereist.

Nein, sagte sie zu sich, reiß’ dich zusammen. Du hast in den letzten Tagen genug geweint. Die Sache mit ihrem Bruder war überstanden. Dank der Hilfe von Pfarrer Trenker hatte er sich der Polizei gestellt und seine Aussage gemacht. Daraufhin waren Justus Krammler und seine Frau verhaftet worden, gleich, nachdem sie in München aus dem Flugzeug gestiegen waren, das sie aus dem Urlaub nach Deutschland zurückbrachte. Wegen Verdunklungsgefahr hatte das Gericht für beide Untersuchungshaft angeordnet. Wolfgang hingegen, der einen festen Wohnsitz nachweisen konnte, wurde, unter der Auflage sich wöchentlich auf dem Revier zu melden, tatsächlich bis zum Prozeßbeginn freigelassen.

Außerdem waren weitere drei Mitglieder der Bande verhaftet worden, nachdem Manuela Krammler ein volles Geständnis abgelegt hatte.

Insofern konnte Katharina Lehmbacher beruhigt sein. Und alles wäre in bester Ordnung gewesen, wenn sie nicht eben auf Robert getroffen wäre. Sie hatte ihn schon beinahe vergessen…

Nein, dachte sie, vergessen würde sie diesen Mann nie. Dazu liebte sie ihn doch viel zu sehr.

»Hier bist du«, sagte ihre Kollegin zu ihr, die eben durch die Tür kam. »Hier ist ein Brief für dich. Er lag an der Rezeption.«

Sie gab Kathie den Brief.

»Mach’ schnell«, sagte sie. »Die ersten Mittagsgäste sind schon da.«

»Ich komm’ gleich«, nickte Kathie und riß den Umschlag auf.

Sie ahnte, von wem der Brief war…

Robert bat um ein Treffen. Er schrieb, daß er etwas habe, das er ihr geben wollte, bevor er abreiste. Außerdem, so schrieb er weiter, sei sie ihm eine Erklärung schuldig.

Kathie ließ den Brief sinken. Ja, das war sie ihm wirklich. Sie mußte ihm sagen, was geschehen war, und sich für ihren Bruder entschuldigen. Robert bat um ein Treffen am Abend, dort, wo sie zur Alm hinaufgestiegen war. Sie war gewillt, dort hinzugehen.

Auch wenn es ihr schwerfallen würde.

*

Robert saß an der Stelle, wo Kathie und er ihre erste Rast gemacht hatten. Nach dem enttäuschenden Wiedersehen hatte er den Brief geschrieben und gehofft, daß sie mit diesem Treffen einverstanden sein würde.

Das Bild hatte er, in braunes Packpapier eingeschlagen, neben sich auf dem Boden liegen. Es sollte ein Geschenk an sie sein. So lange hatte er sich daran erfreut, jetzt sollte es Kathie immer an ihn erinnern. Er selber brauchte es nicht mehr, denn er trug ja ihr Bild in seinem Herzen.

Endlich war es soweit. Schon von weitem sah er die Gestalt und erkannte die geliebte Frau in ihr. Kurz bevor sie ihn erreichte, stand Robert auf.

»Guten Abend«, sagte er und reichte ihr die Hand. »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind.«

»Robert, ich…«

Auf dem Weg hierher hatte Kathie überlegt, was sie ihm sagen wollte, doch jetzt, in diesem Augenblick, wäre jedes Wort unangebracht gewesen. Robert legte seinen Finger auf ihre Lippen.

»Sag’ nix, Madel, hör mir nur zu«, bat er.

Kathie nickte. Sie zitterte vor Aufregung. Robert nahm das Paket und wickelte es aus.

»Schau’ hier«, sagte er. »Daß ich dieses Bild gemalt habe, ist dein Verdienst, denn durch dich habe ich neuen Mut gefunden. Du hast mir geholfen, eine schlimme Krise zu überwinden.«

Kathie schaute auf das Bild, das sie darstellte, und war sprachlos. Sie sah vom Bild zum Maler und wieder zurück.

»Ich möchte es dir schenken«, sprach Robert weiter. »Zur Erinnerung an eine schöne Zeit. Zwar habe ich mir mehr von dieser Zeit versprochen, aber, vielleicht ist es auch zuviel, was ich von dir verlange. Du kennst mich kaum, und ich weiß so wenig von dir.

Dennoch, Kathie, laß mich dir sagen, daß ich dich liebe, mehr liebe, als jemals einen Menschen zuvor.«

Kathie sah ihn an, sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

»Ich…, ich liebe dich doch auch Robert, aber… das, was da geschehen ist…«

Endlich riß er sie in seine Arme.

»Du liebes Dummchen«, rief er aus. »Hast du denn wirklich geglaubt, daß das, was dein Bruder getan hat, meine Gefühle zu dir beeinträchtigen könnte?«

»Du weißt davon?« fragte Kathie erstaunt.

»Alles. Die ganze Geschichte. Ich war heilfroh, als Pfarrer Trenker mir alles erzählte. Ich hatte nämlich schon Angst, daß ich etwas gesagt oder getan haben könnte, das Schuld daran sei, daß du…«

»Du? Niemals! Wie kommst du nur darauf? Ich habe mich fürchterlich für meinen Bruder geschämt und hätte nie zu hoffen gewagt, daß…«

»Daß ich die Schwester eines Kriminellen lieben könnte?«

Kathie nickte zaghaft, während Robert befreit auflachte.

»Nichts, was auf der Welt geschieht, kann meine Liebe zu dir schmälern«, sagte er dann, wobei er sie liebevoll ansah.

»Denn du bist die Frau, auf die ich ein Leben lang gewartet habe. Sag’ mir nur eines – willst du mich heiraten?«

Katharina schluckte und nickte stumm. Robert zog sie vollends an sich und küßte sie zärtlich, während die untergehende Sonne auf Kathies Bild schien.

Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman

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