Читать книгу Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman - Toni Waidacher - Страница 18

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»Grüß’ dich, Xaver«, nickte Sebastian Trenker dem Förster Anreuther zu, der eiligen Schrittes aus dem Ainringer Forst kam. Brutus, der Jagdhund, lief nebenher.

Der alte Förster lüftete seinen Hut und erwiderte den Gruß.

»Was machen S’ denn hier in aller Frühe, Hochwürden?« erkundigte er sich. »Es ist ja grad’ erst Tag geworden.«

Pfarrer Trenker schmunzelte. Es kam immer wieder vor, daß die Leute sich wunderten, ihn am frühen Morgen durch die Gegend wandern zu sehen. Meistens war es der Beginn einer Bergtour, und jemand, der Sebastian nicht kannte, würde ihn unmöglich für einen Geistlichen gehalten haben. Pfarrer Trenker entsprach so ganz und gar nicht der landläufigen Vorstellung, die die Menschen von einem Diener Gottes hatten.

Das begann bei der sportlichen, durchtrainierten Figur, und endete bei der Kleidung, die Sebastian zu seinen Touren trug. Man hatte ihn schon für einen professionellen Bergführer gehalten, oder für einen Hochleistungssportler. Pfarrer Trenker indes liebte sportliche Betätigung jeglicher Art, betrieb diese aber nicht, um in einer Disziplin Weltmeister zu werden. Es war mehr ein Ausgleich für die nicht immer leichte Arbeit als

Seelsorger seiner Gemeinde.

»Ich war schon lang’ net mehr oben«, antwortete der Geistliche und deutete mit dem Kopf auf die Almspitze, oberhalb des Waldes, aus dem Xaver Anreuther gerade herausgekommen war. »Und du? Ist etwas net in Ordnung?«

Sebastian sah den Förster forschend an, der einen finsteren Eindruck auf ihn machte.

»Die hab’ ich grad’ entdeckt«, erwiderte er und hielt dem Pfarrer drei Drahtschlingen hin. »Wenn ich den Burschen erwische, dann gnade ihm Gott!«

Sebastian konnte den Zorn des Försters verstehen. Drahtschlingen zu legen, war die gemeinste Art der Wilderei. Das arme Tier, das sich darin verfing, wurde zu Tode gewürgt und verendete jämmerlich.

»Hast du eine Vermutung, wer Fallen gelegt haben könnt’?«

Der Revierförster strich seinem Hund über den Kopf. Das Tier, eine Irish-Setter-Mischung, hatte sich ohne Aufforderung neben seinen Herrn gesetzt und beobachtete die beiden Männer aufmerksam.

»Wenn ich’s net besser wüßt’, dann würd’ ich sagen, das ist ganz die Handschrift vom alten Breithammer, aber der sitzt ja im Gefängnis.«

Sebastian nickte. Er kannte natürlich die Geschichte um Joseph Breithammer, der, zusammen mit seiner Tochter, in einer Waldhütte hauste und nächtens auf Jagd ging. Xaver hatte ihn vor zwei Jahren auf frischer Tat ertappt und gestellt. Nach dem Prozeß, bei dem der Wilderer wüste Drohungen gegen den Förster ausstieß, weil er ihm den Arm steif schoß, wurde Breithammer zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die er immer noch absaß. Als Täter schied er also aus.

»Auf jeden Fall werd’ ich verstärkt meine Rundgänge durchs Revier machen«, versicherte der Forstbeamte.

»Dann geb’ nur acht. Der Bursche ist gewiß net ungefährlich«, mahnte der Pfarrer. »Und du bist auch net mehr der Jüngste.«

Xaver Anreuther nickte. Er wußte, daß der Geistliche recht hatte, immerhin war er schon im Pensionsalter.

»Keine Sorge«, meinte er und tätschelte dem Hund den Hals. »Der Brutus paßt schon auf mich auf.«

»Na, dann pfüat dich, Xaver«, verabschiedete Sebastian sich. »Ich werd’ auf jeden Fall die Augen offenhalten, und wenn ich etwas bemerk’, geb’ ich dir Bescheid.«

Die Männer winkten sich zu, und der Geistliche lenkte seine Schritte zum Waldweg hinüber, der ein gutes Stück durch das Forstrevier führte. Dahinter war ein Pfad, der führte direkt hinauf zur Alm. Diesen Weg ging Sebastian am liebsten, führte er doch an blumenübersäten Wiesen und klaren Gebirgsbächen vorbei.

Natürlich waren seine Gedanken bei dem, was er eben gehört hatte. Pfarrer Trenker hoffte, daß der Wilddieb bald möglichst gefaßt würde, bevor der Schaden, den er mit seinen Schlingen anrichtete, noch größer wurde. Er würde später mit seinem Bruder darüber sprechen. Max Trenker, der Dorfpolizist von St. Johann, kannte durch seine Tätigkeit als Ordnungshüter bestimmt ein paar Leute, die als Täter in Frage kamen.

*

»… und dann wünsche ich euch noch schöne Ferien, und hoffe, daß wir uns in ein paar Wochen alle gesund und munter wiedersehen.«

Das schrille Läuten der Pausenglocke beendete die Unterrichtsstunde. Mit lautem Gejohle drängten die Kinder der 3a aus dem Klassenraum. Verena Berger packte lächelnd ihre Tasche und räumte ein paar Dinge aus dem Schreibtisch.

»Schöne Ferien«, rief jemand durch die offene Klassentür.

Die junge Lehrerin sah auf. Es war Gerald Hoffmann, ein Kollege, der da seinen Kopf hereinstreckte und ihr zuwinkte.

»Die wünsch’ ich dir auch«, antwortete sie. »Wo soll’s denn hingehen?«

Gerald kam hereingeschlendert. Seine Aktentasche trug er unter dem Arm. Er war leger in Jeans und Pulli gekleidet.

»Ich weiß noch net«, bekannte er. »Vielleicht bleib ich daheim, es sei denn…«

Verena sah ihn neugierig an.

»Ja? Es sei was?«

Der junge blonde Mann sah sie treuherzig an.

»Es sei denn, wir beide verreisen zusammen«, antwortete er.

»Ach, Gerald!«

Die Lehrerin lachte. Sie wußte, daß Gerald in sie verliebt war. Immer wieder lud er sie zum Essen ein, oder ins Kino. Ein, zweimal war sie auch mit ihm ausgegangen, doch mehr war – von ihrer Seite – nicht drin. Sie mochte Gerald Hoffmann, als netten Kollegen und guten Freund, aber etwas anderes als Freundschaft, würde sie für ihn nie empfinden.

»Ich weiß, ich weiß«, winkte er resignierend ab. »Du hast es mir ja oft genug gesagt. Und du? Wohin fährst du?«

»Gleich morgen geht’s in die Berge«, sagte Verena, während sie gemeinsam den Klassenraum verließen und zur Aula hinüber gingen.

»Was willst’ denn in den Bergen?« fragte ihr Kollege erstaunt. »Jetzt ist doch gar keine Saison zum Skifahren.«

»Man muß ja in den Bergen net unbedingt skifahren. Was glaubst’, wie herrlich man da wandern kann. Es gibt wunderschöne Touren, und unterwegs kehrt man zur Jause in einer Sennwirtschaft ein. Das ist Sport und Erholung zugleich.«

»Du lieber Himmel, wie du davon schwärmst! Ich hab’ ja gar net gewußt, daß du so begeistert davon bist.«

Sie hatten den Parkplatz erreicht. Ihre beiden Wagen standen nebeneinander.

»Ich bin früher, mit meinen Eltern, sehr oft in den Bergen gewesen. Und jetzt freue ich mich, es nach langer Zeit mal wieder zu tun«, erklärte sie und schloß ihr Auto auf. »Also, dann bis in sechs Wochen. Ich schreib’ dir mal ’ne Karte aus Sankt Johann.«

»Wie heißt das, wohin du willst?«

Beide standen schon mit einem Bein in ihren Fahrzeugen.

»Sankt Johann. Ein kleines Dorf in den Alpen. Ich kenn’s von früher und bin schon ganz gespannt, was sich dort alles verändert hat.«

Sie winkten sich ein letztes Mal zu. Verena atmete auf – endlich Ferien!

*

Bert Fortmann schaute ärgerlich auf das Telefon. Seit einer Viertelstunde klingelte es. Gloria ließ wirklich nicht locker. Dabei waren seine Worte eigentlich unmißverständlich gewesen.

Es war Schluß, aus und vorbei!

Der dreißigjährige Rechtsanwalt aus Neuburg ignorierte das hartnäckige Läuten und machte sich weiter daran, eine große schwarze Reisetasche zu packen. Sie lag auf dem Bett, während Bert vor dem offenen Kleiderschrank stand und überlegte, was er alles mitnehmen müsse. Es war seit Jahren sein erster Urlaub, und er merkte, daß er nicht darin geübt war, Reisetaschen und Koffer zu packen. Bisher war es auch nicht notwendig gewesen. Die längste Zeit waren drei Tage gewesen, die Bert in München verbracht hatte, um einen Mandanten dort vor Gericht zu vertreten.

Unschlüssig nahm er dieses und jenes Teil heraus, betrachtete es prüfend und hing es wieder weg. Schließlich setzte er sich zu der Tasche auf das Bett und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Was ihm allerdings nicht gelingen wollte, denn immer wieder stand das Bild der Frau vor seinen Augen, mit der er bis vor ein paar Tagen eng befreundet gewesen war.

Sehr eng, sogar von Hochzeit war die Rede gewesen.

Bert Fortmann hatte sehr lange gebraucht, um dahinter zu kommen, welch ein Wesen hinter der schönen Fassade der Gloria von Haiden steckte. Durchtrieben und intrigant, stets auf den eigenen Vorteil bedacht. Freunde, die das Spiel der umwerfend schönen Frau schneller durchschauten, als der durch die Liebe mit Blindheit geschlagene Anwalt, hatten Bert mehr als einmal gewarnt. Doch er hatte es nicht wahrhaben wollen, hatte beinahe sogar Freundschaften aufs Spiel gesetzt.

Ohne Zweifel – Gloria war eine bemerkenswerte Frau. Zu einer traumhaften Figur kam ein hinreißendes Gesicht, das klassische Schönheit und kühle Arroganz in sich vereinte. Auf jeder Gesellschaft war sie der strahlende Mittelpunkt, um den sich die Männer scharten, wie die sprichwörtlichen Motten, um das Licht.

Und Gloria wußte ihre Reize geschickt einzusetzen, und die Dummheit mancher Männer auszunutzen. Skrupellos suchte sie ihren Vorteil. Sie konnte verführerischer Vamp oder anschmiegsames Kätzchen sein, je nachdem, wie die Situation es erforderte.

Bert hatte später gemerkt, wie sie wirklich war, und beinahe wäre es zu spät gewesen. Gloria von Haiden arbeitete im Börsengeschäft. Sie und Bert hatten sich durch einen Mandanten kennengelernt, der über Gloria Aktiengeschäfte tätigte. Schnell waren sie und Bert sich nähergekommen. Natürlich blieb es nicht aus, daß sie über Aktien, Kurse und derlei Dinge sprachen. Und eigentlich hätte der Rechtsanwalt merken müssen, mit welcher Gefühlskälte die Frau über ihre Kunden redete, die mit irgendwelchen Spekulationen Geld, viel Geld verloren hatten.

Dabei wurde sie immer reicher, und natürlich empfahl sie dem Mann, dem sie Liebe geschworen hatte, selber Geld in bestimmte Werte anzulegen. Ahnungslos überließ der verliebte Anwalt es ihr, diese Geschäfte zu tätigen. Bis eines Tages das böse Erwachen kam.

Mitten in der Nacht durchsuchten Beamte der Steuerfahndung Haus und Büro des Anwalts, und Bert hatte alle Mühe, ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung und illegaler Aktiengeschäfte abzuwenden.

Es war eine schlimme Zeit. Zwar konnte er nachweisen, mit Glorias Machenschaften nichts zu tun zu haben, doch sein Ruf als integerer Rechtsanwalt war angekratzt. Immerhin hatte die Frau, mit seiner Finanzkraft und ihrem Wissen, auf verbotene Art und Weise Unmengen Geld verdient.

Was blieb, war einen Schlußstrich zu ziehen. Er wollte und konnte Gloria nie mehr wiedersehen!

Daß die Frau nicht von ihm lassen wollte, bewiesen das wiederholte Klingeln des Telefons und endlose Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Schließlich hatte der Anwalt alle Termine an seinen Sozius abgegeben und beschlossen, erst einmal in Urlaub zu fahren. Irgendwohin, wo er Ruhe und Erholung fand, möglichst weit weg von jeder Großstadt und vor allem weit weg von jeder Börse.

*

»Das ist schon eine schlimme Geschichte«, stimmte Max Trenker seinem Bruder zu.

Es war Mittagszeit, und die beiden Brüder saßen in der gemütlichen Wohnküche des Pfarrerhauses und warteten auf das, was Sophie Tappert heute auf den Tisch zauberte. Während die Haushälterin noch damit beschäftigt war, das Essen anzurichten, hatte Sebastian dem Polizeibeamten seine Begegung mit dem Revierförster geschildert.

»Einen Verdacht hat der Xaver aber net?«

»Keinen konkreten«, verneinte Pfarrer Trenker und berichtete von Förster Anreuthers Mutmaßung, der alte Breithammer habe eine ähnliche Art, Drahtschlingen zu legen.

»Naja, der sitzt ja noch«, meinte Max.

Sophie Tappert stellte zwei Schüsseln mit dampfenden Inhalt auf den Tisch. In der einen befanden sich Semmelknödel – die die Perle des Pfarrhaushaltes natürlich selber gemacht hatte! – In der anderen ein herrlich duftendes Pilzragout. Dazu gab es einen knackigen Salat.

»Hast du eine Vermutung, wer da in Frage käme?« wollte der Geistliche wissen, nachdem das Tischgebet gesprochen, und die Teller gefüllt waren.

Max überlegte einen Moment, dann wiegte er den Kopf hin und her.

»Ein paar fallen mir schon ein«, antwortete er. »Allerdings muß man da mit Verdächtigungen vorsichtig sein. Auf jeden Fall werd’ ich mit Xaver darüber sprechen.«

Sie sprach über dieses und jenes, und wie meistens enthielt sich die Haushälterin jeglichen Wortes. Sie war an sich eine eher schweigsame Person, die ganz in ihrer Arbeit aufging. Aber wenn sie wirklich einmal etwas zu sagen hatte, dann besaßen ihre Worte auch gehöriges Gewicht.

Nicht selten zielten ihre knappen Kommentare auf den Bruder des Pfarrers ab. Max Trenker war ihr ans Herz gewachsen, wie ein eigener Sohn, und Sophie war selig, wenn sie ihn verwöhnen konnte. Max war ein begeisterter Anhänger ihrer Kochkünste und ließ ohne Not keine Mahlzeit im Pfarrhaus aus. Dennoch glaubte die Haushälterin dann und wann ein ernstes Wort mit dem Polizeibeamten reden zu müssen. Das geschah meistens, wenn wieder einmal ein Madel sein Herz bei Sophie ausgeschüttet hatte – denn dann hatte der gutaussehende junge Mann wieder einmal eines gebrochen.

»Am besten fahr’ ich gleich mal ins Forsthaus«, sagte Max nach dem Essen. »Bestimmt wär’s auch gut, wenn ich den Xaver nachts auf seinen Rundgängen begleite. Net, daß ihm noch etwas zustößt, ein paar Monate, bevor er in Pension geht.«

»Eine gute Idee«, stimmte Sebastian zu. »Wir können uns da ablösen. Eine Nacht gehst du mit, die andere ich.«

»Wollen S’ sich da etwa erschießen lassen?« fragte Sophie Tappert erschrocken. »Das ist doch viel zu gefährlich!«

»Naja, ich hoff’, daß nichts Schlimmes passiert«, beruhigte der Pfarrer seine Haushälterin. »Immerhin hat der Xaver vierzig Jahre seinen Dienst versehen, ohne auch nur einmal von einem Wilderer gekratzt worden zu sein.«

Daß Sebastian seine Hilfe anbot, hatte natürlich einen Grund. Er erinnerte sich nur zu gut an den Zorn, der den Förster angesichts der Drahtschlingen gepackt hatte. Mit seiner Anwesenheit wollte der Pfarrer verhindern – sollte der Wilddieb gestellt werden – daß es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Xaver Anreuther und dem Gesetzesbrecher kam. In diesem Sinne sprach er auch mit seinem Bruder. Max nickte verstehend, und Sebastian wußte, daß er sich auf den besonnenen Polizeibeamten verlassen konnte.

*

Verena hatte das Autoradio eingeschaltet und nach kurzem Suchen einen Sender gefunden, der Schlager spielte. In richtiger Urlaubsstimmung sang die junge Lehrerin die Texte mit. Auf der Rückbank ihrer »Ente« lagen zwei Koffer, im Fußraum stand ein inzwischen leerer Proviantkorb für unterwegs. Verena wollte während der Fahrt nicht irgendwo einkehren müssen. Sie verdiente zwar nicht schlecht, hatte aber gerade ihr Auto generalüberholen lassen und einen gehörigen Schrecken bekommen, als sie die Rechnung sah.

Unter anderen Umständen hätte das Geld, das die Reparatur kostete, für einen gut erhaltenen Gebrauchtwagen ausgereicht. Doch Verena hing an ihrem Citroèn, den die Eltern ihr zum bestandenen Staatsexamen geschenkt hatten, und sie wollte ihn so lange fahren, bis er wirklich für den Autofriedhof reif war. So hatte sie kurzerhand Abstriche machen müssen, um die Reisekosten so gering, wie möglich zu halten. Glücklicherweise hatte sie, trotz der Ferienzeit, ein Zimmer in der Pension bekommen, in der sie früher immer mit den Eltern gewohnt hatte. Die Vermieterin, Christel Rathmacher, erinnerte sich sofort, als die junge Frau anrief und reservieren wollte. Das fand Verena erstaunlich. Immerhin war es mehr als zehn Jahre her, daß sie in St. Johann Urlaub gemacht hatte. Jedenfalls war sie froh, daß es dort mit dem Zimmer geklappt hatte, das recht preiswert war.

Außerdem erinnerte sie sich an das Frühstück, das immer sehr gut und reichhaltig war.

Es war herrlich warm draußen. Verena hatte das Verdeck geöffnet, und der Fahrtwind spielte mit ihren dunklen Haaren. Wenn sie zum Dienst fuhr, legte sie immer Wert darauf, perfekt gekleidet und geschminkt zu sein. Auf der Fahrt in den Urlaub hatte sie auf beides verzichtet. Jeans und eine sportliche Bluse reichten ihr völlig aus. Die Lederjacke hatte sie vor Antritt der Reise auf den Beifahrersitz gelegt, wo auch die Handtasche mit Geldbörse und Papieren lag. Von einem Make up hatte sie ebenfalls abgesehen und lediglich etwas Lippenstift aufgetragen. So fühlte sie sich wohler.

Verena fuhr bereits die Bergstraße entlang, die sie noch von früher kannte. Bis zu ihrem Urlaubsort waren es kaum mehr als acht oder neun Kilometer. Voller Vorfreude drehte sie das Radio noch lauter – und im nächsten Augenblick wieder leise.

Irgend etwas stimmte mit dem Wagen nicht. Der Motor ruckte und machte merkwürdige Geräusche. Verena schaltete das Radio ganz aus und lauschte. Dabei verlangsamte sie die Geschwindigkeit. Der Motor stotterte, der Wagen wurde von sich aus langsamer.

Du lieber Himmel, das net auch noch!

Verena war der Verzweiflung nahe. Sie schaltete einen Gang runter und gab Gas. Der Motor heulte auf. Ängstlich nahm sie den Fuß vom Gaspedal, immer langsamer rollte sie über die Straße. Zum Glück war kaum Verkehr. Ein, zwei Wagen überholten sie hupend.

Schlaumeier, dachte die Lehrerin, ich möcht’ euch mal sehen, wenn das Auto streikt!

Dabei hatte sie erst soviel Geld hineingesteckt!

Sie erinnerte sich an einen Parkplatz, den sie schon bald erreichen müßte. Hoffentlich schaffte sie es bis dahin…

Verena atmete auf, vor sich sah sie das blaue Schild, das den Parkplatz in hundert Metern Entfernung ankündigte. Es war, als schiebe eine gnädige Hand die Ente im Schrittempo darauf zu. Kaum war der Wagen von der Straße herunter, blieb er auch schon stehen.

Die junge Frau entriegelte die Motorhaube und stieg aus. Irgendwo zischte es, als sie die Haube öffnete und nachschaute, was die Ursache für die Panne sein könnte.

Ein Gewirr aus Schläuchen, Leitungen und Drähten schaute ihr entgegen, und Verena merkte, daß sie überhaupt keine Ahnung von dem Innenleben eines Autos hatte.

Wie auch? Sie war Lehrerin, das konnte sie, dafür hatte sie schließlich studiert. Wenn sie etwas von Autos hätte verstehen wollen, dann wäre sie Mechanikerin geworden!

Ratlos hob sie die Hände und schaute sich um. Ein paar Wagen fuhren vorüber, aber keiner der Fahrer dachte daran, auf dem Parkplatz anzuhalten, obwohl jeder das Auto mit der offenen Motorhaube, und die Frau davor sehen mußte. Und das noch, bevor sie St. Johann erreicht hatte!

*

Bert Fortmann lenkte seinen Wagen über die herrlich gelegene Bergstraße, die ihn seinem Ziel näher bringen sollte. Er hatte im Autoatlas geblättert und, auf gut Glück, einen Ort ausgewählt. Zwar war er in Gedanken noch mit einem Rechtsstreit beschäftigt, den er an seinen Sozius in der Kanzlei abgegeben hatte, doch er wußte, daß der Fall bei seinem Kollegen in besten Händen war, und er seinen Urlaub bitter nötig hatte.

Er mußte unbedingt fort aus Neuburg, dem kleinen Städtchen an der Donau, fort von Gloria von Haiden!

Trotz seines schnellen Wagens, fuhr Bert eher eine beschauliche Geschwindigkeit. Es herrschte strahlender Sonnenschein an einem wolkenlosen Himmel, und angesichts der Tatsache, daß gerade die Ferien begonnen hatten, herrschte recht wenig Verkehr.

Ein Schild am Straßenrand wies auf einen Parkplatz hin. Der Rechtsanwalt steuerte ihn an. Er wollte sich ein wenig die Beine vertreten und noch einen Blick in den Straßenatlas werfen. Bis nach St. Johann, dem Reiseziel, konnte es nicht mehr allzu weit sein.

Schon von der Straße aus konnte er den Kleinwagen auf dem Parkplatz stehen sehen. Eine knallgelbe Ente, die Motorhaube geöffnet, davor eine Frau, die unruhig auf und ab ging. Ausgerechnet eine Frau, schoß es ihm durch den Kopf.

Natürlich hatte er nichts gegen sie, doch im Moment war die Bekanntschaft mit einer Frau das letzte, was er suchte. Immerhin hatte er gerade am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich sie sein konnten.

Trotzdem – Bert Fortmann war ein zivilisierter junger Mann, mit guten Manieren, und ihm war klar, daß er hier helfen mußte. Er blinkte rechts und fuhr den Parkplatz an. Mit einem skeptischen Blick stieg er aus. Na, dann wollen wir mal sehen, was das Wägelchen hat, dachte er. Wahrscheinlich kein Benzin mehr – das kannte man ja!

Die junge Frau war recht attraktiv, wie er nebenei registrierte. Der Anwalt nickte ihr zu.

»Grüß’ Gott. Was hat er denn?«

»Tja, wenn ich das wüßte…«

Er ging um sie herum und stieg ein, der Zündschlüssel steckte.

»Sind Sie sicher, daß der Tank nicht leer ist?« fragte er, bevor er den Schlüssel drehte.

Verena Berger verschränkte die Arme und sah ihn beinahe mitleidig an. Für wie doof hält der mich eigentlich, ging es ihr durch den Kopf, allerdings sagte sie es nicht. Dafür schmunzelte sie, als der Motor, zwar ruckte, aber sofort ansprang.

Bert hatte den Gang herausgenommen und die Handbremse angezogen. Er gab richtig Gas, der Motor heulte auf, und aus dem Auspuff stieg eine graue Qualmwolke.

Na, also! hatte er gerade sagen wollen, als der Wagen wieder ausging.

»Am Benzin liegt’s nicht«, stellte er fest und stieg aus.

Er schaute unter die geöffnete Haube. Verena beobachtete, wie er hier einen Stecker zog und dort ein Kabel löste, alles begutachtete und wieder an seinen Platz tat. Dann schaute er sie an.

»Also, wenn Sie mich fragen – die Karre gehört auf den Schrott!«

Die Lehrerin riß die Augen auf. Was hatte der da eben gesagt? Auf den Schrott? Niemals! Jedenfalls nicht, nachdem sie erst einen Haufen Geld für die Reparatur ausgegeben hatte.

Irgendwie mußte ihr Blick sein Mitleid erregt haben.

»Naja«, lenkte er ein, »vielleicht kann man da ja noch ’was machen. Dazu müßte er aber erst in die Werkstatt.«

Er sah auf das Kennzeichen.

»Ach, Sie sind auch nicht von hier«, stellte er fest. »Wohin wollten Sie denn?«

»Nach Sankt Johann.«

»Nein, welch ein Zufall. Genau da fahre ich hin.«

Er deutete auf seinen Wagen.

»Kommen Sie, wir laden Ihr Gepäck um, und Sie fahren mit mir. Bestimmt gibt’s in Sankt Johann jemand, der den Wagen in eine Werkstatt abschleppt.«

Das Angebot stimmte Verena wieder versöhnlicher.

»Vielen Dank, Herr…«

Er schlug sich vor die Stirn.

»Entschuldigen Sie, mein Name ist Bert Fortmann«, stellte er sich vor.

»Verena Berger. Vielen Dank, für Ihr Angebot, Herr Fortmann. Ich nehme es gerne an.«

»Na, dann los.«

Schnell waren Koffer und Korb in dem schwarzen Kombi untergebracht, und Verena setzte sich auf den Beifahrersitz. Die Handtasche und ihre Lederjacke legte sie auf den Schoß. Bert fuhr von dem Parkplatz herunter. Sein Wagen mußte relativ neu sein. Innen rochen noch die Ledersitze, und der Motor schnurrte wie eine zufriedene Katze. Nicht so laut wie der in ihrer Ente.

*

»Zum Glück ist es nicht mehr weit«, sagte die Lehrerin.

Bert sah sie von der Seite her an.

»Sie kennen sich hier in der Gegend aus?« fragte er.

»Ja, ein wenig. Ich bin früher oft mit den Eltern hiergewesen.«

»Ach, dann machen Sie immer wieder hier Urlaub?«

»Nein, ich war seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in Sankt Johann.«

»Hm, da Sie den Ort nicht vergessen haben, muß es Ihnen dort gefallen haben.«

»In der Tat. Es ist ein reizendes Dorf, mit lieben, urigen Menschen. Mitten drin steht eine wunderschöne Kirche, und manchmal hat man den Eindruck, die Zeit wäre stehengeblieben. Im Gegensatz zu anderen Urlaubsorten, in den Bergen, hat man in Sankt Johann noch das Ursprüngliche bewahrt und auf alles Moderne verzichtet, das diesen Reiz zerstören könnte.«

»Na, wenn man Sie so reden hört, könnt’ man glatt meinen, Sie wären dort geboren worden. Sie schwärmen ja richtig.«

Verena lachte.

»Ich hoff’ jedenfalls, alles noch so vorzufinden, wie es damals war. Wie gesagt, es ist zehn Jahre her.«

Sie warf einen Blick auf ihn und versuchte den Mann einzuschätzen. Dem teuren Wagen nach,

schien er nicht gerade arm zu sein. Dafür sprach auch seine Kleidung, sportlich leger zwar, aber gewiß nicht aus dem Versandhauskatalog. Was er wohl ausgerechnet in St. Johann wollte? Leute aus seinem Umfeld verbrachten ihren Urlaub doch eher in viel bekannteren Orten.

»Bis gestern abend wußte ich gar nicht, daß es dieses Dorf überhaupt gibt«, setzte Bert die Unterhaltung fort. »Es war mehr ein Zufall, daß ich ihn auf der Karte entdeckt habe.«

»Und warum haben Sie sich dann für ihn entschieden?«

Der Anwalt hob eine Hand und ließ sie wieder sinken.

»Ehrlich, ich habe keine Ahnung«, gestand er. »Wer weiß, was das Schicksal mit mir vorhat, daß es mich ausgerechnet hier herfahren ließ.«

»Ich glaub’ jedenfalls, daß Sie net enttäuscht sein werden.«

Bert lachte auf.

»Ich bin jedenfalls gespannt. Wenn man Sie reden hört, könnt’ man glauben, die Chefin des Tourismusbüros vor sich zu haben. Wenn Ihre Vorhersage eintrifft, und es mir dort wirklich so gut gefällt, werde ich Sie für diesen Posten vorschlagen.«

»Besser nicht«, gab Verena zurück. »Ich bin Lehrerin und hänge an meinem Beruf.«

Das meinte sie ehrlich. Verena hatte sich dafür entschieden, das Lehramt zu studieren, obwohl sie wußte, daß es nicht immer ein leichter Beruf war. Auf der anderen Seite empfand sie eine große Befriedigung dabei. Es war etwas sehr Schönes, junge Menschen auf das künftige Leben vorzubereiten, sie zu formen und ihnen das nötige Rüstzeug mitzugeben. Sie war wirklich mit Leib und Seele Lehrerin.

»Gleich sind wir da«, deutete sie nach vorn.

Nach einer langgezogenen Kurve tauchte zwischen den Bergen das Tal auf, in dem St. Johann lag. Bert Fortmann stieß einen Pfiff aus. Offensichtlich beeindruckte ihn, was er da sah.

»Also, der erste Eindruck ist ja immer der wichtigste«, meinte er. »Und dieser hier ist wirklich nicht schlecht!«

Verena sah ihn von der Seite an. Er hatte ein markantes Profil, die dunklen Haare waren modisch kurzgeschnitten. Doch, er sah wirklich gut aus, und er war gar nicht so ein »typischer Mann«, wie sie zuerst gedacht hatte, als er so abfällig über ihren geliebten Wagen sprach. Ihr erster Eindruck von ihm war nicht der beste gewesen, doch auf den zweiten Blick…

Viele Männer gab es bisher in ihrem Leben nicht. Das Studium, das sie sehr ernsthaft betrieben hatte, ließ ihr keine Zeit dafür. Eigentlich war Gerald der erste Mann, der sie wirklich ernsthaft umwarb. Aber erst jetzt spürte sie ihr Herz schneller klopfen.

»Wohnen Sie auch im Hotel?« riß Bert Fortmann sie aus ihren Gedanken.

Sie hatte gar nicht bemerkt, daß er angehalten hatte.

»Wie bitte? Oh, nein, das kann ich mir nicht leisten«, antwortete sie. »Ich habe ein Zimmer in der Pension gemietet, in der ich früher immer mit meinen Eltern abgestiegen bin.«

»Gut, dann setze ich Sie dort ab«, sagte er und startete den Motor. »Sie müssen mir nur den Weg sagen.«

»Aber, das ist doch gar nicht nötig«, widersprach sie, weil sie seine Hilfsbereitschaft nicht weiter ausnutzen wollte. »Die paar Schritte kann ich doch laufen.«

Bert deutete mit dem Daumen hinter sich.

»Und Ihr Gepäck? Das wollen Sie doch wohl nicht alles alleine schleppen.«

Da hatte er natürlich recht.

»Aber nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Natürlich nicht«, winkte er ab. »Also, sagen Sie, wo’s langgeht.«

Verena erklärte ihm, wie er zu fahren hatte, und zwei Minuten später standen sie vor der Pension Rathmacher. Es war ein großes weißes Haus, mit umlaufendem Balkon, und wunderschönen Lüftlmalereien auf der Giebelseite.

Bert trug die beiden Koffer bis vor die Eingangstür. Dort stellte er sie ab und reichte Verena zum Abschied die Hand.

»Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Urlaub«, sagte er, wobei er sympathisch lächelte und ihr in die Augen schaute.

»Den wünsche ich Ihnen auch«, erwiderte sie. »Und herzlichen Dank, für Ihre Hilfe. Ich weiß gar nicht, was ich ohne Sie angefangen hätte. Wahrscheinlich würd’ ich jetzt noch auf dem Parkplatz stehen.«

»Aber, das war doch selbstverständlich«, wehrte er ab. »Hoffen wir, daß jemand Ihren Wagen reparieren kann.«

»Ja, ich werde mich gleich darum kümmern. Also, nochmals, vielen Dank.«

Verena drückte den Klingelknopf, während Bert in seinen Wagen stieg und zum Hotel fuhr.

Christel Rathmacher öffnete selbst. Ein strahlendes Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie die Lehrerin erkannte.

»Herzlich willkommen, Frau Berger«, sagte Sie. »Schön, Sie wiederzusehen.«

»Grüß’ Gott, Frau Rathmacher«, lachte auch Verena und reichte ihr die Hand. »Ich freu’ mich auch.«

»Kommen S’, ich nehm’ Ihre Koffer. Wo die Zimmer sind, wissen S’ doch bestimmt noch. Gehen S’ ruhig schon vor. Ihr Schlüssel steckt natürlich auf der Sieben.«

Verena durchquerte den langen Flur, an dessen Ende eine Treppe nach oben führte. Die Fremdenzimmer lagen alle in der ersten und zweiten Etage. Verena war sofort wieder alles vertraut – die helle Holztäfelung, die Bilder an den Wänden, und die Geweihe der erlegten Hirsche und Rehe, vor denen sie als Kind immer Angst gehabt hatte. Sie schmunzelte in Erinnerung daran, als sie die Treppe hochging. Das Zimmer war dasselbe, in dem sie früher gewohnt hatte, nur die Einrichtung war modernisiert worden. Das Doppelzimmer, das die Eltern damals gehabt hatten, lag auf dem Flur gegenüber.

Die Pensionswirtin stellte die Koffer ab.

»Ist’s recht so?« erkundigte sie sich.

Verena nickte.

»Ja, danke. Es ist alles wunderbar. Schön, daß es mein altes Zimmer ist.«

»Ich hab’s extra freigehalten, als Sie anriefen«, sagte sie. »Und wenn S’ sich ein biss’l eingerichtet haben, dann kommen S’ herunter. Ich hab’ Kaffee gekocht, und frisches Rosinenbrot gibt’s auch dazu.«

»Mit Almbutter und der guten Erdbeermarmelade?« fragte Verena begeistert. »Machen S’ die noch immer selber?«

»Freilich«, antwortete Christel Rathmacher stolz.

»Dann bin ich in fünf Minuten bei Ihnen.«

*

Max Trenker lenkte seinen Dienstwagen langsam über den Weg, der durch den Ainringer Wald führte. Sein Ziel war das Forsthaus, das am südlichen Ende lag, zwischen einem Gehölz alter Kiefern, die wohl noch in diesem Jahr zum Schlagen freigegeben wurden, und dem Anfang einer weit hinauf reichenden Almwiese. Es war vor mehr als hundert Jahren errichtet worden, und im Laufe der Zeit hatten die jeweiligen Bewohner immer mal wieder etwas angebaut und das Haus so vergrößert. Inzwischen gab es dort sogar einen Tagungssaal, in dem angehende Forstgehilfen auf ihren Beruf im theoretischen und praktischen Unterricht vorbereitet wurden. Dies geschah dreimal im Jahr in einem Block von jeweils sechs Wochen, und außer Xaver Anreuther, der für die Praxis zuständig war, kam ein Lehrer von der Fachschule in der Kreisstadt dazu, der den theoretischen Teil übernahm.

Nun würde Xaver in einigen Wochen in Pension gehen. Bestimmt wird ihm der Abschied von seinem Wald nicht leicht fallen, dachte Max, als er vor dem Forsthaus hielt und ausstieg. Und schon gar nicht, wenn er wußte, daß sich da immer noch ein gemeiner Wilddieb im Revier herumtrieb.

Brutus, Xavers Hund, lag vor der Haustür in der Sonne und döste vor sich hin. Er hatte nur einmal kurz den Kopf gehoben, als der Polizeiwagen durch das offene Tor fuhr. Er kannte das Fahrzeug und wußte, wer der Besucher war. Max kraulte ihn hinter den Ohren und ging dann die drei Stufen zur Tür hinauf.

Die wurde im selben Moment geöffnete. Xaver Anreuther stand auf der Schwelle.

»Ich hab’ dich kommen sehen«, begrüßte der den Beamten. »Magst’ einen Kaffee mittrinken? Ich hab’ grad’ welchen frisch gebrüht.«

»Da sag’ ich net nein«, nickte Max.

Xaver deutete auf den Tisch und die Bank vor dem Haus.

»Hock’ dich schon mal hin. Ich hol’ den Kaffee.«

Max Trenker nahm seine Dienstmütze ab und setzte sich. Der Förster kam kurz darauf zurück. Er trug ein Tablett mit Kaffeekanne, Tassen, Milch und Zucker darauf. Xaver stellte es auf den Tisch und schenkte ein.

»Den Kaffee könnt’ keine Hausfrau besser machen«, lobte Max, nachdem er den ersten Schluck getrunken hatte.

»Darum kommt mir ja auch keine ins Haus«, grinste Xaver und zog seinen Tabaksbeutel.

Gemählich stopfte er die Pfeife und entzündete sie. Dann blies er grauweiße Rauchwolken in die Luft.

»Sebastian hat von deinem Fund berichtet«, begann der Polizeibeamte das Gespräch. »Eine ziemlich böse Geschichte.«

»Ich hoff’, daß ich den Schuft bald fassen kann«, meinte der Förster grimmig. »Der Kerl gehört hinter Schloß und Riegel. Und ich geh’ net eher in Pension, bis ich ihn hab’.«

»Auf jeden Fall werden Sebastian und ich dir helfen. Heut’ auf die Nacht, geh’ ich mit Streife. Morgen dann mein Bruder. Es wäre doch gelacht, wenn wir den Lumpenhund net schnappen täten! Hast du schon einen bestimmten Verdacht?«

Xaver wiegte nachdenklich seinen Kopf hin und her.

»Vom Breithammer hat der Pfarrer ja wohl auch erzählt«, meinte er. »Aber der scheidet ja aus. Der Moosbacher-Willi fällt mir noch ein. Er wohnt drüben in Waldeck. Früher hat er oft mit dem Breithammer unter einer Decke gesteckt, war sein einziger Spezi. Jetzt hab’ ich lang’ nix mehr von ihm g’hört.«

»Kann vielleicht net schaden, wenn ich mal ’rüberfahre und ihn mir vorknöpf«, schlug Max vor. »Natürlich wird er abstreiten, etwas mit den Fallen zu tun zu haben. Aber vielleicht wird er auch ein bissl nervös, wenn er der Wilddieb ist und merkt, daß wir bei ihm nachforschen.«

»Eine gute Idee«, stimmte Xaver Anreuther zu. »Zumindest weiß er dann, daß wir ein Aug’ auf ihn haben.«

Sie besprachen ihr weiteres Vorgehen, Und Max versicherte, rechtzeitig, vor Einbruch der Dunkelheit, wieder am Forsthaus zu sein. Vorher würde es keinen Zweck haben, den Streifengang zu beginnen. Wilddiebe waren lichtscheues Gesindel. Sie kamen in der Nacht, wenn ehrbare Leute schliefen.

Der Polizeibeamte verabschiedete sich und stieg in seinen Wagen. Der Förster sah ihm nach, bis er verschwunden war, dann ging er ins Haus zurück. Er war gespannt, auf die nächtliche Pirsch, die heute einem ganz besonderen Wild galt.

Einem gemeinen Tierquäler!

*

Bert Fortmann hatte sein Zimmer im Hotel »Zum Löwen« bezogen. Der Rechtsanwalt war mit dem gebotenen Komfort zufrieden, und als er am weit geöffneten Fenster stand und in der Ferne das malerische Panorama der Berge sah, fühlte er sich schon wesentlich entspannter. Ein ungeheurer Druck war von ihm abgefallen, seit er Neuburg hinter sich gelassen hatte und damit auch Gloria von Haiden.

Einige Male noch hatte am Abend das Telefon geklingelt, bis Bert endlich den Stecker aus der Buchse zog. Dann war Ruhe. Erst unmittelbar vor seiner Abreise hatte er das Telefon wieder angeschlossen, und den Anrufbeantworter eingeschaltet.

Doch jetzt wollte er erst einmal seinen Urlaub genießen und keinen Gedanken mehr an die Kanzlei oder Gloria verschwenden. Außer seinem Sozius wußte niemand, wo er sich aufhielt, und der hatte versprochen, nur im Hotel anzurufen, wenn es wirklich nicht anders ging. Doch es war eher unwahrscheinlich, daß solch ein Notfall eintrat.

Bert erfrischte sich von der Reise und zog sich um. Dann ging er hinunter und setzte sich auf die Sonnenterrasse des Hotels. Bei einer der freundlichen Serviererinnen bestellte er ein kühles Weißbier und blätterte nebenbei in einer Zeitung, die er auf der Fahrt hierher gekauft hatte. Allerdings stand nicht viel Neues darin, so daß er sie schon bald aus der Hand legte und sich umschaute. Die acht Tische auf der Terrasse waren beinahe alle besetzt. Offenbar war das Hotel gut belegt. Der Ort war offenbar ein Anziehungspunkt für Besucher und Gäste, die die Ruhe und Beschaulichkeit suchten. Wie hatte die junge Dame, der er behilflich gewesen war, noch gleich gesagt?

»In St. Johann hatte man das Ursprüngliche bewahrt.«

So war es in der Tat. In dem Hausprospekt, der auf allen

Tischen auslag, stand Ähnliches zu lesen. Dazu gab es Hinweise auf Sehenswürdigkeiten und lohnenswerte Ausflusgziele in der näheren Umgebung. Bert, der ein ausgesprochener Feinschmecker war, interessierte sich besonders für das Angebot einer Sennerei, bei der Käseherstellung zuzusehen. Käse jeglicher Art gehörten für den Anwalt zu einem guten Essen, wie das Glas Wein. Er war schon auf die Küche gespannt, die das Hotel zu bieten hatte. Aber er wollte auch unbedingt, morgen, oder übermorgen die Alm mit der Sennerei besuchen.

Er trank sein Bier aus, zahlte und machte sich auf, den kleinen Ort durch einen ersten Spaziergang kennenzulernen. Ihm war die Kirche aufgefallen, die dem Hotel schräg gegenüber lag. Auf der anderen Seite, das mußte wohl das Rathaus sein. Bert konnte sehen, daß dort auch die Touristeninformation untergebracht war. Bestimmt bekam er da weitere Tips und Karten, um seinen Urlaub zu gestalten. Eine Woche hatte er eingeplant, doch wenn es ihm wirklich so gut gefiel, würde es kein Problem sein, noch zu verlängern.

Er schlenderte über den Platz und ging den Kirchweg hinauf. Vor dem Gotteshaus war ein Mann damit beschäftigt, das erste fallende Laub zusammen zu harken.

»Grüß’ Gott. Ist die Kirche geöffnet?« erkundigte sich der Anwalt.

Der Mann hielt in seiner Tätigkeit inne.

»Freilich, gehen S’ nur hinein. Wenn S’ etwas wissen wollen, dann fragen S’ nur. Ich bin der

Mesner.«

Bert Fortmann bedankte sich und trat durch das Portal. In der Kirche war es angenehm kühl. Der Besucher blieb einen Moment stehen und ließ den Eindruck auf sich wirken. Blau und rot waren die vorherrschenden Farben, das Blattgold, mit dem Figuren und Bilder belegt waren. Die bleiverglasten Fenster zeigten Motive aus biblischen Geschichten, und über dem Altar hing das Kreuz mit dem Erlöser.

An der linken Wand befand sich die Kanzel. Eine reich verzierte Treppe führte nach oben. Die Bänke, auf denen die Gemeinde saß, waren ebenfalls mit Schnitzereien geschmückt.

Langsam ging Bert durch das hohe Kirchenschiff. Er ließ sich Zeit beim Betrachten, und es wurde ihm bewußt, daß er diesmal wirklich Zeit dazu hatte.

Aus einer Tür, die sich unter der Galerie befand, trat ein Mann heraus und schaute zu dem Besucher hinüber. Bert nickte ihm grüßend zu. Der Mann kam näher.

»Seien Sie in unserer Kirche herzlich willkommen«, sagte er. »Ich bin Pfarrer Trenker. Schön, daß Sie einen Moment Zeit gefunden haben, sich hier umzusehen. ich freue mich über jeden Besucher.«

Bert Fortmann stellte sich höflich vor.

»Ich habe selber gerade gemerkt, daß ich wirklich Zeit dazu habe«, antwortete er. »Leider findet man sie erst im Urlaub. Dabei würde es im Alltag bestimmt hilfreich sein, wenn man sich für ein paar Minuten Besinnung an solch einen Ort flüchtet.«

»Sie machen Urlaub in Sankt Johann?« erkundigte sich der Geistliche.

Bert machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Ich weiß net, ob es wirklich ein Urlaub ist, oder vielleicht doch eher eine Flucht«, antwortete er.

Sebastian Trenker sah ihn aufmerksam an. Er spürte, daß diesen Mann etwas bewegte, wenn nicht gar bedrückte. Hatte er sich deshalb hierher »geflüchtet«, wie er es nannte?

»Vor dem Leben kann man nicht fliehen«, meinte er. »Es holt einen immer wieder ein.«

Bert Fortmann lächelte.

»Aber manchmal darf man sich eine kleine Auszeit nehmen«, erwiderte er.

»Vom Leben? Unmöglich!«

»Ja, da haben Sie recht, Hochwürden. Aber von den widrigen Umständen, die einem das Leben oft genug schwer machen.«

Während ihrer Unterhaltung waren sie langsam zum Ausgang zurückgegangen. Sebastian hatte das Gefühl, Bert Fortmann seine Hilfe anbieten zu müssen. Er wurde das Gefühl nicht los, daß der Mann etwas mit sich herumtrug. Etwas, das an ihm nagte. Äußerlich gab er sich zwar gelassen, ja sogar heiter, doch das, was er sagte, hatte den Pfarrer aufhorchen lassen.

»Wenn Sie einmal glauben, über etwas reden zu müssen, dann bin ich gerne bereit, Ihnen zuzuhören«, bot er an. »Natürlich nur, wenn Sie es wirklich möchten.«

»Vielen Dank, Herr Pfarrer. Vielleicht nehme ich Ihr Angebot sogar an.«

»Nun, ich würd’ mich freuen, Ihnen helfen zu können.«

Sie verabschiedeten sich. Während der Geistliche zum Pfarrhaus hinüberging, schlenderte Bert Fortmann zur Straße hinunter und bummelte weiter durch das kleine Dorf.

Das Gespräch mit dem Geistlichen hatte ihm noch einmal gezeigt, daß er Gloria von Haiden und die Umstände der Trennung von ihr, noch lange nicht vergessen würde.

*

»Hm, das schmeckt einfach himmlisch«, sagte Verena Berger zu der Pensionswirtin.

Ein großes Glas von der selbstgekochten Erdbeermarmelade stand auf dem Tisch. Daneben lag ein Brett mit dicken Scheiben, die die Wirtin von dem frischen Rosinenbrot abgeschnitten hatte.

»Greifen S’ nur tüchtig zu«, forderte Christel Rathmacher sie auf.

»Vielen Dank, aber es reicht wirklich.«

Die beiden Frauen saßen in der Küche. Es gab auch einen Frühstücksraum für die Gäste, aber Verena hatte schon früher immer gerne im Kreise der Familie gesessen. Dazu gehörte der Mann, Walter Rathmacher, der in der Kreisstadt arbeitete, und ein Sohn, Tobias, der ein paar Jahre jünger war als Verena. Sie hatten damals oft zusammen gespielt. Die Lehrerin erkundigte sich nach dem alten Spielkameraden.

»Der Tobi, der hat Automechaniker gelernt«, erzählte seine Mutter. »Der war ja immer schon ganz vernarrt in Autos und Traktoren.«

»Automechaniker?«

Verena faßte sich an den Kopf.

»Um Himmels willen, das hätt’ ich ja beinahe vergessen!«

Christel Rathmacher sah sie fragend an, und die junge Frau erzählte ihr von dem Pech mit ihrem Wagen.

»Das bringt der Tobi schon in Ordnung«, sagte sie zuversichtlich. »Um fünf hat er Feierabend. Er ist drüben beim Wallinger angestellt. Wenn er hier ist, könnt ich gleich das Auto abschleppen. Dann kann er vielleicht heut’ abend noch nachsehen, was mit Ihrem Wagen ist.«

»Das wäre sehr schön«, nickte Verena. »Obwohl, mit der Reparatur kann er sich Zeit lassen. Ich möcht’ ihn nur net über die Nacht auf dem Parkplatz stehen lassen.«

Sie erzählte, daß der Wagen sie gerade erst viel Geld gekostet hatte.

»Hoffentlich bekommt Tobias ihn überhaupt wieder hin«, sagte sie hoffnungsvoll. »Ich häng’ schon an ihm.«

»Da machen S’ sich mal keine Gedanken«, munterte die Wirtin sie auf. »Der Bub hat seinen Beruf gut gelernt und die Prüfung hat er mit einer Eins bestanden. Der gibt net auf, bevor er den Fehler net gefunden hat.«

Christel Rathmacher erhob sich.

»Wenn S’ wirklich net mehr wollen, dann räum’ ich jetzt ab.«

»Ich helfe Ihnen natürlich.«

Schnell war der Tisch abgeräumt, und das Geschirr in die Spülmaschine gestellt. Verena ging in ihr Zimmer hinauf und packte die Koffer aus. Dann legte sie sich auf das Bett und schloß für einen Moment die Augen. Die Fahrt hierher war schon anstrengend gewesen, und dazu die Aufregung wegen der Panne mit dem Wagen

Zum Glück war da ja der hilfsbereite Mann gewesen, der sie mitgenommen hatte. Bert Fortmann – fiel ihr der Name wieder ein.

Gut sah er aus, sympathisch war er – ob er auch verheiratet war…? Ganz deutlich sah sie sein Gesicht vor sich. Bestimmt war er verheiratet, oder sonst irgendwie gebunden. Allerdings – hatte er einen Ehering getragen? Verena versuchte, sich zu erinnern und lachte plötzlich auf. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Warum nur, machte sie sich so viele Gedanken über ihn?

Sie brauchte keine Minute, um sich diese Frage zu beantworten – sie hatte sich in diesen »Kavalier der Landstraße« verliebt!

Diese Erkenntnis trieb sie jäh aus dem Bett. Verwirrt setzte sie sich auf die Kante und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

Stimmte es wirklich, oder bildete sie sich das nur ein?

Verena lauschte auf ihre innere Stimme, ihr Herz pochte bis zum Hals hinauf. Sie stand auf und ging im Zimmer hin und her.

Über dem Waschbecken, in der Ecke, hing ein Spiegel. Sie schaute hinein, sah ihr Spiegelbild, die leichte Röte, die ihr Gesicht überzogen hatte.

Dabei kreisten ihre Gedanken nur um ihn.

So mußte sie wohl sein, die große, wahre Liebe. Lange hatte es gedauert, doch nun hatte Verena sie kennengelernt. Sie kam sich vor, als schwebe sie auf einer Wolke.

Christel Rathmachers Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück. Tobias war heimgekommen. Schnell fuhr Verena sich über das Gesicht, zupfte die Haare zurecht. Sah man es ihr an?

Beschwingt lief sie die Treppe hinunter und begrüßte den alten Freund. Tobias Rathmacher, er war einundzwanzig Jahre alt, freute sich Verena wiederzusehen. Natürlich war er sofort bereit, zusammen mit ihr den Wagen abzuholen.

»Wirst’ schon sehen, gleich nach dem Abendbrot mache ich mich d’ran«, sagte der Blondschopf. »Wenn’s nix Gravierendes ist, dann läuft sie morgen wieder, deine Ente.«

Die Lehrerin umarmte ihn.

»Mensch, Tobi, das wäre toll.«

»Laß’ mich nur machen«, winkte er ab. »Jetzt fahren wir erstmal los und schleppen das Auto ab.«

*

Die Abenddämmerung hatte gerade eingesetzt, als Max Trenker wieder beim Forsthaus eintraf. Xaver Anreuther erwartete ihn schon. Max hatte seine Uniform gegen bequeme Freizeitkleidung eingetauscht, die auch einem nächtlich Waldspaziergang gewachsen war. Der Gendarm übernahm es, den Rucksack zu tragen, den der Förster zu seinen Füßen stehen hatte. Darin befanden sich ein paar belegte Brote, sowie eine Thermoskanne mit heißem Kaffee und zwei Bechern. Xaver trug sein Gewehr an einem Riemen über der Schulter. Max hingegen hatte auf seine Dienstwaffe verzichtet. Es genügte ihm, wenn der Förster bewaffnet war und dadurch dem Wilddieb Respekt einflößte. Er selber war ein viel zu friedfertiger Mensch und gebrauchte seine Waffe wirklich nur im äußersten Notfall.

Statt der Pistole, hatte er eine Taschenflasche Enzian an seinen Gürtel gehängt. Der Schnaps würde schön wärmen, denn die Nächte waren doch schon empfindlich kalt.

»Ich denk’, wir gehen die erste Runde zu der Stelle, wo ich die Schlingen g’funden hab’«, schlug Xaver Anreuther vor.

Max Trenker war einverstanden. Zwar war es unwahrscheinlich, daß der Wilderer schon so früh am Abend auftauchte, aber man wußte ja nie!

Langsam machten sie sich auf den Weg. Xaver ließ Brutus frei herumlaufen. Der Hund gehorchte ihm aufs Wort. Während sie durch den abendlichen Wald gingen, unterhielten sie sich mit gedämpften Stimmen. Sollte sich wirklich ein Unbefugter hier herumtreiben, so sollte er nicht zu früh gewarnt werden.

Über einen Waldweg ging es bis nahe an eine Kieferschonung. Hier hatte der Förster die meisten Drahtschlingen gefunden, was besonders verheerend war. Schonungen wurden bevorzugt von Wildtieren genutzt, um dort ihre Jungen zu verstecken. Ahnungslose Kitze wurden so ein leichtes Opfer der hinterhältigen Schlingen.

Die beiden Männer suchten sorgfältig den Boden ab. Aber es gab weder Hinweise darauf, daß neue Schlingen ausgelegt waren, noch daß der Übeltäter seine alten kontrolliert hatte. Zwar gab es Reifenspuren, doch nicht mehr so gut erhalten, als daß man sie hätte mit Gips ausgießen und für einen Vergleich heranziehen können.

Inzwischen war es schon fast dunkel geworden. Xaver deutete auf einen Hochsitz, der in einiger Entfernung stand.

»Von dort oben können wir den Weg bis zur Kreuzung überblicken«, sagte er.

Sie gingen hinüber und kletterten die Leiter hinauf. Brutus legte sich an die unterste Sprosse und sah seinem Herrn hinterher.

»Bist ein braver Kerl«, rief Xaver Anreuther leise hinunter. »Paß gut auf!«

Brutus spitzte die Ohren und schaute aufmerksam hin und her. Schließlich legte er seinen Kopf auf die Vorderpfoten und schloß die Augen. Allerdings schlief er nicht. Die zuckenden Ohren zeigten an, daß er jedes Geräusch wahrnahm. Sollte er wirklich Schritte vernehmen, so würde er sofort hellwach sein und ein leises Knurren von sich geben.

*

Die beiden Männer hatten sich auf dem Hochsitz häuslich eingerichtet. Xaver hatte Brote und Kaffee ausgepackt, und während sie es sich schmecken ließen, unterhielten sie sich leise.

»Was wirst’ machen, wenn du in Pension gehst?« erkundigte sich Max.

Der Förster biß von seinem Brot ab und trank einen Schluck.

»Ich hab’ noch eine Schwester, drüben in Engelsbach«, erzählte er. »Die möcht’, daß ich zu ihr ziehe. Mit ihrem Mann hab’ ich mich net besonders verstanden, aber der ist schon drei Jahr’ tot. Ich denk’ schon, daß ich’s machen werd’. Die Burgl ist schon ein gutes Madel.«

»Und der Wald? Wird er dir net fehlen?«

»Das mag schon sein«, gab Xaver zu. »Aber erst einmal werd’ ich meinen Nachfolger einarbeiten, und dann kann ich ja immer mal wieder herkommen. Engelsbach ist ja net aus der Welt.«

Max schenkte von dem Schnaps aus.

»Der ist gut für die Verdauung«, meint er dabei fröhlich.

Der Förster und er prosteten sich zu.

»Und du?« fragte Xaver, nachdem sie getrunken hatten. »Bist immer noch Junggeselle. Gibt’s keine, die du willst, oder will dich keine?«

Der Gendarm lachte leise.

»Das mußt ausgerechnet du fragen«, sagte er. »Bist doch selber net verheiratet. Hast dich ja erfolgreich vor dem Traualtar gedrückt.«

»Wer weiß«, sinnierte Xaver. »Wenn die richtige gekommen wär…«

»Dann hättest wirklich geheiratet?« forschte Max erstaunt nach.

»Ich hätt schon wollen«, gab der alte Förster zu. »Da war bloß keine, die hier mit mir in der Einsamkeit hätte leben wollen. Und einsam ist es schon manchmal. Vor allem wenn keine Seminare sind.«

Max nickte verstehend. Natürlich, wenn die angehenden Forstgehilfen ihren Unterricht im Forsthaus hatten, dann war es mit der Ruhe vorbei. Sie lebten ja hier, in den sechs Wochen.

»Naja, und jetzt ist es eh’ zu spät«, meinte Xaver.

Sie schwiegen eine Weile, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Max Trenker überlegte dabei, ob er auch bereit wäre, zu heiraten, wenn die Richtige käme. Er war erstaunt gewesen, dieses Geständnis von Xaver Anreuther zu hören. Dann dachte er an ein paar Madeln, denen er schöne Augen gemacht hatte. Es hatte schon welche darunter gegeben, die bereit gewesen wäre, seine Frau zu werden. Max indes hatte sich nicht so recht mit diesem Gedanken anfreunden können, dazu liebte er seine Freiheit viel zu sehr.

Zwar hatte er sich deswegen schon mehr als einmal eine eigens für ihn geschriebene »Predigt« seines Bruders anhören müssen. Aber viel gefruchtet hatten die mahnenden Worte Pfarrer Trenkers nichts…

Ein Ellenbogenstoß des Försters riß ihn aus seinen Gedanken.

»Was ist…?« fuhr er auf.

»Still!« mahnte Xaver und hob lauschend den Kopf.

Max horchte ebenfalls. Von unten drang ein leises Knurren herauf.

»Ruhig, Brutus!« befahl der Förster und lobte das Tier gleich darauf. »Bist wirklich ein braver Junge.«

Offenbar hatte der Hund etwas gehört und die Männer durch sein Knurren gewarnt. Angespannt lauschten sie in die Nacht. Den Weg konnten sie bis zu der Stelle einsehen, wo er einen anderen kreuzte. Nur von dort konnte jemand kommen, die andere Seite führte zum Hohen Riest hinauf. Da ging es weiter auf die Berge hinauf. Es war kaum anzunehmen, daß der Wilddieb von dort herkam.

»Da war doch etwas«, zischte Xaver Anreuther und nahm die Büchse in die Hand.

Es gab ein metallisches Geräusch, als er den Sicherungshebel umlegte.

»Ich hab’ nix g’hört«, flüsterte der Max.

Xaver hob eine Hand.

»Jetzt«, sagte er. »Horch’.«

Max lauschte mit angestrengten Sinnen. Da, jetzt hörte er es auch. Aus der Ferne erklang Motorengeräusch, das immer näher kam. Dann schlug eine Autotür. Schließlich wurde es für einen Moment still. Die beiden Männer im Hochsitz sahen sich an. Sollte das wirklich der Wilderer sein? Mit soviel Glück in der ersten Nacht hatten sie gar nicht gerechnet.

Ein deutliches Knacken im Unterholz war zu hören, dann Schritte, die sich näherten.

Der Gendarm gab dem Förster ein Zeichen. Vorsichtig, jedes Geräusch vermeidend, kletterten sie die Leiter hinunter. Brutus hatte sich aufgestellt. Angespannt wartete er auf ein Zeichen seines Herrn, daß der die Jagd eröffnete.

»Ich gehe einen Bogen, dann haben wir ihn in der Zange«, wisperte Max seinem Begleiter zu.

Xaver nickte. Während der Polizeibeamte einen Bogen schlug, um sich dem Unbekannten von der Rückseite her zu nähern, pirschte sich der Förster durch die Büsche an den Weg heran. Bis auf ein paar Metern war er heran, als er die dunkle Gestalt den Weg heraufkommen sah. Er riß die Büchse hoch und legte an. Dabei machte er einen Schritt nach vorn und trat mit dem Fuß in einen Kaninchenbau. Mit einem gurgelnden Schrei fiel er zu Boden. Dabei löste sich ein Schuß aus dem Gewehr.

»Max, paß’ auf, daß er net entwischt!« rief der Förster in den Knall hinein.

Er drehte sich im Liegen herum. Der verstauchte Fuß tat fürchterlich weh. Xaver biß sich auf die Lippen, um den Schmerz zu unterdrücken. Dabei robbte er sich bis auf den Weg. Gerade eben noch sah er die Gestalt den Weg hinunterrennen und dann nach links abbiegen. Kurz darauf kam Max Trenker von der anderen Seite.

»Nach links, Max!« rief Xaver. »Er ist nach links gelaufen.«

Der Polizist lief hinterher. Der andere hatte einen guten Vorsprung, und obwohl der Beamte alles andere als unsportlich war, merkte er doch, wie es ihn in die Seite stach.

Nur net aufgeben, sagte er sich und spurtete weiter. Doch nach ein paar Metern blieb er stehen. Vor sich in der Dunkelheit hörte er wieder eine Autotür klappen. Der Wilddieb – er mußte es sein, ein anderer würde net so weggerannt sein – war schneller gewesen. Außerdem war er wohl so schlau gewesen, den Wagen gleich in Fluchtrichtung zu drehen, so daß er nicht erst umständlich wenden mußte. Er war offensichtlich mit allen Wassern gewaschen! Max schaute sich die Reifenspuren an. Das Profil war abgefahren und somit unbrauchbar. Er drehte um und ging langsam zurück. In einiger Entfernung kam ihm Xaver Anreuther humpelnd entgegen. Der Förster war wütend.

»Ich hab’s vermasselt«, schimpfte er mit sich selbst. »Dieser vermaldedeite Kaninchenbau war schuld. Jetzt ist der Kerl natürlich gewarnt.«

Er erzählte, wie es zu dem Unglück gekommen war. Brutus, der erst hatte losstürmen wollen, war zurückgekehrt, als er seinen Herrn hatte fallen sehen.

»Der Bursche war ziemlich schnell«, tröstete Max den Förster. »Wahrscheinlich hätte selbst der Hund Mühe gehabt, ihn zu schnappen.«

Er bückte sich und tastete Xavers Bein ab. Der linke Fuß war leicht geschwollen.

»Wirst’ es bis nach Hause schaffen, wenn ich dich stütz?« fragte er.

»Wird schon gehen«, gab der Förster zurück, dem man immer noch ansah, wie wütend er über sein Mißgeschick war.

»Laß gut sein«, meinte Max. »Für’s erste haben wir den Kerl ja verscheucht. So bald wird er net wiederkommen.«

»Und gerad’ das macht mir Sorgen«, erwiderte Xaver, während er sich auf Max’s Schulter stützte. »Wer weiß, wo er jetzt sein Unwesen treibt. Gleich morgen früh werd’ ich die anderen Revierförster anrufen und ihnen erzählen, was hier los ist.«

»Also, laß uns erstmal im Forsthaus sein«, sagte der Polizist. »Du mußt dich hinlegen. Der Fuß braucht Ruhe. Ich werd’ dir einen kalten Umschlag machen, und morgen früh schick’ ich gleich den Dr. Wiesinger vorbei. Der soll sich den Fuß mal ansehen. Alles weitere werden wir entscheiden, wenn’s dir wieder besser geht. Außerdem hab’ ich immer noch den Moosbacher auf’m Zettel. Morgen vormittag werd’ ich ihm einen Besuch abstatten. Mal sehen, was dabei herauskommt.«

Der Weg zum Forsthaus schien unendlich lang zu sein. Dabei waren sie vorher kaum eine halbe Stunde gegangen. Jetzt dauerte es fast eine ganze Stunde. Aufatmend ließ sich Xaver erst einmal draußen auf der Bank nieder, während Max drinnen alles vorbereitete.

Ich der Küche fand er eine Flasche mit essigsaurer Tonerde. Er tränkte ein Handtuch damit. Dann holte er Xaver herein und half ihm, sich auf das Bett zu legen. Vorsichtig öffnete er ihm den Schuh, und zog den Strumpf aus. Durch den Rückweg hatte der Fuß noch mehr gelitten. Er war jetzt viel stärker angeschwollen als vorher. Max legte den kühlenden Umschlag darum und schob ein Kissen unter das Bein. Bevor er sich auf den Heimweg machte, erkundigte er sich, ob Xaver noch etwas brauchte und verabschiedete sich, als der Förster verneinte.

»Schön ruhig halten, den Fuß«, ermahnte er. »Der Doktor kommt gleich morgen früh heraus. Ich schau’ am Nachmittag wieder vorbei.«

»Ist schon recht«, nickte Xaver. »Vielen Dank auch für deine Hilfe.«

»Dafür net«, winkte Max ab und schloß die Tür hinter sich.

Draußen graute schon langsam der Morgen. Max sah auf die Uhr und stellte erstaunt fest, daß es schon weit nach drei war. Wenn er sich beeilte, dann konnte er noch ein paar Stunden schlafen. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr nach St. Johann zurück.

Als er zu Hause ausstieg und den Dienstwagen abschloß, begrüßte gerade irgendwo ein krähender Hahn den neuen Tag.

*

Man merkte schon, daß es Urlaubszeit war. Das Hotel war nahezu ausgebucht, und wie Bert beim Frühstück hörte, waren auch die Pensionen in und um St. Johann herum gut belegt.

Der junge Anwalt, aus der Stadt an der Donau, saß an einem Einzeltisch und ließ sich das Frühstück schmecken. Am Abend zuvor, hatte er hervorragend im Restaurant des Hotels gegessen, und auch das morgendliche Speisenangebot ließ keine Wünsche offen.

Bert Fortmann genoß es, endlich einmal Zeit zu haben, ohne den Druck eines Termins bei Gericht, oder mit einem Mandanten im Nacken zu spüren. Nachher wollte er eine erste Tour unternehmen. Sepp Reisinger, der Löwenwirt, hatte ihm Wanderkarten und Informationsmaterial gegeben, so daß er nicht ins Touristencenter mußte. Bert studierte die Unterlagen während des Frühstücks. Er entschied sich für eine Wanderung auf die Kanderer-Alm. Das war ganz in der Nähe und schien eine Strecke zu sein, die er leicht schaffen konnte. Regelmäßiger Sport gehörte nicht unbedingt zu seinen Leidenschaften, doch ganz unsportlich war er auch nicht.

Mit einem leichten Blouson und bequemen Schuhen ausgerüstet, machte er sich auf den Weg. Es war ein sonniger Morgen, und die Temperaturen sollten noch weit über zwanzig Grad klettern. Obwohl es in der Nacht schon recht kalt war, wie der Löwenwirt erzählte.

Draußen, vor dem Hotel

herrschte reger Betrieb. Zahlreiche Urlauber waren in Gruppen angereist, die sich jetzt sammelten, um zu ihren Touren aufzubrechen. Erstaunlich viele junge Leute waren darunter, wie Bert feststellte. Dabei hatte er angenommen, daß sie eher die bekannteren Urlaubsziele bevorzugten.

Der Anwalt orientierte sich anhand seiner Karte und marschierte los. St. Johann schien ein typisches, oberbayerisches Dorf zu sein. Die Häuser und die Gärten machten alle einen gepflegten Eindruck. Kaum ein Giebel war ohne die kunstvollen Lüftlmalereien.

Bert hatte zwei Straßen durchquert, war an einem kleinen Brunnen vorbeigekommen und fand schließlich den Wegweiser, der die Richtung angab, in der es auf die Kanderer-Alm ging. Langsam aber stetig führte der breite Weg bergan. Offenbar hatten mehrere Leute dieselbe Idee gehabt, wie er, denn vor und hinter ihm waren etliche unterwegs. Der Anwalt blieb einen Moment stehen und schaute zu den beiden Gipfeln hinüber, die auf der anderen Seite des Tales in die Höhe ragten. Himmelsspitz und Wintermaid hießen sie, wie er einem Prospekt entnommen hatte. Ein herrlicher, imposanter Anblick. Bert bedauerte, keinen Fotoapparat dabei zu haben, aber der war in der Wohnung in Neuburg geblieben. In der Eile seines Aufbruches, hatte er an Fotografieren überhaupt nicht gedacht. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß man unten im Dorf bestimmt Ansichtskarten kaufen könne, auf denen garantiert auch das Motiv der Zwillingsgipfel zu finden war.

Der junge Rechtsanwalt atmete tief durch. Die frische Bergluft schien mit dem Duft wilder Kräuter getränkt. Bert war bestimmt nicht sonderlich naturverbunden – sein Leben spielte sich in der Stadt zwischen Wohnung, Kanzlei und Gericht ab – doch auch er spürte das Besondere, das diese Welt ausmachte. Es war wirklich so, wie die Lehrerin gestern gesagt hatte. Rein und unverfälscht. Diesen Eindruck hatte er auch von den Menschen gewonnen, denen er im Hotel begegnet war. Sepp Reisinger und dessen Frau, Irma, das Personal, das fast ausschließlich aus der Gegend hier kam. Ihr ehrliches Wesen, der eigenartige Dialekt in dem sie manchmal sprachen, spiegelten eine heile Welt wider. Bestimmt gab es auch hier Probleme, wie anderswo auch, aber Bert glaubte, daß die Menschen in St. Johann anders mit ihnen umgingen. Das war vielleicht auch der Grund für die Zufriedenheit, die er auf den Gesichtern las.

*

Während ihm all dieses durch den Kopf ging, war er weiter gewandert. Schließlich stand er an einer Stelle, wo der Weg sich teilte. Ein Schild zeigte jedoch die Richtung an, in der er gehen mußte. Die Gegend war immer steiler geworden. Als er einen Blick zurück warf, stellte er fest, daß er sich schon in einer beachtlichen Höhe befand. Über ihm zogen Greifvögel ihre Bahnen, Gemsen und Wildhasen zeigten sich hier und da, um gleich wieder zu verschwinden, wenn sie des Menschen ansichtig wurden.

Nach eineinhalb Stunden hatte er es geschafft. In einer kleinen Senke sah er die Almwirtschaft liegen. Dort herrschte ein munteres Kommen und Gehen. Bert hatte sich mit dem Aufstieg Zeit gelassen und mehrere Pausen eingelegt, so daß die ersten Leute, die zugleich mit ihm losgegangen waren, die Sennerei schon wieder talabwärts verließen.

Der Anwalt blieb noch einen Moment stehen und genoß das Bild, das sich ihm da bot.

Ein großes Holzhaus mit mehreren Nebengebäuden stand in der Senke. Dahinter ein eingezäunter Pferch. Weiter rechts weidete eine Herde Kühe, auf der anderen Seite machte sich eine ganze Anzahl Ziegen über das saftige Gras und die Wildkräuter her. Vor der Almwirtschaft standen Tische und Bänke, aus Holz grob gezimmert. Viele Wanderer zogen es vor, bei dem schönen Wetter draußen zu sitzen. Bert suchte sich einen freien Platz und wartete gespannt darauf, was es zum Essen geben würde. Nach kurzer Zeit kam ein junger Bursche, dem man den Senner schon von weitem ansah. Er trug ein kariertes Hemd und dreiviertellange Krachlederne. Die Füße steckten in derben Bergschuhen.

»Pfüat di’, ich bin der Thurecker-Franz«, begrüßte er den Gast. »Was magst’ trinken?«

Bert bestellte ein Glas Milch, obwohl es auch Bier und Limonade im Angebot gab, und fragte nach einer Brotzeit.

»Freilich«, nickte Franz. »Da hätten wir ein gutes Brot mit Butter und Kas’, oder ein Pilzragout mit Knödeln.«

Der Anwalt entschied sich für das Pilzragout, das der Senner schon kurze Zeit später brachte. Es war eine Riesenportion und duftete köstlich. An seinem Tisch saßen noch ein paar andere Leute, die wohl aus dem Berliner Raum kamen, wie man an der Sprache, hören konnte. Es war eine Gruppe junger Leute, drei Männer und vier Mädeln. Sie unterhielten sich über einen See, den es in der Gegend geben müsse. Sie wußten allerdings nicht genau, wo er sich befand. Bert erinnerte sich, ihn auf der Karte gesehen zu haben.

»Ich glaube, ich kann Ihnen da weiterhelfen«, bot er an. »Wenn Sie den Achsteiner-See suchen, der befindet sich auf der anderen Seite des Tales. Warten S’ einen Moment.«

Er holte die Karte heraus und faltete sie dann ganz auseinander. Neugierig rückten die anderen heran.

»Hier«, deutete Bert auf die Stelle. »Zwischen Sankt Johann und Waldeck geht eine Straße nach Osten an. Die führt genau zum See.«

»Det isser«, berlinerte einer der jungen Männer. »Hoffentlich kann man da surfen. Immer nur die Berje ruff und wieder runta, det wird off die Dauer zu langweilig.«

»Wieso?« protestierten zwei der Mädel. »Bloß auf’m Brett ’rumstehen, det bringst’ aber och nich’.«

»In einem Prospekt las ich, daß der See als Surfrevier ausgewiesen ist«, meinte Bert Fortmann und zog damit das Interesse eines der Madeln auf sich.

Die junge Frau war etwa Mitte zwanzig, hatte kurze blonde Haare und ein niedliches Gesicht. Sie rückte noch näher an ihn heran.

»Ich heiße Bettina. Surfst du auch?« fragte sie.

Bert schmunzelte. Es war Jahre her, daß er auf einem Brett gestanden hatte. Er wußte nicht, ob er die Technik überhaupt noch beherrschte.

»Ich glaub’, ich müßt erst einmal wieder einen Kurs mitmachen«, gestand er. »Es ist einfach zu lange her.«

»Das wäre kein Problem«, meinte sie unbekümmert und deutete auf die Runde. »Wir sind alle erfahrene Surfer. Ich könnt’s dir wieder beibringen.«

Dabei sah sie ihm ganz tief in die Augen. Es war ganz offensichtlich, daß sie einem Flirt nicht abgeneigt war. Vermutlich war das Madel in der Gruppe, das keinen Partner hatte. Die anderen Männer und Frauen gehörten offenbar zusammen.

»Vielen Dank, aber ich glaub’ net, daß es noch viel Zweck hat«, lehnte er ihr Angebot ab.

Die anderen waren schon zum Aufbruch bereit.

»Bettina, kommst du?« rief einer von ihnen.

Die junge Frau machte ein bedauerndes Gesicht.

»Schade«, sagte sie lächelnd und winkte ihm zum Abschied zu.

Bert lächelte und winkte zurück. Er schaute ihnen nach, bis sie außer Sicht waren. Dabei schmunzelte er immer noch. Niedlich war sie schon gewesen, diese Bettina, und unter anderen Umständen, wäre er durchaus auf ihren Flirtversuch eingegangen. Doch er war nicht vor einer Frau davongelaufen, um sich gleich der nächsten an den Hals zu werfen. Er mußte und wollte zur Ruhe und Besinnung kommen. Er spürte wieder, daß Gloria von Haiden immer noch wie ein Schatten um ihn herum war. Selbst dann, wenn er meinte, sie vergessen zu haben, dachte er an sie. Dabei war es das einzige, was er wollte – sie vergessen.

Es war keine Liebe, die er fühlte. Auch kein Haß – es war Verachtung. Sie hatte mit ihm und seinen Gefühlen gespielt, seine Liebe schamlos ausgenutzt, um sich auf seine Kosten zu bereichern.

Er konnte sie gar nicht mehr lieben. Würde er sie eines Tages endlich vergessen können?

*

Verena Berger hatte beschlossen, ihren ersten Tag im Garten der Pension im Liegestuhl zu verbringen. Nach dem Frühstück war sie zu dem kleinen Zigarrenladen gegangen, der neben Tabakwaren, auch Zeitschriften und Bücher führte. Dort deckte sie sich mit einem Schwung illustrierter Magazine und einigen Taschenbüchern ein. Allerdings blätterte sie mehr gedankenlos darin, als daß sie sie wirklich ernsthaft las. In Gedanken war Verena ständig bei dem Mann, den sie erst gestern kennengelernt hatte, von dem sie aber nicht mehr los kam. Träumend lag sie da und hörte kaum, daß ihre Wirtin zum Mittag rief.

Da es in der Pension nur Frühstück, aber sonst kein Essen gab, hatte die Lehrerin ursprünglich vorgehabt, die Mahlzeiten im Hotel einzunehmen. Als Christel

Rathmacher davon hörte, protestierte sie sofort.

»Natürlich essen S’ mit uns«, sagte sie energisch. »Sie gehör’n doch schon fast zur Familie.«

Verena war dankbar für dieses Angebot, schonte sie doch dadurch ihre Reisekasse erheblich. Außerdem kochte die Wirtin unglaublich gut. Heute gab es einen herzhaften Eintopf, in dem alles d’rin war, was der Garten an Gemüsen hergab. Tobias Rathmacher kam Mittags zum Essen immer aus der Werkstatt herüber, die nur ein paar Straßen weiter war, so daß sie zu dritt am Tisch saßen.

Auch wenn sie für die Mahlzeiten bezahlte, so war es für Verena selbstverständlich, daß sie mit abdeckte, oder die Spülmaschine einräumte. Es war auch ein bißchen als Gegenleistung für Tobias Hilfe gedacht, daß sie sich nützlich machte. Der Bursche hatte es tatsächlich geschafft, noch am Abend, ihren Wagen wieder flott zu machen.

»Warst’ schon unterwegs, heut?« erkundigte Tobi sich, während des Essens.

Verena verneinte und erklärte, daß sie erst einmal faul herumliegen und sich sonnen wollte. Vielleicht würde sie an einem der nächsten Tage in den Bergen wandern.

»Aber am Samstag gehst’ mit zum Tanz’ beim Löwenwirt«, bestimmte Tobias. »Diesmal aber drinnen.«

Verena lachte. Sie erinnerte sich, wie sie und Tobi früher, oft waren noch andere Kinder dabei gewesen, draußen vor dem Eingang zum Saal gestanden waren und der Musik zugehört hatten.

»Gibt’s den Tanzabend denn immer noch?« fragte sie.

»Na freilich«, gab er zurück. »Das ist schließlich das kulturelle Ereignis in Sankt Johann – einmal die Woch’.«

»Red’ net so abfällig, über den Tanzabend«, ermahnte seine Mutter ihn. »Schließlich wird damit eine Tradition bewahrt, und du hast immerhin auf einem der Abende die Sonja kennengelernt.«

»Was, du hast eine Freundin?« erkundigte Verena sich neugierig. »Erzähl’ doch mal. Wer ist sie denn?«

»Naja«, schmunzelte Tobias Rathmacher ein wenig verlegen. »Die Sonja Ruhlinger, die Tochter von unserem Metzger. Ich glaub’, du kennst du noch von früher.«

Die Lehrerin versuchte, sich zu erinnern. Zehn Jahre waren eine lange Zeit, da konnte man schon mal ein Gesicht vergessen.

»Wenn ich sie wiederseh’, kenn’ ich sie bestimmt«, meinte Verena. »Natürlich komm’ ich mit zum Löwenwirt. Danke, für die Einladung.«

»Da net für«, grinste Tobias. »Das gehört zum Service des Hauses, daß wir uns um unsere weiblichen Gäste kümmern, wenn sie allein’ reisen.«

Seine Mutter gab ihm eine spielerische Kopfnuß.

»Laß das mal net die Sonja hören«, sagte sie, während sie mit dem Zeigefinger drohte. »Und jetzt sieh zu, daß du zur Arbeit kommst. Deine Mittagspause ist längst um.«

»Ach, das macht nichts, wenn ich ein biss’l später komm’«, meinte er unbekümmert. »Der Meister weiß, was er an mir hat.«

Schließlich bequemte er sich aber doch, aufzustehen.

»Pfüat euch«, sagte er zum Abschied. »Der beste Mechaniker von Sankt Johann geht wieder ans Werk.«

Dabei hob er stolz den Kopf und drehte ihn in alle Richtungen.

»Dieser Lauser«, schimpfte seine Mutter, als er zur Tür hinaus war. »Das Schlimme ist, daß er recht hat. Der Meister läßt ihm mehr durchgehen, als es gut ist. Er weiß wirklich, was er am Tobias hat.«

Dabei schwang ein bißchen Stolz in ihren Worten mit.

*

Sebastian Trenker schob den leeren Teller von sich. Sein Bruder hingegen, langte noch einmal tüchtig zu. Der Geistliche sah es mit einem Schmunzeln. Er fragte sich, wo Max das alles ließ. Man sah dem Polizeibeamten keineswegs an, was er so verdrücken konnte.

»Hast’ was vom Förster gehört?« erkundigte sich Max zwischen zwei Happen.

»Ich hab’ mit dem Doktor gesprochen«, antwortete Sebastian. »Xaver wird ein paar Tag’ stramm liegen müssen. Ich werd’ nachher zu ihm rausfahren und schauen, wie’s ihm geht. Vielleicht braucht er das eine oder andere.«

»Das ist gut«, nickte Max. »Ich werd’ nämlich kaum vorm Abend bei ihm sein können. Heut’ nachmittag will ich nach Waldreck ’rüber. Dem alten Spezi vom Breithammer ein biss’l auf den Zahn fühlen.«

Er erzählte von Xaver Anreuthers Verdacht, der Moosbacher könne etwas mit den Wilddiebereien zu tun haben.

»Weiß man eigentlich etwas über die Tochter vom alten Breithammer?« fragte der Pfarrer.

»Also, ich weiß nix«, gab sein Bruder zurück. »Seit dem Prozeß damals, gegen ihren Vater, hab’ ich sie net mehr gesehen.«

»Ich auch net«, meinte Sebastian. »Ob sie wohl immer noch in der Hütte lebt? So ganz alleine.«

»Ich könnt’ ja mal nachschauen, wenn ich beim Xaver war«, schlug Max vor.

»Gut«, nickte Sebastian. »Auf Streife willst aber net, in der Nacht.«

»Ich glaub’ net, daß es viel Zweck hat«, schüttelte der jüngere den Kopf. »Der Bursche ist erst einmal gewarnt. Mal sehen, was bei meinem Besuch beim Moosbacher-Willi herauskommt. Leider waren die Reifenspuren von gestern unbrauchbar. Sonst hätten die uns vielleicht weitergeholfen.«

Sophie Tappert hatte bisher schweigend zugehört.

»Es ist wirklich schad’, daß das Madel mit solch einem Vater geschlagen ist«, ließ die Haushälterin sich jetzt vernehmen. »Die Kathrin ist eine bildhübsche Frau und hätte sicher etwas Besseres verdient, als in einer Waldhütte zu hausen.«

»So, bildhübsch ist sie«, sagte Max schmunzelnd. »Stimmt, das hatte ich ja ganz vergessen.«

Sophie Tapperts Augen schossen Blitze auf ihn ab.

»Max Trenker, kommen S’ net auf dumme Gedanken«, sagte sie mit strengem Blick.

Pfarrer Trenker lachte, während Max entrüstet tat.

»Ich? Frau Tappert – wo werd’ ich? Sie kennen mich doch.«

»Eben«, nickte die Haushälterin. »Eben!«

*

Wilhelm Moosbacher hauste auf einem heruntergekommenen Bauernhof kurz vor Waldeck. Max Trenker glaubte, seinen Augen nicht zu trauen, als er den Dienstwagen durch die Einfahrt lenkte. Vor der großen Scheune hielt er an. Das Gebäude machte den Eindruck, als würde es beim nächsten Sturm zusammenfallen. Überall stapelte sich Schrott und Sperrmüll. Zwei alte Traktoren rosteten vor sich hin. Ebenso eine Egge und ein Pflug. Dem ehemals schmucken Bauernhaus fehlte eine ganze Anzahl Schindeln auf dem Dach. Statt dessen war das Loch darunter mit einer Plane abgedeckt. Die Wände hätten einen neuen Anstrich bitter nötig gehabt.

Der Polizist stieg aus und setzte seine Dienstmütze auf. In einem der ungeputzten Fenster sah er den Kopf einer Frau. Mißtrauisch schaute sie den Beamten an. Max klopfte an die Haustür und wartete ab. Nach einer guten Weile klopfte er ein zweites Mal, erst dann wurde die Tür geöffnet. Ein kleiner, untersetzter Mann sah heraus. Er war unrasiert, Hemd und Hose zerschlissen.

»Was gibt’s?« fragte er mürrisch.

»Pfüat dich, Moosbacher«, sagte Max Trenker. »Ich war g’rad in der Nähe und wollt’ halt einmal vorbeischauen.«

»Nur so? Das glaub’ ich net.«

»Heißt das, daß die Kollegen immer einen Grund haben, wenn sie dich aufsuchen?«

»Sag’, was von mir willst«, raunzte der Bauer statt einer Antwort. »Und wenn’s nix Offizielles ist, dann schleich dich wieder!«

»Nun sei mal net so unfreundlich«, sagte Max in einem schärferen Ton. »Sonst nehm’ ich dich gleich mit aufs Revier. Ich ermittel in einem Fall von Wilderei, und hab’ da ein paar Fragen an dich. Die kannst mir gleich hier beantworten, oder du gehst mit, wenn’s dir lieber ist.«

»Wilderei?« rief der Moosbacher erregt. »Was hab’ ich mit Wilderei zu schaffen?«

Dabei flackerten seine Augen, der Blick wurde unstet und huschte hin und her. Dazu schluckte er nervös.

»Um das herauszufinden, bin ich ja hier. Wo warst’ denn gestern abend, zwischen einundzwanzig Uhr und Mitternacht.«

»Wo soll ich g’wesen sein? Hier war ich.«

»Gibt es irgendwelche Zeugen?«

»Frag’ meine Frau, wenn’s net glaubst.«

Max ließ sich nicht anmerken, was er dachte. Es hatte wenig Zweck, die Frau zu befragen. Sie würde die Aussage ihres Mannes stützen. Statt dessen sah er sich auf dem Hof um. Vor einem Schuppen lag eine Rolle Draht, wie sie für Hühnerställe verwendet wurden. Die von Xaver Anreuther sichergestellten Schlingen konnten durchaus davon stammen. Allerdings war das kein Beweis. Solche Drahtrollen lagen in Haufen auf den Bauernhöfen der ganzen Gegend.

»Wo steht denn dein Wagen?« fragte der Beamte.

»Ich hab’ keinen Wagen«, erwiderte der Bauer. »Den kann ich mir nämlich net leisten. Aber sag’ doch mal, wo wird denn gewildert?«

»Drüben, im Ainringer-Forst. Mit Drahtschlingen. Und ich wünsch’ dem Kerl, wer immer es ist, daß er net dem Xaver vor die Flinte kommt. Der hat nämlich eine Mordswut im Bauch.«

Max Trenker sah ein, daß eine weitere Befragung sinnlos war. Er konnte ohne handfeste Beweise nichts unternehmen. Ein solcher Beweis wäre vielleicht das Auto mit den abgefahrenen Reifen. Doch wenn der Moosbacher behauptete, er besitze keines, dann mußte Max dies zunächst glauben. Ohne einen Durchsuchungsbefehl, durfte er noch nicht einmal die Scheune betreten, um nachzusehen, ob dort eventuell doch ein Fahrzeug versteckt wurde.

Auf jeden Fall würde er eine Überprüfung bei der KFZ-Stelle in der Kreisstadt vornehmen. Hatte der Moosbacher doch ein Auto, so mußte es dort registriert sein.

Der Polizeibeamte fuhr mit einem unguten Gefühl davon. Zum einen hatte er den Eindruck gewonnen, daß der Bauer nervös geworden war und nicht ganz die Wahrheit sagte. Zum anderen mochte er nicht recht glauben, daß der Moosbacher der Täter war. Die Gestalt, die er in der Nacht verfolgt hatte, war größer und schlanker gewesen.

Max war eben von der kleinen Straße auf die Hauptstraße abgebogen, als von der anderen Seite ein alter Geländewagen kam und auf den Moosbacherhof fuhr. Aber das konnte der Polizist schon nicht mehr sehen.

*

Entgegen ihrem Vorhaben, hielt es Verena am Nachmittag nicht mehr im Liegestuhl aus. Ihre Gedanken kreisten ständig um den Mann, der ihr Herz so im Sturm erobert hatte. Sie mußte etwas unternehmen, um sich abzulenken. Ihr gefiel der Gedanke, auf der Terrasse des Hotels, ein Eis zu essen. Früher, mit den Eltern, hatte sie oft dort oder im Biergarten gesessen. Schnell zog sie sich um, fuhr mit der Bürste durch die Haare und nahm ihre Handtasche.

Die Terrasse war auch von der Straße her zu erreichen, so daß man nicht durch das Gebäude gehen mußte. Ein Kiesweg führte von der Seite um das Hotel herum zum Biergarten. Verena konnte sich nicht erinnern, es dort jemals so voll gesehen zu haben. Beinahe alle Tische waren belegt. Die Menschen labten sich an Kaffee und Kuchen, Eisbecher wurden herumgetragen und Bier und Mineralwasser fanden reißenden Absatz.

Die junge Lehrerin hatte Glück und fand noch einen freien Tisch. Er stand im Windschatten unter einem riesigen Sonnenschirm. Schnell setzte sie sich und schlug die Karte auf. Verführerische Eisbecher wurden darin angeboten, mit oder ohne Sahne, mit Früchten oder Likören, heißer Schokoladensauce oder gar mit brennendem Enzian flambiert. Verena entschied sich für ein gemischtes Eis. Auf Schlagsahne verzichtete sie lieber. Die Sommerhose, die sie trug, hatte beim Anziehen verdächtig im Bund gekniffen…

Die freundliche Bedienung brachte das Gewünschte sehr schnell, und während Verena langsam und genüßlich ihr Eis verzehrte, fiel ihr ein, daß Bert Fortmann ja in diesem Haus wohnte… Ein siedendheißer Schrecken durchfuhr sie.

Was, wenn er jetzt, in diesem Moment, durch die Eingangstür des Hotels kam?

Sie warf einen Blick zur Tür – und glaubte, ihr Herz bliebe stehen. Da stand er! Beige Hose, hellblaues Hemd, die dunklen Haare ein wenig zerzaust, und über dem Arm einen Blouson, so stand er in der offenen Tür und hielt nach einem freien Platz Ausschau. Unwillkürlich rutschte sie in ihrem Korbsessel ein wenig tiefer. Aber, natürlich war es zwecklos, er mußte sie doch sehen! Ihr Tisch war der einzige, an dem es noch freie Plätze gab.

Da kam er auch schon heran. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sie erkannte.

»Grüß’ Gott«, sagte er. »Ist noch ein Platz bei Ihnen frei?«

Für dich immer, hätte sie ihm am liebsten gesagt. Statt dessen nickte sie nur. »Bitte, setzen Sie sich«, gelang es ihr endlich zu sagen.

»Vielen Dank.«

Bert Fortmann setzte sich.

»Ah, das tut gut. Jetzt bräuchte ich noch ein kühles Bier, dann ist die Welt wieder in Ordnung.«

»War sie denn in Unordnung?« fragte Verena keck.

Irgendwie hatte sie ihre plötzliche Verlegenheit wieder verloren. Nur ihr Herz klopfte deutlich schneller, so sehr freute sie sich über dieses unerwartete Zusammentreffen.

»Was…? Ach so, nein, natürlich nicht«, lachte Bert. »Ich wollte sagen, daß es mir dann wieder besserginge. Wissen Sie, ich habe gerade eine lange Wanderung hinter mir. Ich war auf der Kanderer-Alm. Kennen Sie sie?«

Verena wußte, welche Alm er meinte, von der Spitzer-Alm, bis zur Kanderer, kannte die Lehrerin sie alle. Sie nickte.

»Es war zwar anstrengend, aber schön«, erzählte Bert weiter, nachdem er ein Bier bestellt hatte. »Aber sagen Sie, was macht ihr Auto. Ist es wieder heile?«

»Ja, Gott sei Dank. Der Sohn meiner Zimmerwirtin ist Automechaniker. Er hat den Wagen gestern abend noch repariert.«

»Na, da haben S’ ja noch mal Glück gehabt.«

Sie unterhielten sich über eine ganze Menge anderer Dinge, und je länger sie plauderten, um so freier und unbefangener wurde die junge Frau. Sie hatte das Gefühl, sie würde Bert Fortmann schon lange kennen. Der Anwalt ließ es sich nicht nehmen, Verena zu einem Getränk einzuladen, und schließlich erzählte er von sich selbst. Er wußte ja, daß Verena Lehrerin war, und sprach zuerst von seinem Beruf als Anwalt. Aber auch von seiner Vorliebe für gutes Essen, Theaterbesuche und lauschige Winterabende am knisternden Kamin. Dabei war es eine so vertraute Atmosphäre zwischen ihnen, daß Verena es bedauerte, sich verabschieden zu müssen. Mittlerweile hatten sie über zwei Stunden zusammengesessen, und Christel Rathmacher würde schon bald mit dem Abendessen auf sie warten.

Sie reichte Bert Fortmann zum Abschied die Hand, und als er sie nahm, da war es, als durchfahre sie ein elektrischer Schlag.

»Vielen Dank für die Einladung«, sagte sie.

Selbstverständlich war er aufgestanden, als sie sich erhob. Jetzt deutete er eine Verbeugung an.

»Es war mir ein Vergnügen. Ich würde mich freuen, wenn wir unsere Plauderei einmal fortsetzen. Schließlich sind wir ja fast so etwas, wie Reisegefährten.«

Verena stimmte in sein Lachen ein.

»Herzlich gern, Herr Fortmann. Vielleicht morgen schon.«

Er sah ihr nach, bis sie die Terrasse verlassen und durch den Biergarten gegangen war. Dann setzte er sich nachdenklich wieder auf seinen Platz. Es waren zwei herzerfrischende Stunden gewesen, die er in angenehmer Atmosphäre verbracht hatte. Bert mußte zugeben, daß Verena Berger eine ganz andere Frau war, als die kühle berechnende Gloria von Haiden. Offen und ehrlich, lustig und gleichzeitig von reizvollem und anziehendem Wesen. Während Gloria der verführerische Vamp gewesen war, zeigte sich Verenas Anziehungskraft in eleganter Zurückhaltung. Sie würde sich bestimmt nie einem Mann an den Hals werfen. Schon gar nicht aus Berechnung!

Bert lehnte sich in seinem Sessel zurück und stützte gedankenverloren das Kinn auf seine rechte Hand. Doch während sein Blick scheinbar in die Ferne schweifte, sah er zwei Gesichter vor sich. Das eine, mit dem kalten Blick aus den stolzen Augen, gehörte Gloria, seiner Vergangenheit. Das andere, mit dem warmen Lächeln und den voller Lebensfreude sprühenden Augen, gehörte Verena Berger. Der Frau, die er erst seit gestern kannte, und die ihm doch so vertraut schien.

War sie seine Zukunft?

*

Das kleine Haus stand auf einer Lichtung hinter dem Ainringer Forst. Max Trenker hatte, gut fünfhundert Meter vorher, seinen Wagen stehen lassen, und den Rest zu Fuß gehen müssen. Der Weg war hier so eng, daß er nicht mehr befahrbar war.

Der Polizeibeamte war noch nie hier draußen gewesen, und schaute erstaunt, als er das Haus sah. Man erzählte, der alte Breithammer habe es mit eigenen Händen erbaut. Offenbar verstand er was davon.

Rechts war ein kleiner Schrebergarten, in dem verschiedene Gemüse und Blumen wuchsen, links ein Hühnerhof. Max stand vor dem Haus und schaute sich um. Von der Frau, die hier wohnte, war nichts zu sehen. Bis er plötzlich ein Geräusch in seinem Rücken vernahm und sich umdrehte. Da stand sie vor ihm, ein Gewehr im Anschlag. Sie ließ die Waffe sinken, als sie in ihm den Polizisten erkannte. Offenbar hatte sie den Wagen gehört und sich in den Büschen versteckt, um zu sehen, wer der Besucher war.

Die Frau trug ein einfaches, aber sauberes Kleid, das ihre formvollendete Figur betonte. Sie hatte ein schönes Gesicht, das von langen schwarzen Haaren umrahmt wurde. Die vollen Lippen war ungeschminkt, und außer einem silbernen Kreuz, das an einem kleinen Kettchen um ihren Hals hing, trug sie weiter keinen Schmuck. Die dunklen Augen schienen ihn zu durchdringen, als sie ihn ansah.

»Was wollen S’ hier?« fragte sie mit fester Stimme, die keine Unsicherheit erkennen ließ.

»Grüß Gott, Hauptwachtmeister Trenker, vom Polizeiposten in Sankt Johann«, sagte Max und tippte mit zwei Fingern an den Schirm seiner Mütze.

»Das seh’ ich, daß Sie von der Polizei sind«, entgegnete sie. »Und, was wollen S’, Herr Hauptwachtmeister?«

Der Beamte machte eine belanglose Handbewegung.

»Eigentlich gar nichts«, antwortete er. »Ich wollt’ nur schauen, wie’s Ihnen geht. Ob alles in Ordnung ist.«

Kathrin Breithammer warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte. Eine Mischung aus Belustigung und Stolz lag darin.

»Kommen S’ da net ein biss’l zu spät?« fragte sie. »Sie waren es doch, der meinen Vater verhaftet hat, zusammen mit dem Förster Anreuther. Da wissen S’ doch, daß ich all die Jahre allein hier draußen leb’.«

Sie machte einen Schritt vor. Dabei hob sie das Gewehr, das sie die ganze Zeit gesenkt gehalten hatte.

»Und zu wehren weiß ich mich auch.«

»Einen Waffenschein haben S’ doch sicher, oder?«

»Freilich. Wollen S’ ihn sehen?«

»Nicht nötig«, winkte der Beamte ab.

Sie würde ihm, dem Polizisten, nicht so offen mit dem Gewehr gegenübertreten, wenn die Waffe nicht gemeldet gewesen wäre.

»Eine Frage hätt’ ich noch«, sagte Max. »Ist Ihnen in den letzten Tagen oder Wochen jemand aufgefallen, der sich abends oder nachts hier herumgetrieben hat?«

Kathrin schüttelte den Kopf.

»Net, daß ich wüßt’. Warum fragen S’ danach?«

Dem Beamten fiel es schwer, diese Frage zu beantworten.

»Tja, also – irgend jemand legt Drahtschlingen aus. Der Förster hat welche gefunden.«

Der jungen Frau stand die Zornesröte im Gesicht.

»Ah, daher weht der Wind. Sie meinen, weil mein Vater deswegen im Gefängnis sitzt, bin ich net besser als er. Sie verdächtigen mich, die Schlingen gelegt zu haben!«

»Nein, um Himmels willen, nein! So hab’ ich das net gemeint«, beteuerte Max Trenker. »Ich wollt’ wirklich nur fragen, ob Ihnen etwas aufgefallen ist.«

»Ich weiß nix«, antwortete sie barsch und ging an ihm vorbei zur Haustür. »Und jetzt lassen S’ mir meine Ruh’!«

Sie trat ein und warf die Tür mit einem heftigen Stoß ins Schloß.

Der Polizist blieb einen Moment unschlüssig stehen, dann drehte er sich um und ging zu seinem Wagen. Er konnte nichts anderes tun, als unverrichteter Dinge wieder zu fahren.

Max hielt sie wirklich nicht für die Täterin. Da kam schon eher der Moosbacher-Willi in Betracht. Natürlich konnte Kathrin Breithammer in die Sache verwickelt sein, schließlich waren ihr Vater und der Moosbacher dicke Freunde. Allerdings mochte er es dem Madel nicht so recht zutrauen. Was ihn jedoch mehr beschäftigte, war der Umstand, daß Kathrin so ganz alleine hier draußen lebte.

Er hoffte sehr, daß sie sich eines Tages wieder für die Welt draußen interessieren würde…

*

Von der Kirche klang das Läuten der Abendglocken herüber. Bert Fortmann stand am Fenster seines Zimmers und schaute in die Dämmerung hinaus. Das, was er da draußen sah, nahm er aber eigentlich gar nicht wahr, denn mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Seit dem Nachmittag war nichts mehr, wie zuvor. Wie im Traum war er von der Terrasse des Biergartens in sein Hotelzimmer gegangen. Dort hatte er unschlüssig in einer Zeitschrift geblättert, ohne auf die Artikel oder Bilder zu achten. Immer wieder fragte er sich, ob es möglich war, daß er sich in Verena Berger verliebt hatte. Schon bei ihrem Anblick, als er in der Hoteltür stand, hatte sein Herz merklich schneller geklopft. Dann war da diese angenehme Unterhaltung gewesen, in deren Verlauf er immer stärker merkte, daß ihm diese Frau mehr als nur sympathisch war. Eigentlich verkörperte sie alles, was er je von der Frau, mit der er sein Leben verbringen wollte, erträumt hatte.

Einmal hatte er geglaubt, es gefunden zu haben, doch er wurde bitter enttäuscht. Sollte er jetzt wirklich so schnell seine selbst auferlegten Schwüre, nie wieder eine Frau so nahe an sich heranzulassen, brechen?

Bert Fortmann wußte nicht mehr weiter. Vielleicht wäre es das beste, wenn er sofort abreiste und sie niemals wiedersah!

Im selben Atemzug wurde ihm klar, daß das unmöglich war. Aber er wußte auch, daß er nicht alleine mit dieser Situation fertig würde.

»Ich bin gerne bereit, Ihnen zuzuhören«, hatte der freundliche Pfarrer angeboten.

Der junge Anwalt zog seine Jacke über. Ja, bestimmt würde es ihm helfen, mit dem Geistlichen zu reden. Er hoffte, daß Pfarrer Trenker ein paar Minuten Zeit haben würde.

Das Glockengeläut hatte das Ende der Abendmesse angezeigt. Sebastian Trenker stand in der Kirchentür und verabschiedete die Gläubigen. Es waren nur noch wenige, als Bert den Kirchweg heraufkam. Der Pfarrer erkannte ihn wieder und nickte ihm freundlich zu.

»Ich wollte Ihr Angebot in Anspruch nehmen, Hochwürden«, sagte Bert Fortmann, nachdem die beiden Männer sich begrüßt hatten.

»Kommen S’, gehen wir in die Sakristei«, nickte Sebastian und machte eine einladende Handbewegung.

Drinnen war Alois Kammeier, der Mesner, bereits mit dem Aufräumen fertig und verabschiedete sich. Sebastian und Bert gingen in den kleinen Raum unterhalb der umlaufenden Galerie.

»Bitte, setzen S’ sich«, zeigte der Geistliche auf einen der beiden Stühle, die an dem Tisch standen.

Er legte die Soutane ab und zog sein Sakko über, das an der Garderobe hing. Dann setzte er sich zu seinem Besucher.

»Sagen S’ mir, wie ich Ihnen helfen kann«, bat er.

Bert Fortmann hatte befürchtet, daß es ihm schwerfallen würde, sich einem Fremden gegenüber zu offenbaren. Doch er stellte erleichtert fest, daß es viel einfacher war, als er glaubte. Ausführlich schilderte er alles, von der ersten Begegnung mit Gloria von Haiden, über deren verbotenen Aktiengeschäfte, bis zu dem eisernen Schwur, nie wieder eine Frau lieben zu wollen.

Und schließlich seine augenblickliche Seelenlage.

Pfarrer Trenker hörte zu, ohne den Anwalt auch nur einmal zu unterbrechen. Schließlich lehnte er sich zurück und nickte.

»Ich kann Sie durchaus verstehen«, sagte er. »Wer, so wie Sie, von einer Frau enttäuscht wurde, dem ist es leicht, alle Frauen zu verdammen. Dabei wissen Sie natürlich, daß längst nicht alle wirklich so sind, wie Sie es erlebt haben. Ihnen ist Schlimmes widerfahren und nun wollen Sie die Konsequenz daraus ziehen. Aber es wäre eine falsche, von nun an alleine leben zu wollen. Daß das auch gar net geht, haben S’ ja selbst gemerkt. Ich kann Ihnen wirklich nur raten, sich dieser Frau, von der Sie mir erzählt haben, zu offenbaren.«

Bert rang mit sich. Konnte er es wirklich wagen? Würde er nicht ein zweitesmal enttäuscht werden?

»Diese Gefahr besteht immer«, antwortete der Geistliche auf Berts Frage. »Aber wie wollen Sie es herausfinden, wenn Ihnen der Mut fehlt, es zu wagen? Weil ein Mensch Ihnen übel mitspielte, müssen S’ net befürchten, daß es immer wieder geschehen wird.«

Er stand auf und legte dem jungen Anwalt seine Hand auf die Schulter.

»Sagen S’ ihr«, ermunterte er ihn. »Sagen S’ ihr, was Sie für sie empfinden, und warten S’ ab, was Ihnen die Zeit bringen wird.«

Bert Fortmann erhob sich ebenfalls. Er reichte dem Pfarrer die Hand.

»Sie haben mir sehr viel Mut gemacht«, bedankte er sich. »Ich werde Ihren Rat befolgen.«

Vor der Kirche verabschiedeten sie sich. Erleichtert ging Bert zum Hotel zurück. Irgendwann morgen würde er Verena wiedersehen. Er sehnte den Augenblick herbei, in dem er ihr sagen konnte, daß er mit ihr den Weg ins Glück gehen wollte.

Bert ahnte noch nicht, daß es viele Wege gab, die ins Glück führten, leider aber auch viele Irrwege…

*

Noch bevor der Wecker klingelte, war Verena Berger auf den Beinen. In der Nacht hatte sie kaum ein Auge zugemacht, und in ihrem Bauch tanzten immer noch die Schmetterlinge.

Wiedersehen wollte er sie. Das hatte er gestern gesagt, und nur zu gerne hätte Verena sich gleich mit ihm verabredet. Aber das ging natürlich nicht. Deshalb hatte sie vage vom nächsten Tag gesprochen. So groß war St. Johann nun auch wieder nicht, daß sie sich nicht zufällig begegnen konnten.

»Na, Sie haben wohl richtig ausgeschlafen«, meinte Christel Rathmacher beim Frühstück. »So gut gelaunt, wie Sie sind!«

Verena schmunzelte, sagte aber nicht, was der Grund für ihre Fröhlichkeit war. Die beiden Frauen frühstückten zusammen, nachdem Verena der Pensionswirtin geholfen hatte, das Frühstück für die anderen Gäste zu bereiten.

»Das sollen S’ doch net«, wehrte Christel ab. »Sie sind doch auch Gast.«

»Ich tu’s gerne, Frau Rathmacher«, beteuerte die Lehrerin.

Das Telefon klingelte, als sie selber gerade mit dem Frühstück fertig waren. Die Zimmerwirtin nahm ab und meldete sich. Dann reichte sie den Hörer an Verena weiter.

»Für Sie.«

Die junge Frau machte ein erstauntes Gesicht. Wer wußte denn, daß sie hier wohnte, außer…!

»Fortmann hier. Guten Morgen«, vernahm sie die vertraute Stimme. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt. Aber dann wären Sie wahrscheinlich nicht so schnell am Telefon.«

Verenas Herz klopfte bis zum Hals hinauf, und ihr Mund war vor Aufregung ganz trocken.

»Nein, nein, Sie haben mich net geweckt«, versicherte sie mit belegter Stimme.

»Ja also, ich wollt’ Sie fragen, ob wir unsere nette Unterhaltung von gestern nicht heute fortsetzen wollen? Vielleicht bei einer Wanderung in die Berge. Was halten Sie davon?«

»Sehr gerne«, antwortete sie freudig.

Bert fragte, wann er sie abholen dürfe, und sie verabredeten sich noch für den Vormittag. Verena eilte auf ihr Zimmer, und Christel Rathmacher sah ihr schmunzelnd hinterher. Sie ahnte jetzt den Grund, warum ihr Gast so fröhlich war.

*

Sie waren bis zum Höllenbruch in Berts Wagen gefahren. Dort stiegen sie aus und machten sich auf den Weg zur Hohen Riest hinauf. Es war ein ausgezeichneter Wanderweg, der viele Sehenswürdigkeiten bot, darunter auch die Zwillingsgipfel. Diesmal von der anderen Seite, als Bert sie gestern gesehen hatte.

Jeder von ihnen trug einen Rucksack, in dem sich jeweils Proviant und heißer Tee befand. Sie hatten darauf verzichtet, Wasser mitzunehmen, denn hier oben fanden sich genug klare Gebirgsbäche, deren Wasser so klar und rein war, daß die Mühe, eigenes mitzunehmen, nicht lohnte.

Gegen Mittag rasteten sie auf einer Wiese. Von dort hatten sie einen herrlichen Blick ins Tal hinunter.

»Schauen S’, Verena, dort steht ein Gamsbock«, deutete Bert zu den Felsen, die über ihnen in die Höhe ragten.

Schon bei der Begrüßung am Morgen, hatten sie verabredet, sich mit den Vornamen anzureden, so wie es unter Bergkameraden üblich war.

Die Lehrerin nahm ihren Fotoapparat zur Hand, der um ihren Hals hing. Doch bevor sie abdrücken konnte, war das Tier wieder verschwunden.

»Schade«, bedauerte sie.

»Kommen S’, ich mach’ ein Foto von Ihnen«, bot Bert an. »Auf den meisten Urlaubsfotos ist man selbst nie zu sehen. Immer nur andere.«

Verena stellte sich in Position, und er schoß zwei Bilder von ihr. Dann kletterten sie weiter. Bald wurde es steiler, der Weg war nicht mehr so befestigt, wie zuvor. Einmal rutschte Verena aus und wäre gestürzt, hätte Bert nicht geistesgegenwärtig zugegriffen und sie gepackt. Danach blieb er dicht hinter ihr, sorgsam darauf bedacht, daß sie nicht noch einmal stolperte.

Schließlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Die hohe Riest war ein steiniges Plateau, von dem zwei Wege weiterführten. Der eine zum östlichen Talausgang, von dort konnte man auf Umwegen nach St. Johann zurückwandern. Der andere Weg führte weiter zu einer Alm hinauf. Bis dorthin waren es noch gut zwei Stunden zu marschieren.

»Ist das net ein herrlicher Anblick?« deutete Verena auf die Almwiesen, die Steilhänge der Berge, und ins Tal hinunter. »Am liebsten möcht’ man immer hier oben bleiben.«

Bert Fortmann konnte ihre Begeisterung verstehen.

»Ja«, nickte er. »Es ist wirklich wunderschön.«

Dann sah er sie an. Verena spürte, wie sie unter seinem Blick unsicher wurde. Sie schluckte.

»Ganz bezaubernd«, sagte Bert lächelnd.

»Was meinen Sie…?«

Er kam einen Schritt näher und zog sie in seine Arme.

»Kannst du dir das nicht denken?« fragte er. »Du bist bezaubernd. Du bist überhaupt das bezauberndste Wesen, das ich kenne.«

Um sie herum schien sich alles zu drehen, als sein Mund ihre Lippen fand. Der Kuß war fordernd und zärtlich zugleich, und nichts auf der Welt hätte sie dafür eintauschen mögen.

Lange standen sie stumm da, hielten sich in den Armen und hatten die Augen geschlossen. Dann nahm Bert ihren Kopf in seine Hände und schaute sie liebevoll an.

»Ich liebe dich, Verena«, sagte er. »Ich habe lange gebraucht, um es herauszufinden, aber jetzt weiß ich es. Du bist die Erfüllung eines Traum’s.«

Heiß und kalt durchfuhr es sie bei diesen Worten, und sie wartete auf den Augenblick, in dem sie erwachen und in ihrem Bett in der Pension lag.

Aber es war wirklich und wahrhaftig. Sie lag in seinen Armen und hörte seine liebevollen Worte, und keine Macht der Welt konnte sie trennen.

*

Der rote Sportwagen hielt mit quietschenden Reifen vor dem Hotel. Verwundert schauten einige Passanten auf die rassige Frau, in dem kurzen Rock und der eleganten Bluse, die dem Wagen auf hohen Stöckelschuhen entstieg. Ohne auf die Leute zu achten, schlug sie die Autotür zu und ging erhobenen Hauptes in das Hotel hinein.

Natürlich hatte Gloria von Haiden die Blicke gespürt, die sie da auf sich zog. Sie war solche Auftritte gewöhnt, sie gehörten zu ihrem Leben, wie die goldene Uhr am Handgelenk, und der teure Wagen vor der Tür.

Sepp Reisinger, der Löwenwirt, stand gerade an der Rezeption und ging mit einer Angestellten die Zimmerreservierungen durch, als die Frau durch die Tür kam.

»Grüß Gott, im Hotel ›Zum Löwen‹«, begrüßte er sie. »Sie haben ein Zimmer reserviert?«

Ein wenig von oben herab, sah Gloria ihn an.

»Nein, habe ich nicht«, antwortete sie. »Haben Sie nichts mehr frei?«

Sepp hob bedauernd die Schulter. Natürlich, es gab noch ein kleines Zimmer, oben, unterm Dach, ein Notbehelf. Aber das konnte man unmöglich so einer Frau zumuten.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Wir haben Hochsaison. Wenn Sie vorher angerufen hätten, vielleicht wäre dann noch etwas zu machen gewesen. Aber so…«

Ärgerlich verzog Gloria von Haiden das Gesicht. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Es hatte sie schon genug Zeit und Mühe gekostet, herauszufinden, wo Bert sich aufhielt. Da hatte sie natürlich keinen Gedanken daran verschwendet, ein Hotelzimmer zu buchen. Und jetzt sollte sie unter dem Dach wohnen?«

»Ich nehme das Notzimmer«, sagte sie widerwillig.

Sie wußte, daß sie keine andere Wahl hatte. Vielleicht ergab sich ja in den nächsten Tagen etwas anderes. Es kam immer wieder vor, daß ein Gast vorzeitig abreiste, oder ein anderer seine Reservierung stornierte. Auf solch einen Zufall baute sie.

»Aber bitt’ schön, gnädige Frau, wenn S’ sich hier eintragen möchten.«

Der Löwenwirt reichte ihr den Anmeldebogen. Gloria warf den Autoschlüssel auf den Tresen.

»Lassen Sie mein Gepäck holen«, sagte sie, während sie das Formular ausfüllte.

Schließlich begleitete der Hausdiener den neuen Gast nach oben. Das Zimmer lag im obersten Stock, und war wirklich nicht mehr, als ein Notbehelf. Es hatte kein eigenes Bad, das lag eine halbe Treppe darunter. Natürlich war solch eine Unterkunft unter dem Niveau dieser Frau, die den Luxus teurer Hotelsuiten gewöhnt war. Im Moment aber, war es Gloria egal. Hauptsache sie war endlich dort, wo auch Bert sich aufhielt.

Sie gab dem Hausdiener ein derart großzügiges Trinkgeld, daß er vor Erstaunen den Mund aufriß, und sich mehrmals bedankte, bevor er das Zimmer verließ. Gloria war überzeugt davon, daß er mit dem Geld vor den anderen prahlen würde – und das war auch die Absicht, die dahintersteckte.

Ziehe die Angestellten auf deine Seite, dann hast du leichtes Spiel, war ihre Devise. Mit Geld erreichst du alles! Es würde sich schnell beim Hotelpersonal herumsprechen, was für ein großzügiger Gast sie war.

Obwohl sie eine lange Fahrt hinter sich hatte, wollte sie sich nicht ausruhen. Unablässig ging sie in dem kleinen Zimmer auf und ab. Dabei kreisten ihre Gedanken ständig um den Mann, der der Grund für ihre Reise in dieses »Hintertupfingen« war.

Noch vor einer Woche hatte sie im Untersuchungsgefängnis in Regensburg gesessen. Ihrem Anwalt, Hans Willert, dem Sozius von Bert Fortmann, hatte sie es zu verdanken, daß sie sich, bis zum Beginn des Prozesses gegen sie, auf freiem Fuß befand.

Willert hatte sich lange gesträubt, das Mandat zu übernehmen, er glaubte, es wegen seines Kollegen nicht tun zu dürfen. Daß er es schließlich doch tat, verdankte Gloria der lockeren Freundschaft, die sie und Willert verband. Nachdem er sie dann endlich aus dem Gefängnis herausgeholt hatte, war es der Frau gelungen, aus dem Anwalt auch den Aufenthaltsort von Bert herauszulocken. In der Kanzlei war er nämlich seit Tagen nicht mehr gewesen, und Glorias ständige Anrufe in Berts Wohnung waren vergeblich gewesen. Erst ein inszenierter Abend bei Kerzenlicht und Rotwein brachte Hans Willert dazu, sich zu verplaudern. Ganz gegen seine Absicht sprach er von St. Johann und bat, daß Gloria, um Himmels willen, nichts davon bei Bert verlauten ließ.

Diese Information war es, die sie haben wollte. Danach endete der Abend schneller, als Willert es sich vorgestellt hatte. Am nächsten Morgen stieg Gloria von Haiden in ihren Sportwagen und raste Bert Fortmann hinterher.

Dabei war es nicht etwa Liebe, die sie dazu antrieb. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn jemals geliebt hatte, nicht einmal, ob sie überhaupt dazu fähig war, jemanden zu lieben.

Sie hatte ihn begehrt. Seinen Charme, sein sicheres Auftreten, die intelligenten Gespräche, und ganz bestimmt sein nicht unbeträchtliches Vermögen, das ihr neue Möglichkeiten bot, sich ihrem Lieblingsspiel hinzugeben. Dem Spekulieren mit Aktien und Kursgewinnen.

Jetzt brauchte sie ihn wieder. Bert Fortmann mußte vor Gericht so aussagen, daß sie noch einmal mit heiler Haut davonkam. Die Wochen in der Untersuchungshaft hatten ihr gereicht. Weitere Erfahrungen mit Gefängnissen wollte sie nicht machen. Mit einem Freispruch konnte sie zwar nicht rechnen, doch wenn es so klappte, wie sie es sich vorstellte, dann bekam sie schlimmstenfalls eine Geldstrafe.

So richteten sich all ihre Hoffnungen auf die Begegnung mit dem Mann, den sie so schändlich hintergangen hatte.

*

Bert Fortmann ahnte nicht, was auf ihn zukam, als er das Hotel betrat. Er war bester Laune. Die Wanderung mit Verena hatte sich bis zum späten Nachmittag hingezogen, und der Abschied fiel beiden schwer. Sie trösteten sich damit, daß sie sich zum Abendessen im Hotel treffen wollten.

Nachdem er geduscht und sich umgezogen hatte, ging der junge Anwalt in aufgeräumter Stimmung hinunter. Er wollte schnell in die Gärtnerei am Ende der Straße laufen und einen Blumenstrauß kaufen. Zuvor reservierte er einen Tisch im Restaurant. Sepp Reisinger, der am Tresen stand, notierte die Uhrzeit. Bert und Verena hatten zwanzig Uhr ausgemacht.

In der Gärtnerei erstand er einen wunderschönen Strauß roter Rosen. Damit ging er ins Hotel zurück. Er ließ die Blumen in eine Vase stellen und an den reservierten Tisch bringen. Dann zog er sich in eine stille Ecke zurück und vertrieb sich die Zeit mit dem Lesen der ausgelegten Zeitschriften. Kurz vor acht stand er auf und trat vor die Tür. Verena überquerte gerade die Straße. Sie lächelte, als sie ihn erkannte. Bert ging ihr entgegen und umarmte sie.

Ihre Augen schienen noch mehr zu strahlen, als er ihr ins Ohr flüsterte, wie sehr er sie liebte. Galant reichte er ihr den Arm und führte sie ins Restaurant.

»Sind die schön!« flüsterte Verena entzückt, beim Anblick der Rosen.

Sie sah ihn bewegt an.

»Danke.«

Bert half ihr aus der Jacke und reichte das Kleidungsstück an den Ober weiter. Eine Haustochter brachte die Speisekarte und zwei Gläser Champagner, die der Anwalt zuvor geordert hatte.

»Auf einen wunderschönen Abend«, sagte er, als sie sich zuprosteten.

Vorspeise, Hauptgang, Dessert – alles schmeckte großartig. Dazu herrlicher Wein.

Nach und nach füllte sich das Restaurant. Obwohl es ein gewöhnlicher Wochentag war,

herrschte großer Andrang. Irma Reisingers Kochkünste hatten sich weit über die Grenzen St. Johann herumgesprochen.

Doch die vielen Leute kümmerten das verliebte Paar nicht, das nur Augen und Ohren für sich hatte. Es gab so vieles, was sie von einander wissen wollten, und so vieles, was es noch zu entdecken gab. So merkten sie auch nicht, daß die Gespräche rings herum für einen Moment verstummten, als ein neuer Gast eintrat. Beinahe alle Augen richteten sich auf Gloria von Haiden. Alle, bis auf die von Verena und Bert.

*

Gloria stand in der Tür des Restaurants und ließ ihren Blick schweifen. Sie erkannte sofort, wer da mit der jungen attraktiven Frau in einer Ecke saß, und sie registrierte den Rosenstrauß. Natürlich ahnte sie, welche Bedeutung der Strauß haben mußte. Offenbar hatte Bert eine neue Liebe. Das warf ihre gesamten Planung über den Haufen.

Bis zu diesem Augenblick hatte sie noch überlegt, wie sie vorgehen sollte, wenn sie auf ihn traf. Hatte es Zweck, die liebende Frau zu spielen, die reumütig zu dem Mann zurückkehrte, den sie so arg getäuscht hatte?

Nach reiflicher Überlegung war sie zu dem Schluß gekommen, daß Bert wohl nicht darauf reagieren würde. Also mußte sie zwar die reumütig Zerknirschte spielen, aber gleichzeitig an sein Mitgefühl appelieren. Sie mußte ihn dazu bringen, in ihrem Sinne auszusagen, koste es, was es wolle. Und wer weiß – vielleicht würde sich später alles andere auch wieder einrenken.

Bert Fortmann war ein gutaussehender Mann, und sie, Gloria, war nicht die Frau, die sich solch einen Mann einfach wegnehmen ließ!

Doch im Augenblick konnte sie ihre geplante Taktik nicht anwenden.

Es dauerte nur die wenigen Sekunden, in denen sie dies alles überlegte, bis der Ober sie begrüßte und sie an einen Tisch geleitete. Gloria atmete auf, als sie feststellte, daß sie in Berts Rücken sitzen würde. Er sah sie nicht, sie, hingegen, konnte alles an seinem Tisch beobachten. Ganz besonders die Frau.

Der Tisch, an dem sie saß, stand zudem in einer Nische. Sollte Bert überraschend aufstehen, bräuchte Gloria sich nur etwas zur Seite wenden und sie war für ihn unsichtbar.

Während sie die Speisekarte studierte, schaute sie hin und wieder zu den beiden hinüber. Einen guten Geschmack hatte Bert, das mußte man ihm lassen. Wo, fragte Gloria sich, hatte er diese Frau bloß kennengelernt? Aus Neuburg war sie sicher nicht. So groß war die Stadt auch wieder nicht, daß die Fremde Gloria nicht aufgefallen wäre. Allerdings gab es gewisse Kreise, in denen diese Frau, im Gegensatz zu Gloria, bestimmt nicht verkehrte.

Egal. Sie würde es schon noch herausbekommen.

Die Haustochter kam und nahm die Bestellung auf. Gloria wählte ein leichtes Gericht, und ein Mineralwasser. Dann beugte sie sich vor, und schob diskret einen Geldschein über den Tisch. Dabei winkte sie das junge Madel vertraulich zu sich heran.

»Sagen Sie bitte, die junge Frau dort an dem Tisch in der Ecke, ich bin mir nicht sicher, ob ich sie kenne«, sagte sie. »Aber ich könnte schwören, daß es Heide Laurenz ist, eine alte Schulkameradin. Kennen Sie die Dame?«

Das Madel hatte zu dem Tisch hinübergeschaut, an dem Verena und Bert saßen, die immer noch nur füreinander Augen hatten.

»Ich weiß net, gnädige Frau«, antwortete die Haustochter. »Ich hab’ sie noch nie hier gesehen. Aber ich werd’ mich gern’ erkundigen.«

»Tun Sie das«, nickte Gloria und lehnte sich zurück.

Der Geldschein war nicht unbeträchtlich gewesen, bestimmt würde sie gleich eine Antwort auf ihre Frage bekommen.

Schon nach kurzer Zeit kam das Madel und brachte das Mineralwasser.

»Tut mir leid, gnädige Frau. Die Dame ist unbekannt im Hotel. Man weiß nur, daß es sich um einen Gast von Herrn Fortmann handelt, die Dame wohnt aber net bei uns.«

Daß sie mehr als nur ein Gast war, hatte Gloria auf den ersten Blick gesehen. Es war schade. Sie hatte sich mehr von der Investition ihres Geldscheines erhofft. Nun mußte sie sehen, daß sie auf anderem Wege an ihre Information kam.

*

Der Abend zog sich länger hin, als es Glorias Geduld ertrug. Endlich, es war nicht mehr lange bis Mitternacht, machte Bert Fortmann dem Ober ein Zeichen und verlangte nach der Rechnung. Gloria war auf diesen Moment vorbereitet und hatte bereits gezahlt. Sie erhob sich und ging schnell zum Ausgang. Bestimmt würde Bert, der Kavalier, die Dame nicht alleine nach Hause gehen lassen. Egal, wo das war, Gloria von Haiden würde ihnen folgen. Schnell lief sie auf ihr Zimmer, wechselte die Kleidung und zog flache Schuhe mit einer Gummisohle an.

Draußen überquerte sie die Straße und stellte sich in den Schatten eines Hauses. In der Dunkelheit würde man sie von der anderen Straßenseite aus nicht sehen können. Sie aber hatte den erleuchteten Hoteleingang im Blick. Sie brauchte auch nicht lange zu warten, bis Bert und die Unbekannte herauskamen. Die Frau hakte sich bei dem Anwalt ein, und langsam schritten sie die Straße hinunter. Gloria folgte ihnen unauffällig. Sie beglückwünschte sich zu ihrem Entschluß, sich umgezogen zu haben. Ihr Kleid wäre nicht nur zu teuer, für diese Unternehmung gewesen, sondern auch zu unpraktisch. Außerdem hätte das Klappern der hohen Absätze ihrer Schuhe sie längst verraten. So aber ahnten die beiden vor ihr nichts von der Verfolgerin.

Verena kam sich immer noch wie in einem Traum gefangen vor. Leicht und beschwingt ging sie an Berts Seite und schaute ihn immer wieder verliebt an.

»Ich kann’s noch immer net glauben«, lachte sie leise.

»Was meinst du?« fragte Bert amüsiert.

»Daß ich den Mann liebe, der meine heißgeliebte Ente so beleidigt hat.«

»Was hab’ ich getan? Deine Ente beleidigt? Niemals!«

»Doch, das hast du getan. Du hast gesagt, sie gehöre auf den Schrottplatz, jawohl. Streite es nicht ab, sonst haben wir gleich hier unseren ersten Krach!«

Bert lachte.

»Du hast recht«, gab er zu. »Ich entschuldige mich bei dir und deiner Ente.«

Er gab ihr einen Kuß.

»Außerdem glaub’ ich, daß du einen kleinen Schwips hast. Es wird höchste Zeit, daß du ins Bett kommst.«

»Ich einen Schwips?« fragte sie in gespielter Empörung. »Ich kann immer noch geradeaus gehen. Hier, sieh’ selbst!«

Sie machte einen Schritt nach vorn und rutschte mit dem rechten Fuß von der Bordsteinkante. Bert griff zu und verhinderte, daß sie stürzte.

»Hoppla«, sagte Verena und schmunzelte. »Ich glaub’, du hast recht. Ich muß ins Bett.«

»Naja, wir sind ja schon da.«

Verena suchte in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel, und Bert übernahm es, die Tür aufzusperren.

»Schlaf schön, mein Herz«, sagte er. »Es war ein wunderschöner Abend.«

Natürlich war Verena längst nicht so beschwipst, wie sie getan hatte. Mit liebevollem Blick sah sie ihn an und bot ihm ihren Mund dar.

»Bis morgen«, hauchte sie zum Abschied und schloß die Tür.

Bert stand noch einen Moment vor dem Haus, dann drehte er sich um und ging langsam zum Hotel zurück. Als er die Hälfte des Weges hinter sich hatte, trat aus der Dunkelheit eine Gestalt auf ihn zu.

Gloria von Haiden war, als sie wußte, in welchem Haus die Frau wohnte, leise zurückgeschlichen. Eine Pension also. Sie durchschaute die Zusammenhänge nicht, nahm aber an, daß die beiden sich hier in St. Johann kennengelernt hatten. Offenbar war es sehr schnell mit ihnen gegangen. Bei ihr, Gloria, hatte es wesentlich länger gedauert, bis Bert anbiß.

Sie stellte sich an die Ecke eines Hauses und wartete ab. Bald darauf hörte sie Berts Schritte. Als sie seinen Schatten sah, der von der Straßenlaterne auf das Pflaster geworfen wurde, stellte sie sich ihm in den Weg.

»Du?«

Bert war von ihrem Anblick völlig überrascht. Mit allem hätte er gerechnet, aber nicht, daß ihm hier Gloria von Haiden über den Weg laufen würde.

»Was machst du denn hier?« fragte er, nachdem er sich von der Überraschung erholt hatte.

Gloria machte ein leidendes Gesicht. Da die Straße nur spärlich bleuchtet wurde, konnte Bert nicht erkennen, ob es gespielt war, oder ob sie wirklich litt.

»Ich… ich brauche deine Hilfe, Bert«, flüsterte sie beinahe. »Bitte, du mußt mir helfen!«

Dabei klammerte sie sich an seinen Arm.

Mit einer unwirschen Bewegung schüttelte der Anwalt sie ab.

»Du hast vielleicht Nerven«, sagte er. »Nach allem, was du mir angetan hast, kommst du hierher und bittest mich um Hilfe? Woher weißt du überhaupt, daß ich hier bin?«

»Hans… er hat mir…«

»Natürlich, ich hätt’s mir denken können«, unterbrach er sie.

Hans Willert – war er also auch ihren Reizen erlegen. Nicht nur, daß er ihre Verteidigung übernommen hatte, auch den Freund und Kollegen verriet er.

»Du hast doch einen guten Anwalt«, sagte er sarkastisch. »Was willst du da von mir?«

»Bert, bitte, du weißt es doch am besten. Ohne deine richtige Aussage komme ich ins Gefängnis. Bert, das halte ich nicht aus! Es war jetzt schon so schlimm.«

Mit einer theatralischen Bewegung schlug sie die Hände vors Gesicht. Bert Fortmann, der jetzt ahnte, was sie von ihm wollte, schaute mit versteinerter Miene zu.

»Falsch, Gloria, mit meiner richtigen Aussage kommst du ins Gefängnis. Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, daß ich von dem, was ich vor der Staatsanwaltschaft ausgesagt habe, auch nur einen Millimeter abweiche. Was bist du bloß für ein Mensch? Du hast mich belogen und hintergangen, hast mit meinem guten Namen schmutzige Geschäfte gemacht, und erwartest jetzt von mir, daß ich dich vor der gerechten Strafe bewahre? Du forderst, daß ich für dich lüge, vielleicht sogar einen Meineid schwöre und es riskiere, meine Zulassung als Anwalt zu verlieren?«

Er lachte auf.

»Gloria, du mußt den Verstand verloren haben!«

Sie hatte die Hände längst wieder herunter genommen. Wütend sah sie ihn an, Haß sprühte aus ihren Augen.

»Du willst mir also nicht helfen? Gut, Bert Fortmann, dann geh’ zum Teufel! Aber du wirst mich noch kennenlernen. Du wirst den Tag bereuen, an dem du mich getroffen hast!«

Den letzten Satz hatte sie herausgeschrien.

Bert sah sie verächtlich an.

»Du glaubst gar nicht, wie oft ich diesen Tag schon bereut habe«, sagte er leise und ließ sie stehen.

*

»Ah, da schau’ her!«

Max Trenker schmunzelte, als er das Papier aus dem Faxgerät riß. Er hatte eine KFZ-Halter-Abfrage gemacht, und schon nach wenigen Minuten das Ergebnis bekommen.

Ein Willi Moosbacher war nicht als Halter eines Kraftfahrzeuges gemeldet – aber ein Hubert Moosbacher, und dem Geburtsdatum nach, konnte es sich eigentlich nur um einen Sohn vom Willi handeln, hatte einen Geländewagen angemeldet.

Na, da werd’ ich dem Moosbacher-Willi wohl noch mal einen Besuch abstatten müssen, dachte der Hauptwachtmeister und heftete das Blatt Papier an eine Akte, die er inzwischen über den Sachverhalt »Wilddieberei« angelegt hatte.

»Ich wett’ ein Monatsgehalt, daß der Willi da d’rin steckt«, meinte er beim Mittagessen.

»Behalt’ dein Geld ruhig«, erwiderte Sebastian Trenker. »Aber wahrscheinlich hast du recht.

Gibt’s was Neues vom Anreuther?«

»Der Doktor sagt, daß der Förster morgen wieder aufsteh’n darf. Aber, so wie ich den Xaver kenne, tut er’s heut’ schon. Ich fahr’ am Nachmittag zu ihm raus.«

»Dann bestell’ ihm schöne Grüße, und wenn er wieder auf Streife geht, soll er vorher Bescheid sagen.«

»Mach’ ich«, nickte Max Trenker und schaufelte eine zweite Portion Buchteln mit Vanillesoße auf seinen Teller.

Nach dem Essen machte Sebastian sich auf den Weg zu seinem wöchentlichen Besuch im Waldecker Altenheim. Max hingegen, setzte sich in seinen Dienstwagen und fuhr zum Ainringer Forst hinaus. So wie er es vermutet hatte, war Xaver Anreuther natürlich längst wieder auf den Beinen. Zwar humpelte er noch ein wenig, aber die Schmerzen waren so gut wie gar nicht mehr da. Behauptete er zumindest. Toni Wiesinger, der Dorfarzt, hatte gute Arbeit geleistet.

»Was hast’ denn beim Moosbacher ’rausbekommen?« wollte der Förster begierig wissen.

Sie hatten sich an den Tisch gesetzt, der draußen vor dem Haus stand.

»Er hat natürlich bestritten, etwas mit den Drahtschlingen zu tun zu haben«, erzählte der Gendarm. »Aber, etwas anderes hätt’ ich auch gar net erwartet.«

Er berichtete von dem Geländewagen, der Hubert Moosbacher gehörte.

»Ich werd’ ihn mir bei Gelegenheit ansehen.«

»Glaubst’, die werden dir den Wagen freiwillig zeigen?« zweifelte Xaver.

Max wiegte seinen Kopf hin und her.

»Ich hab’ da schon eine Idee«, meinte er. »Wenn ich’s geschickt anstelle, dann könnt’s klappen.«

Er sah den Förster an.

»Und du, wann willst wieder auf Streife gehen? Der Sebastian möcht’ dich begleiten.«

Xaver Anreuther verzog das Gesicht.

»Ein, zwei Tag’ wird’s wohl noch dauern, bis ich wieder richtig laufen kann«, antwortete er. »Aber ich denk’ daß der Schuft sich so schnell net wieder hier sehen läßt. Wir haben ihm schon einen gehörigen Schrecken eingejagt.«

»Der Meinung bin ich auch«, nickte der Gendarm und erhob sich. »So, ich muß wieder. Auf dem Revier wartet noch eine Menge Arbeit auf mich.«

»Dank schön’, für deinen Besuch«, sagte der Förster. »Und richt’ deinem Bruder Grüße aus.«

»Mach’ ich, pfüat di’ Xaver.«

*

Anstatt zurück nach St. Johann, schlug Max die Richtung nach Waldeck ein. Vor der Straße, die zum Moosbacherhof führte, hielt er an. Nachdenklich saß er in seinem Wagen und überdachte noch einmal seinen Plan. Xaver hatte recht, freiwillig würde ihm niemand den Wagen zeigen. Natürlich konnte Max in seiner Funktion als Polizeibeamter auftreten, doch dann wußten die Moosbacher, daß sie unter Verdacht standen, und Max wollte Vater und Sohn noch ein wenig in Sicherheit wiegen.

Also mußte er auf andere Weise den Geländewagen in Augenschein nehmen.

Max fuhr seinen Dienstwagen hinter einen Busch, so daß er von der Straße aus nicht sofort zu erkennen war. Dann faßte er sich in Geduld und wurde schon bald belohnt. Aus der Seitenstraße kam das Auto herausgefahren. Hubert Moosbacher saß am Steuer. Er blinkte links und gab Gas. Als er nicht mehr zu sehen war, folgte Max ihm in gebührendem Abstand.

Die Straße war sehr kurvenreich. Der Polizeibeamte wartete, bis sie eine recht gerade Strecke vor sich hatten, dann überholte er den Geländewagen. Gleichzeitig erschien auf dem Dach des Dienstfahrzeuges ein blinkendes Laufband mit der Aufschrift: POLIZEI! BITTE ANHALTEN!

Hubert Moosbacher fluchte, als er das sah, fuhr aber brav an den rechten Straßenrand. Ausgerechnet Polizei! Der Vater hatte ihn gewarnt, vorsichtig zu sein. Hubert war ärgerlich, weil er nicht auf den Alten gehört hatte.

Max hatte vor dem anderen Fahrzeug gehalten und war ausgestiegen, der Fahrer hatte die Seitenscheibe heruntergelassen. Dem Beamten fiel die große Ähnlichkeit mit dem alten Moosbacher auf. Der junge wirkte genauso ungepflegt.

»Grüß Gott, Hauptwachtmeister Trenker vom Polizeiposten Sankt Johann. Ich mach’ eine Verkehrskontrolle. Bitte Ihren Führerschein und die Wagenpapiere.«

Hubert Moosbacher gab sich jovial. Er grinste den Beamten an, als er die gewünschten Papiere aus dem Fenster reichte.

»Aber natürlich, Herr Hauptwachtmeister. Bitt’schön.«

Max nickte und nahm die Unterlagen entgegen. Lange und sorgfältig studierte er sie, während Hubert gelangweilt tat. Dabei war er vor Aufregung angespant.

War es wirklich nur eine einfache Verkehrskontrolle?

Max Trenker ging um den Wagen herum, prüfte das Kennzeichen, die TÜV-Plakette, die Reifen…

Leise pfiff der Beamte durch die Zähne. Der Reifen des rechten Hinterrades war abgefahren, hatte kaum noch Profil. Das konnte zu der Spur passen, die der Wilderer im Ainringer Forst hinterlassen hatte. Max ließ sich nichts anmerken, als er wieder nach vorn kam.

»Tja, tut mir leid, Herr Moosbacher, so kann ich Sie net weiterfahren lassen«, sagte er mit bedauernder Miene. »Der rechte Hinterreifen ist ja total abgefahren. Das ist eine Verkehrsgefährdung. Ich muß Ihr Fahrzeug stillegen.«

Hubert Moosbacher tat entsetzt.

»Du liebe Zeit! Das hab’ ich ja überhaupt net gemerkt.«

Max Trenker runzelte die Stirn.

»Als Führer eines Kraftfahrzeuges sind Sie verpflichtet, sich vor Fahrtbeginn vom ordnungsgemäßen Zustand des Fahrzeugs zu überzeugen, und vorhandene Mängel gegebenenfalls abzustellen«, bat er amtlich. »Um so mehr, wenn Sie gleichzeitig der Halter sind.«

»Also, das tut mir leid…«

Der Polizist zwinkerte dem Fahrer zu.

»Wissen S’ was? Wenn S’ einen Reifen dabei haben, der in Ordnung ist, dann wechseln S’ das Rad eben, und ich laß die Sach’ auf sich beruhen.«

Hubert Moosbacher strahlte ihn an.

»Das würden S’ wirklich tun, Herr Wachtmeister?«

Max hob den Zeigefinger.

»Hauptwachtmeister«, betonte er. »Ordnung muß sein!«

»Natürlich, Herr Hauptwachtmeister«, beeilte sich Hubert zu sagen und sprang aus dem Auto. »Und vielen Dank auch. Ich mach’ mich gleich an die Arbeit.«

Etwa fünfunddreißig Minuten brauchte er, um das Rad zu wechseln. Er stöhnte und schwitzte, manchmal unterdrückte er auch einen Fluch, und er mühte sich redlich ab. Max Trenker stand derweil daneben, gab gute Ratschläge und dachte, daß es bestimmt das erste Mal war, daß der Hubert Moosbacher durchs Arbeiten richtig schwitzte. Endlich hatte er es doch geschafft. Hubert warf das alte Rad hinten in den Wagen und stieg wieder ein.

»Vielen Dank, noch mal«, rief er, bevor er losfuhr.

Max tippte an den Schirm seiner Mütze und sah dem Davonfahrenden schmunzelnd nach.

Hubert Moosbacher würde nun bestimmt nicht mehr annehmen, daß die Polizei ihn und den Vater verdächtigten. Dann, so mußte er vermuten, wäre der Beamte doch bestimmt anders mit ihm umgegangen!

*

Verena hatte das unbestimmte Gefühl, daß Bert etwas bedrückte. Im Gegensatz zum gestrigen Tag und Abend, gab er sich jetzt eher wortkarg, achtete nicht auf das, was sie sagte, und schien überhaupt mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.

Gleich nach dem Frühstück hatten sie sich getroffen. Bert hatte am Abend vorgeschlagen, zum Achsteinsee hinauszufahren. Mit seinem Wagen dauerte es keine Viertelstunde, und sie hatten ihr Ziel erreicht.

Der See war gut zwei Quadratkilometer groß und ein beliebtes Urlaubsgebiet. Es gab zahlreiche Hotels, Gastwirtschaften und Cafés rund um den See, ebenso Bootsverleiher und eine Surfschule. In einem abgetrennten Teil des Sees und des Ufers, badeten und sonnten sich schon viele Urlauber. Neben etlichen Pensionen hatten die Feriengäste auch die Möglichkeit, auf einem großen Campingplatz zu zelten oder ihre Wohnwagen dort zu parken. Ein recht gut ausgebauter Rad- und Wanderweg führte ganz rund um den See, an dessen Südseite zahlreiche Villen standen.

Bert hatte seinen Wagen auf einem großen Parkplatz abgestellt, der Tagesgästen vorbehalten war. Hand in Hand schlenderten er und Verena über die Uferpromenade. Der Anwalt achtete allerdings kaum auf das, was es an Sehenswürdigkeiten gab. Mit seinen gedanken war er bei Gloria von Haiden und ihrem »Überfall« am späten Abend.

Ihre Befürchtungen waren berechtigt. Durch seine, Berts, Aussage, konnte das Gericht gar nicht anders, als sie zu bestrafen. Und angesichts der Schadenshöhe, die Gloria durch ihre verbotenen Spekulation angerichtet hatte, war eine Freiheitsstrafe kaum zu umgehen.

So war es nur an ihm, sie davor zu bewahren…

Aber, konnte sie das wirklich verlangen? Nur mit Mühe war es ihm gelungen, den Verdacht, der auf ihm lastete, zu entkräften. Sollte er nun seine eigene Aussage revidieren und dadurch selbst in Gefahr geraten? Wenn es zum Äußersten kam, dann mußte er damit rechnen, vereidigt zu werden, und eines Meineids überführt zu werden, bedeutete nicht nur eine Haftstrafe, es war gleichzeitig das Ende seiner beruflichen Karriere. Seine Zulassungs als Rechtsanwalt würde ihm sofort entzogen.

»He, du hörst mir überhaupt nicht zu!« beschwerte sich Verena.

Sie war abrupt stehengeblieben, als Bert wieder nicht reagierte. Zum wiederholten Male hatte die Lehrerin auf das eine oder andere Boot gezeigt, mit dem Leute über den See ruderten.

»Das möchte ich auch machen«, sagte sie.

Bert ruckte herum und sah sie erstaunt an. »Entschuldige, bitte. Was hast du gesagt?« fragte er.

Verena packte ihn bei der Schulter und schüttelte ihn durch.

»Bert, was ist los mit dir?« rief sie erregt. »Seit wir uns getroffen haben, werd’ ich das Gefühl net los, daß du an alles Mögliche denkst, nur net an mich!«

»Verena, es tut mir wirklich leid«, entschuldigte er sich noch einmal. »Ich weiß, ich benehme mich fürchterlich. Aber, da ist etwas, das mich beschäftigt hat. Doch jetzt widme ich mich nur noch dir.«

Er zog sie in seine Arme und küßte sie.

»Willst du mir nicht sagen, was dich so beschäftigt?«

»Nicht so wichtig«, schüttelte er den Kopf. »Ich denk’ einfach net mehr dran.«

Er zog sie mit sich.

»Komm, wir mieten ein Boot.«

Verena akzeptierte, daß er sich ihr nicht offenbaren wollte. Er war ja auch schon wieder ganz der Mann, den sie kennengelernt hatte. Liebevoll und aufmerksam. Wahrscheinlich war es ein berufliches Problem, das er da mit sich herumtrug. Dann konnte er sowieso nicht mit ihr darüber reden. Ein Anwalt unterlag ja ebenso der Schweigepflicht, wie ein Arzt oder ein Geistlicher.

Sie mieteten ein Tretboot und fuhren damit auf den See hinauf. Als sie gerade vom Ufer weg waren, dachte Verena schon nicht mehr an Berts merkwürdiges Verhalten.

Es wurde ein herrlicher Tag am See, den sie bis zum frühen Abend ausdehnten. Bert setzte Verena vor der Pension Rathmacher ab, bevor er zum Hotel zurückfuhr. Sie wollten sich ein wenig frisch machen, bevor sie sich dann zum Essen wiedertrafen.

*

Xaver Anreuther glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Brutus hatte angeschlagen, als der Förster gerade beim Abendessen saß. Er hob den Kopf und schaute aus dem Fenster.

Vor dem Forsthaus stand Kathrin Breithammer. In der Hand hielt sie etwas, das Xaver nicht erkennen konnte. Hinkend kam er vor die Tür.

»Pfüat dich, Kathrin«, sagte er. »Was führt dich denn hierher?«

Die junge Frau musterte ihn stumm. Dann warf sie mit einer Handbewegung mehrere Drahtschlingen ihm vor die Füße.

»Die Liebe ist’s gewiß net«, meinte sie. »Die Schlingen hab’ ich d’roben, nahe der Birkenschonung gefunden. Ich bring’ sie dir, damit’s später net heißt, ich wär’s gewesen.«

Xaver Anreuther hob die Hand.

»Das hab’ ich nie behauptet, Kathrin«, beteuerte er.

»Warum hast dann den Gendarm zu mir g’schickt?«

Sie wandte sich um.

»Ist ja auch egal. Der Apfel fällt net weit vom Stamm, so denkt ihr doch«, sagte sie im Gehen.

»Nein, ich denk’ net so«, rief er hinterher. »Und das mit deinem Vater tut mir leid. Aber ich hatte keine andere Wahl. Besser so, als daß er tot wäre…«

Sie drehte sich noch einmal um.

»Vielleicht wünscht er es sich aber genau umgekehrt«, sagte sie düster und verschwand in der anbrechenden Dunkelheit.

Xaver bückte sich und hob die Schlingen auf. Hatte der Lumpenhund doch wieder zugeschlagen!

Der Förster humpelte ins Haus zurück und griff zum Telefon. Wenn der Kerl so dreist war, bereits schon wieder Schlingen anzulegen, dann würde er auch in der Nacht kommen und nach der Beute sehen. Und diesmal würde er net entkommen!

*

Gloria von Haiden hatte den ganzen Tag auf ihrem winzigen Zimmer verbracht. Die Hoffnung, daß schon bald ein größeres frei wurde, erfüllte sich offenbar nicht. Im Moment war es ihr auch egal. Sie überlegte krampfhaft, wie sie Bert doch noch dazu bringen konnte, in ihrem Sinne auszusagen. Allerdings ahnte sie in ihrem Innersten, daß ihr das nicht gelingen würde. Sie war sich ja dessen bewußt, was sie ihm angetan hatte. Darum dachte sie darüber nach, wie sie sich an ihm rächen konnte. Es mußte etwas sein, das ihm weh tat. Fürchterlich weh!

Mit einer Mischung aus Neid und Eifersucht hatte Gloria ihn und die unbekannte Frau beobachtet. Bert schien diese Frau zu lieben. Mehr, als er sie, Gloria, geliebt hatte. Das war der Hebel, wo sie ansetzen mußte!

Gloria ließ sich eine kleine Mahlzeit auf dem Zimmer servieren – die erste seit dem Frühstück – und machte sich dann auf zu einem Abendspaziergang. Nicht von ungefähr führte sie ihr Weg zu der Pension, in der die ihr unbekannte Frau wohnte. Lange Zeit stand sie vor dem Haus und beobachtete es. Leute gingen und kamen, doch die Frau war nicht darunter. Irgendwann gab Gloria es auf und ging zum Hotel zurück. Als sie am Restaurant vorbeikam, schaute sie durch die Scheibe und entdeckte Bert und die Fremde am selben Tisch sitzend, wie gestern abend. Das Glück stand den beiden buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Gloria haßte sie dafür.

Schnell ging sie auf ihr Zimmer. Das Glück der beiden mit anzusehen, war ihr unerträglich. Rauchend stand sie am offenen Fenster und sann darüber nach, wie sie sich rächen würde.

Als sie dann spät, sehr spät, ins Bett ging, hatte sie einen Plan gefaßt.

*

Max Trenker hatte gleich nach Xavers Anruf seinen Bruder alarmiert. Zusammen fuhren sie zum Ainringer Forst hinaus. Unterwegs erzählte der Gendarm von Hubert Moosbacher und dem abgefahrenen Reifen.

»Dann scheint der Verdacht ja bestätigt«, sagte der Pfarrer. »Ich frag’ mich nur, warum der Hubert so dumm ist, und gleich wieder Schlingen auslegt.«

»Er wird’s net alleine sein«, meinte Max. »Wenn ich’s recht überlege, dann müssen es auch neulich schon zwei gewesen sein. So schnell, wie der Wagen wegfuhr – da muß ein zweiter Mann am Steuer gesessen und gewartet haben. Offenbar hab’ ich sie mit meiner freundlichen Art in Sicherheit gewogen.«

Xaver wartete ungeduldig. Als Max vor dem Forsthaus hielt, stand er schon draußen mit seinem Hund und schritt unablässig auf und ab.

»Du sollst den Fuß doch noch schonen«, ermahnte der Geistliche ihn.

»Dafür ist noch Zeit, wenn der Kerl endlich hinter Schloß und Riegel sitzt«, winkte der alte Förster ab. »Vorher werd’ ich gewiß auch net den Pensionsantrag unterschreiben.«

Ausgerüstet, wie beim ersten Streifengang, machten sie sich auf den Weg. Von der Birkenschonung, die Kathrin Breithammer meinte, führte ein breiter Waldweg bis zu der Landstraße, die nach Engelsbach führte. Von dort gab es eine Querverbindung hinüber nach Waldeck. Aus dieser Richtung mußten der, oder die Täter herauffahren.

Voller Angst, bereits zu spät zu kommen, trieb Xaver zur Eile an. Sie postierten sich so, daß der Wagen zwar durchfahren konnte, sie den Rückweg aber mit Buschwerk und Stämmen verbarrikadierten. In Abständen von einigen Metern lagen sie auf der Lauer, und ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

Mitternacht kam und ging vorüber, schließlich, die erste, zweite und dritte Stunde des neuen Tages. Aber von Wilddieben war nichts zu sehen. Schon überlegten sie, ihre Wache abzubrechen, als fernes Motorengeräusch sie aufhorchen ließ. Gleichzeitig ruckte Brutus auf, der auf dem Waldboden gelegen und scheinbar geschlafen hatte. Er stellte die Ohren auf und ließ ein leises Knurren vernehmen. Im Osten graute schon langsam der Morgen.

»Sie kommen«, rief Xaver den beiden anderen zu.

Pfarrer Trenker richtete sich in seinem Versteck auf und gab zu verstehen, daß er es gehört hatte. Ebenso Max. Der Gendarm hatte sich unter einem tief hängenden Busch verkrochen.

An ihm mußte der Wagen zuerst vorbei. Dann würde er den Weg versperren.

Wenig später wurde der Motorenlärm lauter, und kurz darauf sahen sie die Lichtkegel der Scheinwerfer. Bis zur Birkenschonung war es etwa noch einen Kilometer. Das Auto fuhr an Max’ Versteck vorbei. Der Beamte wartete ein paar Sekunden und begann dann in Windeseile, den Weg mit Sträuchern und Astwerk zu verbarrikadieren. Der oder die Wilddiebe bekamen davon nichts mit, weil der Weg eine leichte Kurve beschrieb.

Der Fahrer des Wagens, es war das Fahrzeug, das Hubert Moosbacher gehörte, hielt an und wendete auf dem breiten Weg. Dann stellte er den Motor ab, und eine Autotür klappte.

Gespannt warteten Sebastian und Xaver auf die dunkle Gestalt, die sich langsam näherte. Sie ließen sie passieren und richteten sich dann auf. Pfarrer Trenker hatte einen Handscheinwerfer aus seinem Rucksack genommen und ließ ihn aufflammen.

»Rühr’ dich net’ Bursche, sonst drück’ ich ab!« schrie Xaver Anreuther.

Er hatte auf den Dunkelgekleideten angelegt. Der Mann schrak zusammen und blieb stehen.

»Jetzt dreh’ dich langsam um!« befahl der Förster. »Und nimm die Kapuze ab.«

Der Mann tat, wie ihm geheißen. Langsam glitt die Kapuze von seinem Kopf. Im Licht des Scheinwerfers erkannten sie Willi Moosbacher.

»Na, da wird der Sohn net weit sein«, sagte Xaver.

Sebastian schaute nach seinem Bruder. Max näherte sich langsam dem Geländewagen. Wahrscheinlich saß Hubert am Steuer und wartete auf seinen Vater.

Der Gendarm riß die Tür auf. Hubert Moosbacher schreckte hoch. Offenbar war er vor Müdigkeit eingenickt und hatte von der Verhaftung seines Vaters gar nichts mitbekommen.

»Das ist keine Verkehrskontrolle«, meinte der Polizeibeamte trocken. »Du bist vorläufig festgenommen.«

Xaver und der Pfarrer brachten Willi Moosbacher zum Auto. Der Alte war völlig durcheinander. Er und sein Sohn mußten sich ihrer Sache wirklich sehr sicher gewesen sein, und überhaupt nicht mit der Möglichkeit gerechnet haben, daß schon jemand auf sie wartete.

Bei der Durchsuchung des Geländewagens fanden sie, neben etlichen Drahtschlingen, die als Beweis schon ausgereicht hätten, auch zwei tote Rehe. Die Tiere waren eindeutig Opfer der fürchterlichen Fallen geworden, wie man an den Wunden unschwer erkennen konnte.

Damit war die Schuld der beiden Männer eindeutig erwiesen.

Xaver Anreuther sah Vater und Sohn lange an.

»Nun wirst bald deinem Spezi im Gefängnis Gesellschaft leisten können«, meinte er zu Willi Moosbacher, nachdem Max ihnen Handschellen angelegt hatte.

*

Früher, als sie es gewöhnt war, stand Gloria von Haiden auf und kleidete sich an. Sie frühstückte sehr schnell und vertiefte sich dann in die Morgenzeitung. Als Bert Fortmann das Frühstückszimmer betrat, nahm er sie unter all den anderen Gästen nicht wahr.

Gloria wartete ab, bis der Anwalt sich am Büffet bedient hatte, dann verließ sie schnell den Raum und ging hinaus auf die Straße. Ihr Ziel war die Pension Rathmacher. Wenn ihr Plan gelingen sollte, dann mußte sie diese fremde Frau noch vor Bert treffen. Wenn sie ihr das sagte, was sie sich überlegt hatte, dann würden Bert und die Frau sich niemals wiedersehen.

Kurz nach zehn Uhr öffnete sich die Tür, und Berts neue Freundin trat auf die Straße. Gloria, die gegenüber gewartet hatte, lief auf die andere Seite und stellte sich der anderen in den Weg.

»Guten Morgen«, grüßte sie freundlich. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie so einfach anspreche, aber Sie sind doch mit Bert befreundet, nicht wahr? Bert Fortmann.«

Verena durchfuhr ein siedendheißer Blutstrom. Warum fragte diese Frau sie nach Bert?

»Ja. Warum? Ist etwas mit ihm?« fragte sie aufgeregt.

»Wie? Nein, nein«, winkte die Frau ab. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wahrscheinlich sitzt er gerade beim Frühstück. Da saß er jedenfalls eben noch, als ich ihn verließ.«

Die Lehrerin stutzte.

»Sie haben mit Bert gefrühstückt? Frau…«

Gloria lächelte.

»Mein Name ist Heide Laurenz«, antwortete sie. »Ja, ich habe mit ihm gefrühstückt. Ich bin mit Herrn Fortmann verlobt.«

Verenas Herz krampfte sich zusammen. Sie glaube, sich verhört zu haben.

»Verlobt…?« sagte sie ungläubig.

Gloria nahm ihren Arm und zog sie an die Seite. Dabei schaute sie beinahe freundschaftlich. Sie bemerkte den Schock, den ihre Worte ausgelöst hatten.

»Sehen Sie, Frau…«

»Berger.«

»Frau Berger, Sie dürfen die Sache nicht so tragisch sehen. Es ist so, Bert hat manchmal eine Art, da kann eine Frau schlecht nein sagen. Sie sind nicht die erste, der das passiert. Und hinterher kann ich die Sache wieder ausbügeln. Das wäre alles nicht passiert, wenn ich gleich mitgefahren wäre. Aber es gab da noch eine geschäftliche Angelegenheit, durch die ich aufgehalten wurde…«

Verena schien alles wie durch einen dicken Wattebausch wahrzunehmen.

»Sie müssen es wieder ausbügeln?« echote sie, wie in Trance, und ein dichter Tränenschleier nahm ihr die Sicht.

Gloria reichte ihr ein Taschentuch.

»Hier, nehmen Sie«, sagte sie in gespielter Fürsorge. »Und bitte, nehmen Sie die Angelegenheit, als das, was sie für Bert auch war – ein kleiner Urlaubsflirt, mehr nicht.«

Damit wandte sie sich um und ging davon. Verena blieb hilflos stehen. Die Worte der Frau hämmerten in ihrem Kopf. Es war, als wäre sie vom Himmel in die tiefste Hölle gestürzt.

Jetzt wurde ihr auch sein gestriges Verhalten klar. Er wußte ja, daß heute seine Verlobte anreiste. Kein Wunder, daß er mit seinen Gedanken woanders war, und sie hatte geglaubt, ein berufliches Problem beschäftigte ihn. Wahrscheinlich hatte er da nach Worten gesucht, mit denen er ihr klarmachen konnte, daß alles zu Ende war, noch bevor es richtig begonnen hatte.

Nein, nicht einmal das hatte er überlegt, denn wie Heide Laurenz sagte, mußte sie die Sache immer wieder ausbügeln. Also war er auch noch zu feige, einzugestehen, daß er mit ihr nur gespielt hatte.

Das zerknüllte Taschentuch in den Händen, ging Verena in die Pension zurück. Christel Rathmacher war schon am frühen Morgen in die Kreiststadt gefahren, und Verena war froh darüber. So brauchte sie niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen.

Sie ging in ihr Zimmer und packte. Schnell waren die Koffer in der Ente verstaut, die hinten im Hof stand. Verena schrieb ein paar Zeilen auf ein Stück Papier und teilte mit, daß sie sofort abreisen mußte. Dazu legte sie den Betrag, den ihre Rechnung ausmachte.

Als sie an dem Hotel vorbeifuhr, schaute sie stur geradeaus. Sie sah nicht, daß Gloria von Haiden im Eingang stand und ihr hämisch grinsend nachschaute.

*

Bert Fortmann ging ungeduldig vor dem Hotel auf und ab. Verena hätte doch längst hier sein müssen. Er sah auf die Uhr. Schon mehr als zwanzig Minuten über die verabredete Zeit. Ob sie verschlafen hatte? Oder verplauderte sie sich mit ihrer Pensionswirtin. Sie hatte ihm ja erzählt, welch herzliches Verhältnis die beiden Frauen verband. Schließlich beschloß er, ihr entgegen zu gehen.

Auf dem Weg zur Pension hoffte er vergeblich, daß sie ihm entgegenkam. Noch einmal schaute er auf die Uhr und klingelte dann.

Einmal, zweimal – niemand öffnete. War die Wirtin denn nicht im Haus? Aber dann mußten doch andere Gäste das Klingeln hören!

Verena hatte erzählt, daß die meisten zu einer Reisegruppe gehörten, die am Morgen eine Almwanderung unternahm. Die Leute waren bestimmt schon unterwegs. Und da Verena nicht öffnete, schien sie ebenfalls nicht mehr in der Pension zu sein.

Unschlüssig ging er vor dem Haus auf und ab. Daß sie an einander vorbeigelaufen waren, schien auch aus. Es gab nur zwei Straßen vom Hotel hierher. Da mußten sie sich begegnet sein.

Er wollte gerade zum Hotel zurückgehen, als er einen Kleinwagen auf den Hof der Pension fahren sah. Sofort lief er hinterher. Eine Frau mittleren Alters stieg aus, als der Anwalt durch die Einfahrt kam. Der Beschreibung nach mußte es sich bei ihr um die Pensionswirtin handeln.

»Guten Morgen«, rief er ihr zu. »Sind Sie Frau Rathmacher?«

Die Wirtin nickte.

»Ja, was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Fortmann. Bert Fortmann«, sagte er mit einer kurzen Verbeugung. »Ich bin ein Bekannter von Verena Berger.«

Ein strahlendes Lächeln glitt über Christel Rathmachers Gesicht.

»Verena hat mir von Ihnen erzählt. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Ganz meinerseits. Frau Rathmacher, ich bin etwas in Sorge. Verena und ich waren vor beinahe einer Stunde drüben im Hotel verabredet. Aber sie ist nicht gekommen. Und als ich eben vorne an der Tür klingelte, öffnete niemand. Haben Sie eine Vermutung, wo Verena sein könnte?«

Die Pensionswirtin schüttelte den Kopf.

»Ich hab’ nur kurz heut’ morgen mit ihr gesprochen«, antwortete sie. »Ich bin ja schon sehr früh in die Stadt gefahren.«

Sie sah sich auf dem Hof um. Verenas Ente hatte neben der alten Waschküche gestanden Jetzt war der Platz leer.

»Das Auto ist fort«, sagte Christel Rathmacher. »Der Wagen von der Verena hat dort drüben gestanden. Vielleicht ist sie irgendwohin gefahren.«

Im selben Moment fiel ihr ein, daß Verena ja verabredet gewesen war. Da würd’ sie doch net so einfach fortfahren, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

»Wissen S’ was?« meinte sie kurzerhand. »Kommen S’ erstmal ins Haus. Vielleicht hat sie eine Nachricht hinterlassen, wohin sie ist und wann sie wiederkommt.«

Bert nickte dankbar und folgte ihr durch den Hintereingang. Die ganze Sache war ihm äußerst rätselhaft. Jetzt war auch noch das Auto verschwunden!

Sie fanden den Zettel und das Geld in der Küche. Christel Rathmacher las die kurzen Zeilen und schüttelte verständnislos den Kopf.

»Was steht denn da?« fragte Bert Fortmann ungeduldig.

»Sie ist fort«, antwortete die Pensionswirtin. »Verena ist abgereist!«

»Was?«

Bert riß ihr den Zettel aus der Hand und las es mit eigenen Augen. Private Gründe zwingen sie, ihren Urlaub sofort abzubrechen. Das Geld reichte, um das Zimmer für die reservierte Zeit zu bezahlen.

»Verstehen Sie das?« fragte Christel ihn.

Der Anwalt schüttelte den Kopf. Er verstand überhaupt nichts mehr. Er wußte nur, daß Verena fort war, und er hatte nicht einmal eine Telefonnummer von ihr.

*

Verena fuhr wie im Traum. Es war ein Wunder, daß es zu keiner gefährlichen Situation kam, was zum großen Teil daran lag, daß wenig Verkehr herrschte.

Warum nur? Warum? Diese Frage beherrschte ihr ganzes Denken. Konnte ein Mensch wirklich so niederträchtig und gemein sein, auf den Gefühlen eines anderen so herumzutrampeln? Dabei hatte es doch so wunderschön begonnen! Oder hatte er damals, auf dem Parkplatz, schon den Entschluß gefaßt und sie als kurzen Zeitvertreib ausgewählt, bis seine Verlobte kam, die dann wieder alles »ausbügelte«?

Es war ihr unfaßbar, wie sie sich so hatte in diesem Mann täuschen können, und jetzt wollte sie nur fort von hier. Fort von dem Menschen, der sie so bitter enttäuschte.

Mit einer energischen Handbewegung ergriff sie den Schaltknüppel und trieb den Gang weiter hoch. Es gab ein knirschendes Geräusch, und der Motor erstarb langsam.

»O nein, nicht schon wieder«, entfuhr es ihr.

Verena erinnerte sich im selben Augenblick an Tobias Rathmachers mahnende Worte, gefühlvoll mit dem Schalthebel umzugehen, denn mit dem Getriebe stehe es nicht zum besten.

Offenbar kam die Erinnerung zu spät.

Sie schaltete die Warnblinkanlage ein und stieg aus. Mit einer Hand drehte sie das Lenkrad, mit der anderen stieß sie den Wagen vorwärts. Zum Glück ging es bergab, so daß es nicht so mühsam war. Trotzdem kam sie ins Schwitzen. Jetzt kam es nicht so sehr darauf an, die Ente zu schieben, als vielmehr sie zurückzuhalten, damit das nicht den Berg hinunter zu schnell wurde. Schließlich sprang sie wieder in den Wagen und ließ ihn im Leerlauf rollen. So schaffte sie es immerhin bis zu einer Parkbucht am Straßenrand. Sie zog die Handbremse an, lehnte sich in ihren Sitz zurück und ließ ihren Tränen freien Lauf.

War es wirklich gerecht, so viel Pech auf einmal zu haben? Sie hatte doch nichts getan, daß sie solch eine Strafe verdiente!

Und was sollte sie jetzt anfangen? Hier, mutterseelenalleine auf der Landstraße, mit einem Auto, das auf den Schrottplatz gehörte. Wütend hieb sie auf das Lenkrad.

Selbst da hatte Bert Fortmann noch recht gehabt. Und sie würde den Verlust ihres geliebten Wagens, immer mit dem Verlust des geliebten Mannes verbinden…

*

Unschlüssig stand Bert vor dem Hotel. Er, der brillante Anwalt, der Analytiker, der vor Gericht für seine Mandanten wie eine Löwin für ihre Jungen kämpfte, war völlig ratlos. Was war nur geschehen? Das war die entscheidende Frage. Welche privaten Gründe gab es, die Verenas Verhalten rechtfertigten? Sie lebte alleine, hatte weiter keine Verwandten, wie sie ihm erzählt hatte. Also mußte ihre übereilte Abreise doch mit ihm zusammenhängen.

Er ging ein paar Schritte weiter, bis er vor dem Parkplatz des Hotels stand. Glorias Wagen fiel ihm auf, der rote Sportwagen, den er kannte. Natürlich, es konnte gar nicht anders sein… Ihre Drohung fiel ihm wieder ein.

Bert stürmte durch die Hoteltür und drängte zur Rezeption.

»Welches Zimmer bewohnt Frau von Haiden?« fragte er das junge Madel hinter dem Tresen.

»Vierhundertvier, unser Notzimmer«, antwortete es. »Ganz oben unter dem Dach.«

Bert rannte schon die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ohne anzuklopfen riß er die Zimmertür auf und trat ein. Gloria war gerade dabei, ihren Koffer zu packen.

»Oh, lá lá, so stürmisch warst du ja noch nie«, sagte sie und ließ sich auf das Bett sinken. »Hast du solche Sehnsucht nach mir, daß du beinahe die Tür eintrittst?«

Der Anwalt packte sie bei den Handgelenken und riß sie hoch.

»Au, du tust mir weh«, klagte Gloria.

Bert lockerte den Griff, obwohl er zu ganz anderem fähig gewesen wäre. Mit kalten Augen sah er sie an.

»Du hast mit Verena gesprochen«, sagte er mit eisiger Stimme. »Leugne es nicht. Du bist schuld, daß sie fortgefahren ist. Welche Lügen hast du ihr erzählt?«

Gloria wand sich in seinen Armen. In ihren Augen spiegelte sich Furcht. Sie ahnte instinktiv, daß sie zu weit gegangen war.

»Nichts weiter«, log sie.

Erst als sich sein Griff um ihre Arme verstärkte, sagte sie die ganze Wahrheit – oder fast die ganze.

»Ich betrachte mich eben immer noch als deine Verlobte«, schloß sie trotzig.

»Diese Verbindung habe ich schon lange gelöst.«

Er hatte sie losgelassen und, beinahe verächtlich, zurückgestoßen.

»Komm’ mir nie wieder unter die Augen«, sagte er. »Du hast so viele Menschen ins Unglück gestürzt, aber eines Tages wirst du deine gerechte Strafe dafür erhalten. Und wenn dies nicht auf Erden geschieht, dann ganz bestimmt anderswo.«

Er ging hinaus und schloß die Tür. Als er ein paar Schritte gegangen war, riß Gloria die Tür wieder auf.

»Du hättest Pfarrer werden sollen«, schrie sie ihm hinterher. »Du mit deinen weisen Sprüchen!«

Bert Fortmann drehte sich zu ihm um.

»Pfarrer?« fragte er und nickte mit dem Kopf. »Eine gute Idee.«

Verständnislos sah Gloria von Haiden ihm hinterher.

*

Sebastian Trenker befand sich gerade in der Kirche, als Bert das Gotteshaus betrat.

»Herr Fortmann, ich freue mich, Sie wiederzusehen«, begrüßte der Geistliche den Rechtsanwalt.

Er sah dem Besucher an, daß etwas nicht in Ordnung war.

»Worum geht’s?« fragte er. »Kann ich Ihnen helfen?«

Bert schilderte mit knappen Worten, was sich ereignet hatte.

»Ich frage mich, wie ich diese Frau nur lieben konnte. Ich muß blind gewesen sein, daß ich nicht erkannt habe, was für ein Mensch Gloria von Haiden wirklich ist. Eiskalt, zynisch, und nur auf einen Vorteil bedacht.«

Sebastian legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Zerfleischen Sie sich nicht mit Selbstvorwürfen. Was geschehen ist, läßt sich net mehr ändern. Wir Menschen können nur aufpassen, daß wir die selben Fehler nicht ein zweites Mal machen. Aber diese Frau, die Sie nun verlassen hat, war ja auch kein Fehler, wie ich Ihren Worten entnehme.

Diese Verena, die Sie hier kennengelernt haben, und der Ihre Liebe gilt, wenn sie Sie auch liebt, dann wird sich noch alles zum Guten wenden. Setzen Sie sich in Ihren Wagen und fahren Sie hinterher. So weit kann sie noch net sein, daß Sie sie nicht einholen können. Und wer weiß – vielleicht sorgt das Schicksal dafür, daß es noch einmal eine Panne gibt…«

»Gebe es Gott«, antwortete Bert und reichte dem Geistlichen die Hand.

Wie weit mochte sie schon gekommen sein, fragte er sich, als er auf der Bergstraße fuhr. Vielleicht hundert Kilometer – eher weniger. Die Straße war ja keine Autobahn, und teilweise gab es Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Siebzig Stundenkilometer.

Wenn alles glattgegangen war, und wenig Verkehr herrschte, dann mochte Verena in diesem Augenblick vielleicht auf dem Autobahnzubringer sein.

Bert trat das Gaspedal durch. Das konnte er schaffen. Wenn er Glück hatte, dann holte er sie sogar noch ein, bevor sie die Autobahn erreichte.

Es waren kaum Autos unterwegs, und immer wieder gab es die Möglichkeit, langsamere Fahrzeuge zu überholen, so daß er gut vorankam.

Wie hatte Pfarrer Trenker gesagt, vielleicht sorgt das Schicksal für eine neue Panne. Ja, das wär’s! Warum gab das alte Auto nicht einfach seinen Geist auf, so daß Verena gezwungen war, anzuhalten?

Diese vermaledeite Schrottkarre!

Bert riß die Augen auf. Da stand sie, in ihrer ganzen Schönheit, diese wunderbare Schrottkarre!

Nein, er irrte sich nicht. In einer kleinen Parkbucht stand Verenas Ente. Bert hielt dahinter an und sprang aus seinem Wagen. Mit zwei, drei Schritten war er bei dem Wagen und riß die Tür auf.

»Ich hab’ doch gesagt, die Karre gehört auf den Schrottplatz«, sagte er.

Verena starrte ihn mit großen Augen an.

»Du?« fragte sie ungläubig.

Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, daß er hinter ihr gehalten hatte.

»Was machst du denn hier?«

»Was ich mache? Na, du bist gut! Was glaubst du denn wohl?«

»Ich… ich weiß net, was ich glauben soll. Ich versteh’ überhaupt net, was du hier machst – deine Verlobte…«

»Blödsinn, Verlobte!« schnaubte er und zog sie aus dem Auto. »Es gibt keine Verlobte. Für wen hältst du mich eigentlich? Wenn ich mich verlobe, dann höchstens mit dir.«

»Aber Heide Laurenz hat doch gesagt…«

»Wer, um alles in der Welt, ist Heide Laurenz?«

Er sah sie verständnislos an.

»Na, deine Verlobte – oder, ich meine die Frau, die gesagt hat, daß sie deine Verlobte ist.«

Bert verstand. Gloria hatte nicht nur gelogen, sie hatte auch einen falschen Namen benutzt. Wahrscheinlich, weil sie nicht wissen konnte, wieviel Bert Verena über sie erzählt hatte.

Es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis der Anwalt der jungen Lehrerin alles berichtet hatte. Er verschwieg nichts und fügte nichts hinzu. Als er geendet hatte, sahen sie sich beide an. Verena kämpfte wieder mit den Tränen.

»Es tut mir so leid, daß ich an deiner Ehrlichkeit gezweifelt habe«, sagte sie. »Ich schäme mich dafür.«

Bert nahm ihr Gesicht in seine Hände.

»Das ist das letzte, was ich will«, erwiderte er. »Nur eines mußt du mir versprechen…«

»Ja?«

»Wenn du jemals wieder Zweifel an meiner Liebe hast, dann sprich mit mir darüber. Geh’ nicht einfach fort. Ich könnte es nicht noch einmal ertragen.«

»Nie, nie wieder werde ich so etwas tun«, versprach sie. »Es war ja so schrecklich für mich, ohne ein Wort von dir zu gehen. Ich will immer an dich glauben!«

Ganz fest nahm er sie in seine Arme, und ihr Kuß besiegelte ihr Versprechen.

Gab es auch viele Irrwege, Verena und Bert hatten den richtigen gefunden – den ins Glück!

Der Bergpfarrer Paket 1 – Heimatroman

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