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5Das Instrumentarium:Streicheln und Ermorden – Musikinstrumente: ihr Appell, ihre Symbolik

von Hans-Helmut Decker-Voigt

„Wer dauernd auf die Pauke haut, geht eines Tages flöten“ (Trenkle 2004)

Längst bevor ein Patient ein Instrument spielt, spielt es in ihm. Und es spielt gleich mehrere Rollen. Die Entscheidung, nach einem ersten Umschauen im Musiktherapieraum ein erstes Umhören folgen zu lassen – meist ausgelöst durch die Einladung des Musiktherapeuten, zu explorieren, auszuprobieren, was einen vielleicht neugierig macht … und dieses Umhören in die Entscheidung für ein Instrument münden zu lassen oder gar keines zu nehmen, ist gänzlich unzufällig.

Wirkungsfunktionen

Der Mensch steht dem Musikinstrument und dessen folgenden Wirkungsfunktionen gegenüber:

●Es wirkt auf ihn durch das Profil des Instrumentenkörpers, seine Form: vertraut, neu, fremd, befremdend, anziehend.

●Es wirkt durch die Noch-nicht-Hörbarkeit, die sich schon nähert: vertraut, neu, befremdend, anziehend.

●Es wirkt durch das Material, aus dem es ist: glatt, rissig, künstlich, natürlich.

●Es wirkt durch die Einladung zum Spiel (den Bogen über Saiten eines Streichinstruments zu streichen, die Tasten eines Klaviers oder Akkordeons zu drücken, eine Rassel zu schütteln).

Die Anziehung des Menschen hin zu einem Instrument oder seine Abwehr dagegen (in der Therapie sprechen wir dann von Widerstand) liegt großenteils in der Assoziation (lat. = Hinzugesellung) innerer Bilder, Erinnerungen, Bedürfnisse, die beim Annähern oder auch nur Betrachten eines Musikinstruments ausgelöst werden.

assoziativer

Gehalt

Mary Priestley sah in ihrer noch traditionelleren tiefenpsychologischen Sicht Musikinstrumente als Auslöser für Bedürfnisse im Menschen, die den Entwicklungsphasen früher Sexualität folgten. Sie verband Schlaginstrumente mit der analen Phase, Blasinstrumente mit der oralen und Streichinstrumente mit der genitalen (Priestley 1983). Diese Psycho-Logik, die bei zu einseitig vereinfachenden Psychoanalyse-„Freaks“ zu Kausalitäten führte – Schlägelspiel = Phallusspiel oder Streichinstrumentenspiel = Streichelspiel –, wurde durch die „Appellspektrumsanalyse“ ausgeweitet. Sie baute auf der Theorie der Kreativtherapie von Maks Kliphuis auf. Diese ging von einer in jedem Individuum angelegten „Bedürfnishierarchie“ aus, die von den das Individuum umgebenden Materialien mit ihren unterschiedlichen „Appellen“ an eben diese Bedürfnishierarchie rührt und diesen anzieht, abstößt, immer aber „appelliert“ (Kliphuis 1973). Kliphuis unterscheidet bei den materialen Appellen folgende Bedürfnisreaktionen:

Instrumenten-symbolik der

Tiefenpsychologie

Appellwert und

Bedürfnishierarchie

1.sensopathisch-libidinöse Bedürfnisse (taktil-haptische Kontaktwünsche),

2.dimensionale Bedürfnisse (Gestaltung von Raum, Form und Zeit, also Allmacht, Endlosigkeit oder sich durch das Material abgrenzen, schützen)

3.thematisch-inhaltliche Bedürfnisse (symbolische Besetztheit des Materials in seiner Form, Farbe, Größe, Struktur).

Wil Waardenburg bezog in dem Kontext von Kliphuis erstmals die Appellspektrumsanalyse auf die Spielweise, den Klang, die vielschichtigen Symbolwertigkeiten von Musikinstrumenten (1973). In der phänomenologisch orientierten Musiktherapie wird mit der Appellspektrumsanalyse bis heute in immer weiter modifizierteren Formen gearbeitet.


Eine Fallvignette (nach Ulrike Höhmann 1996): Eine Diabetes-Patientin, die ihr Kind durch eine Fehlgeburt verloren hatte, ging während des ersten Therapie-Settings spontan auf die große Pauke zu, nahm auch die Schlägel zur Hand – war aber nicht imstande, zu spielen. Im Nachbearbeitungsgespräch wurde deutlich, dass die Pauke an sie „appellierte“ – durch die Assoziation an die Form ihres Bauchs während der Schwangerschaft. Hingegen die mögliche, vermutete Lautstärke der Pauke appellierte, erinnerte die bis dahin verdrängte Wut über den Tod ihres Kindes. Die Intensität und Dimension der Verdrängung wurde schließlich deutlich durch die Unfähigkeit, das Spiel aufzunehmen.

subjektive

Bedeutung

Höhmann führt Waardenburgs Ansatz weiter und sieht in der ersten Phase einer Musiktherapie, der Erforschung des vorhandenen Instrumentariums durch den Patienten (die Exploration) bereits den Beginn einer „Überwindung der Problemfixierung“, ein weiteres Beispiel für die Symbolträchtigkeit der Spiel- und Umgehensweise mit dem Instrument. Beispielhaft am Instrumentenkörper des Balafons (afrikanisches Xylophon) nähert sich Höhmann dem Musikinstrument in Analogie zum menschlichen Körper tiefenpsychologisch-phänomenologisch an und differenziert das Instrument.

Anthropomorphismus – Beispiel Balafon

●Die selbstklingenden Materialien (Idiophone) i. S. von Tonquelle, der klanggebende Teil, das männliche Element (beim Beispiel Xylophon/Balafon die Klangstäbe).

●Die Resonanzkörper, der Bauch, die klangempfangende Form, der mitschwingende Teil, das offene, weibliche Element (beim Beispiel Balafon die 1–2 Resonanzkörper unter dem Klangstab, die im Zusammenwirken mit dem klanggebenden Element der Idiophone zur „Befruchtung“ führen, dem schwingenden Ton). Durch die im Resonanzkörper in Bewegung gesetzte Luft schwingen auch die Membranen mit, die als feine Häutchen über die in die Resonanzkörper gebohrten Löcher gespannt sind. Neben dem Ton des Holzstabklangs entsteht so eine zweite Klangebene. „Das Instrument atmet.“

●Der Aufbau, das Skelett, das ordnende haltgebende Element eines Instruments.

●Die Skulptur eines Instruments (seine möglichen Verzierungen, seine Seele, das von ihm versinnbildlichte Element) (nach Höhmann 1994).


Abb.: Die Musiktherapeutin Ulrike Höhmann am Balafon

Psychoanalytisch übersetzt lösen Musikinstrumente Annäherungs-, Einverleibungswünsche und damit symbiotische Bedürfnisse aus oder aber Abwehr bzw. Widerstand. Die dahinter stehende Diskussion um die Symbolik von Musikinstrumenten und ihrer Klangsprache ist mit der Arbeit der Psychoanalytikerin Susanne Langer weiterstrukturiert worden. Langer (1984) zeigt die elementar unterschiedlichen Formen der Symbolorganisation des Menschen auf und differenziert in „diskursive Symbolik“ des sprachlichen Ausdrucks des Menschen. Die Form dieses Ausdrucks beschreibt äußere Realitäten, und zwar immer und ausschließlich im zeitlichen Nacheinander. Anders Musik als Ergebnis gespielter Instrumente und gesungener Stimme.

Die phänomenologische Musiktherapie, mit ihrer Voraussetzung besonderer Symbolkraft der Musik und der Klangwerkzeuge, die diese erzeugt, arbeitet seit Langer mit dem Begriff der „Präsentativen Symbolebene der Musik“. Musik ist keine Sprache wie die verbale Sprache, sondern repräsentiert seelische Gegebenheiten in der jeweiligen Situation der Begegnung mit ihr – und zwar zeitgleich, synchron. Langer nutzt zur Unterscheidung der beiden Symbolrepräsentanzen das Bild vom betrachteten Bild von Kleidungsstücken, die auf einer Wäscheleine aufgehängt sind, und zwar ebenso nach- und nebeneinander, wie Menschen sich ihre Ideen sprachlich mitteilen – dabei werden sie übereinandergetragen. Oder das Kunstbild des Malers, das sich auch aus verschiedenen Elementen zusammensetzt, die das Motiv als Ganzes zeigen – aber es wirkt synchron, auf einmal und in diesem Moment (Langer 1984).

Alfred Lorenzer sieht in seiner Fortsetzung der Arbeit Langers alle nicht in Sprache fassbaren präsentativen Symbolebenen (wie auch Musikgestaltung, Tanz, Malen) als sinnlich-symbolische Kommunikation, die nicht weniger wichtig ist als die diskursive Symbolik der Sprache (Lorenzer 1970a/b).

sinnlich-symbolische

Kommunikation

Was nun in die „Appellwirkung“ des Musikinstruments und der gesungenen, vokal spielenden Stimme buchstäblich mit hineinspielt, ist die Funktion der Instrumente, an die protosymbolische Zeit der vorsprachlichen Kommunikation anzuschließen. Die psychoanalytische Sicht: In dieser präverbalen Zeit (ca. bis Ende des 2. Lebensjahres) sieht Lorenzer die elementaren Vorformen der Musik (call-response-dialogues) als Einigungsvorgänge in der frühen Mutter-Kind-Dyade, eben die, in der sich Protosymbole bilden. Während des Spracherwerbs wird ein Teil dieser Protosymbolismen übernommen in das Repertoire des Menschen zu sinnlich-symbolischer Kommunikation in einer präsentativen Symbolsprache (Musik, Tanz, Kunst). Ein anderer Teil wird in das Unbewusste geschoben. Insgesamt sieht die phänomenologische Musiktherapie Musik in diesem Sinne als präsentative Symbolsprache in der sinnlich-symbolischen Kommunikation – zusammen mit Tanz, Bewegung, Malerei.

Protosymbolik

„Präsentative Symbole artikulieren Situationen, sie formulieren Erlebnisse, die nicht oder noch nicht beim Namen genannt werden können bzw. dürfen.“ (Mahns 2004, 88)

Was Musikinstrumenten dabei als Werkzeuge für die sinnlich-symbolische Kommunikation zu therapeutischer Prominenz in der Psychodynamik des Patienten verhilft, ist die Erfahrung des Menschen: Musikalisch werden wir uns (im Gegensatz zur diskursiven Symbolik der Sprache) zeitgleich ausdrücken können, aufeinander einstimmen, abstimmen, Affektabstimmung erleben können und zur Interaktivität als zeitgleiches Erleben ein und derselben Gefühlsspitze gelangen. Natürlich ereignet sich Musik als Produkt ihrer Instrumente auch in der Zeit und mit der Zeit, wie die Sprache. Aber sie erlaubt spontanen, synchronen emotionalen Austausch.

Gleichzeitigkeit

Zu einzelnen Instrumentengruppen

Instrumenten-ausstattung

Zur idealen Instrumentenbestückung eines Musiktherapieraumes empfahl eine der Urgroßmütter der Musiktherapie, Mary Priestley, bereits, was sich überall zugunsten der beim Anblick (Appell) der Instrumente potenziellen Ausdruckschancen des Patienten bewährte: Von jeder Instrumentengattung möglichst zwei Instrumente (für PatientIn und TherapeutIn), also:

●Stabspielinstrumente,

●Fellinstrumente,

●Perkussion,

●Saiten-,

●Blas- und

●Tasteninstrumente.

Während der letzten 35 Jahre vollzog sich aufgrund des Appells an vermutete, erinnerte Leistungsanforderungen in Kindergarten und Schule eine langsame Ablösung traditioneller Konzertinstrumente unseres Kulturkreises (einschl. Orff-Instrumenten).

„Über die Begegnung mit den außereuropäischen entwickelte sich das Interesse an so genannten ‚archaischen’ Musikinstrumenten. So wurde das Monochord vom Demonstrationsobjekt für die pythagoräischen Obertöne zum wohlklingenden Musikinstrument meist mit mehreren gleichgestimmten Saiten entwickelt. Der Einsatz in der rezeptiven Musiktherapie wie auch in der musiktherapeutischen Improvisation ist weit verbreitet.“ (Bruhn 2005)

archaisches

Monochord

In derselben Arbeit verweist Bruhn auch auf Instrumente, die speziell für die Musiktherapiepraxis entwickelt wurden. Zunehmend sind dies Varianten des Monochords als Klangstühle und -liegen, Tischtrommeln für Gruppen, Gongs, Geräuschinstrumente wie Rainmaker und andere zahlreiche Varianten der „archaischen“ Instrumente als appellfähig ohne Leistungsanforderung, dafür mit starker präsentativer Symbolkraft.

Neuerfindungen

Musikethnologisch enger gebundene Instrumente, wie z. B. Didgeridoo, Djembe u. v. a., haben das klassische Orff-Instrumentarium zurückgedrängt. Dieses hatte aufgrund der Nähe der frühen Musiktherapie zur Musikpädagogik und Musik in der Heil- und Sonderpädagogik im deutschsprachigen Bereich der 50er Jahre des 20. Jh. noch Vorrang.

Ethno vs. Orff

Sonderstellung

Klavier

Das Klavier nimmt in der Diskussion und Praxis der Musiktherapie eine Sonderrolle ein. Sein breites Appellspektrum („Lehrerinstrument“, Instrument der Grandiosität und Virtuosität, Entmutigungsinstrument usw.) wird sowohl als ein Instrument unter vielen, als primus inter pares, in den meisten Gruppenmusiktherapien eingesetzt, aber auch in Einzelmusiktherapien für dialogische Improvisationen angeboten (z. B.: vierhändige Improvisation mit geschlossenen Augen auf vorgegebenen schwarzen Tasten = pentatonischen Leitern = harmonische Vertrautheit oder freie Improvisation im ganzen Tonraum als symbolisches Handeln für „Wege suchen im Dunkel des Nichtberechenbaren“ = Krankheit). In der Nordoff-Robbins-Musiktherapie ist das Klavier als Instrument des Therapeuten von zentraler Bedeutung für die künstlerisch-musikalische Begleitungsmöglichkeit des Patientenausdrucks.

elektronische

Instrumente

In speziellen Musiktherapie-Praxisfeldern finden sich elektronische Musikinstrumente (Keyboard, Synthesizer) und Equipment: therapeutische Arbeit in der Altersspanne zwischen jüngeren Jugendlichen und Adoleszenten; in der Arbeit mit Patienten der Neurologischen Rehabilitation; in Spezialpflegeeinrichtungen hirnverletzter Patienten, deren minimierter Ausdrucksbereich dadurch verstärkt und hör- und nutzbar wird für Inter-aktionsbahnungen, die nur so zu manchmal wieder möglichen Begegnungserfahrungen interaffektiver Intensität führen.


Bruhn, H. (2005): Musik und Therapie. In: Oerter, R., Stoffer, Th. H. (Hrsg.): Spezielle Musikpsychologie. Hogrefe, Göttingen.

Decker-Voigt, H.-H., Brust., K. v. (2016): Die Instrumente der Musik und die Basale Stimulation. In: „… das berührt mich tief“…, Musiktherapie und Basale Stimulation/Basale Bildung. Reichert, Wiesbaden, 47 ff.

Dosch, J., Timmermann, T. (2005): Das Buch vom Monochord. Zeitpunkt Musik. Reichert, Wiesbaden

Höhmann, U. (2009): Appelle und Appellwirkung von Musikinstrumenten. In: Decker-Voigt, H.-H., Weymann, E. (Hrsg.): Lexikon Musiktherapie. Hogrefe, Göttingen, 42 ff.

Krekeler, K., Merckling-Mihok, E. (2018): Schwerpunktthema „Digitale Instrumente in der Musiktherapie“. In: Zt. Musik und Gesundsein 34. Reichert, Wiesbaden, 12 ff.

Lehrbuch Musiktherapie

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