Читать книгу Lehrbuch Musiktherapie - Tonius Timmermann - Страница 18
Оглавление10Anthropologische und ethnologische Aspekte
„[…] daß Musik als Bestandteil menschlicher Selbstverwirklichung zu funktionieren vermag, daß sie nicht als luxuriöses Ornament der
Gesellschaft entbehrlich sei, sondern im Gegenteil als Katalysator
sozialer Vorgänge, als Medium der Sensibilisierung und Sozialisierung
in einer gesellschaftspolitischen Aufgabe zu wirken vermag […]
daß Musik primär Gebrauchsgegenstand des Menschen ist.“
(Suppan 1984, 7)
Der Mensch macht Musik, so weit wir seine Geschichte zurückverfolgen können. Alle Völker auf der Erde haben Musikkulturen entwickelt, so verschiedenartig sie auch sein mögen. Miteinander Singen und Musizieren ist die wichtigste gemeinschaftsbildende Kraft einer Kultur. Lieder und Tänze tradieren Geschichte, Geschichten und den gesamten Wissensstand in spielerischer und einprägsamer Weise. Musikanthropologen kommen übereinstimmend zu dem Schluss, dass Musik für die menschliche Gesellschaft nicht schmückendes Beiwerk oder luxuriöser Zeitvertreib ist (Blacking 1973, 54), sondern unentbehrlicher Bestandteil.
Ursprung:
Ausdruck und
Kontakt
Die verschiedenen Theorien, wie Musik entstanden sein soll (Revesz 1941; s. a. Rösing 1998, 75 f.), stellen z. T. Nebenaspekte wie das Nachahmen von Tierlauten, die Lallmelodien der Kinder oder rhythmische Bewegungen ins Zentrum eines Anfangs. Aus musiktherapeutischer Sicht scheint dagegen die Ausdrucks- und Kontakttheorie von Bedeutung. Die Ausdruckstheorie betont das Bedürfnis, emotionale und affektive Spannungen in Lautäußerungen zu entladen. Dies lässt sich gut ergänzen durch die Kontakttheorie, die sich auf das Kommunikations- und Verständigungsbedürfnis des Menschen beruft. Wenn man davon ausgeht, dass ein Gefühlsausdruck auch kommuniziert werden soll, ist es wahrscheinlich, dass ein Spielen mit Tönen als angenommener Ursprung allen musikalischen Tuns wesentlich deshalb betrieben wurde, weil es eben beides ermöglicht: Ausdruck und Kommunikation.
Dies führt uns zu einem wesentlichen Grundgedanken: Musik dient traditionell der Seelsorge bzw. psychosozialen Hygiene (Prävention) und findet von daher auch Eingang in die Heilungsrituale der traditionellen Kulturen. Indem der Mensch erschütternde Lebensereignisse wie den Tod eines nahestehenden Mitmenschen oder das Abgewiesenwerden in der Liebe in den klassischen Formen der Toten- und Liebesklage ausdrücken kann, gestaltet er sein Leid und verarbeitet es dadurch. Indem er aber auch Freude und Lebenslust in der Musik lebendig und kraft-voll zum Ausdruck bringt und dies in und mit seiner sozialen Gruppe kommuniziert, erlebt er seine individuelle Existenz in der Zugehörigkeit zu einer ihn tragenden und schützenden Gemeinschaft.
Heilungs- und
Übergangsrituale
Solche Erfahrungen sind heute noch von Bedeutung und wo sie fehlen, droht eine Gesellschaft zu zerfallen. Wenn heute immer weniger Eltern und Lehrer mit den Kindern singen, ist dies eine bedenkliche Entwicklung, der unbedingt etwas entgegengesetzt werden muss. Die moderne Musiktherapie knüpft bewusst an diese Erfahrungsebene an und setzt sie gezielt ein, um emotionales und soziales Gleichgewicht wiederherzustellen. Ausgehend von Suppan (1984) soll der folgende Überblick (nach Timmermann 2004, 19) verdeutlichen, in welchen Lebensbereichen des Menschen Musik früher und heute konkret eine Rolle spielt:
Zusammenhalt
der Gesellschaft
1.Mythologie und Religion: in Liedern und Tänzen tradierte Mythen, Rituale, Zeremonien, Kult, Gottesdienst, Ekstase, Trance, Meditation.
Gestaltung
menschlicher
Lebensbereiche
2.Krankenheilung: Rituale, Bewusstseinsveränderung, therapeutische Trance, Musiktherapie.
3.Arbeit und Versorgung: Arbeitslieder, Energetisierung durch Rhythmus und Gesang, Singen für die Pflanzen, Steigerung von Arbeitsleistung und Konsum.
4.Pädagogik und Politik: Lieder zur Enkulturation und Sozialisation (vor allem bei schriftlosen Völkern), politische Lieder und Musikwerke, Nationalhymnen, politische Zeremonien, Militärmusik.
5.Alltägliches Leben: Wiegenlied, Erotik, Kampf, Jagd, Spiel, soziales Leben und Gruppenidentität.
Wir sehen hier, dass Musik allen Menschen in verschiedenen Funktionen zur Verfügung steht, bevor sie eine Kunstgattung wird, zu der nur noch ein entsprechend gebildeter bzw. ausgebildeter Mensch Zugang findet. In der Religion ist dies bis heute noch der Fall, da die Kirche für die meisten Menschen wohl noch der letzte Ort ist, wo sie mit anderen zusammen singen. Bei der Arbeit wird Musik noch häufig rezipiert (meist über das Radio), aber, wie gesagt, das aktive Miteinandersingen wird selten. Damit droht ein wesentliches Element unserer Kultur zu sterben – Musiktherapie wird schon fast zu einer Art Kulturtherapie, in der diese existenziellen Ausdrucks- und Kommunikationsformen als psychosoziale Hygiene und in der Heilbehandlung am Leben erhalten werden. Wir werden gleich sehen, dass dies möglicherweise auch für andere Aspekte von Kunst und Kultur gilt.
Gehen wir noch einmal zurück in die traditionelle Gesellschaft und machen wir uns klar, dass der Mensch während etwa 99% seiner bisherigen Geschichte als nomadisierender Jäger und Sammler in kleinen Gruppen durch eine oftmals bedrohliche Welt zog, in der Zugehörigkeit und Gemeinschaftsgefühl überlebensnotwendig waren. Die wohl erste aus der Gruppe herausragende männliche oder weibliche Figur in dieser Phase ist die des Schamanen. Dieser ist Priester, Künstler und Heiler in Personalunion, vereinigt also die Bereiche Religion, Kunst und Heilung in sich und inszeniert sie im Ritual. Elemente, die dort zur Wirkung kommen, sind: Tanz, Schauspiel, Kultobjekte wie Fetische, Masken, Gewänder, spezielle kultische Musikinstrumente, die Musik, die damit gemacht wird, und die Gesänge, die dazugehörigen Mythen, Gedichte und Geschichten (Näheres in Timmermann 1994, 48 ff.). Durch Steigerung aller Sinne wird die Aufmerksamkeit fokussiert, ein Leerwerden vom Alltagsbewusstsein ermöglicht und damit ein Offenwerden für ein anderes Bewusstsein, eine „religio“, ein Sich-wieder-Verbinden mit dem innersten Wesen. In dieser Schicht sind die Wurzeln sowohl von Kunst als auch von Heil-Kunst, von Psychotherapie als Kunst bzw. künstlerischer Psychotherapie zu finden.
Religion, Kunst, Heilung
Dabei lassen sich vier Ebenen unterscheiden, die in Schamanismus bzw. Kunst auftreten und deren Elemente heute psychotherapeutische Verwendung finden (Timmermann 2004, 21):
Ebenen des
Schamanismus
1.Aktion: Dramaturgie und Gestaltung von Ritualen, Berührung, Tanz, Schauspiel, Pantomime, Aktionskunst, Happenings, Film … – körper- und bewegungsorientierte Verfahren, Tanztherapie, Psychodrama, Ritual Movement, Spieltherapie …
2.Objekt: Kultobjekte wie Fetische, Masken, Gewänder, Schmuck, Totempfähle, kultische Musikinstrumente wie Schwirrholz, Rassel, Trommel …, Kunsthandwerk, Malerei, Plastik … – Kunst-, Gestaltungs-, Maltherapie …
3.Musik: Schamanengesänge, Heilmusik mit spezifischen Rhythmen, Klängen und Liedern, Volksmusik, Kunstmusik, Popmusik … – aktive und rezeptive Vorgehensweisen der Musiktherapie, Musik in der Bewegungs- und Tanztherapie, z. T. im Katathymen Bilderleben nach Leuner, der Holotropen Therapie nach Grof, dem Malen zur Musik …
4.Sprache: Mythen, Liedtexte, Geschichten, Gedichte, Roma-ne … – verbale Verfahren bzw. verbale Anteile in primär nonverbalen Methoden, Poesie- und Bibliotherapie, Geschichten in der Therapie …
Alle modernen therapeutischen Verfahren, Methoden und Vorgehensweisen lassen sich also zurückführen auf diese Wurzeln der Kultur im Schamanismus. So nähern sich heute die Bereiche Religion als Seelsorge, Kunst und Heilung also wieder einander an (Näheres hierzu in Timmermann 1999b).
Auch die moderne Psychotherapie kennt ihre Rituale, in der Musiktherapie finden diese selbstverständlich mit Musik statt. Das Lateinische „cultura“ heißt so viel wie Pflege von Körper, Seele und Geist, worin das Streben nach einem Erhalt der Gesundheit auf allen Ebenen enthalten ist – vom Ackerbau bis zum Spiel. Ursprünglich kommt das Ritual aus dem Spiel und der Improvisation. Es entsteht intuitiv aus dem Inneren oder Unbewussten, taucht auf und wird dann manifest. Sein Beginn ist ein ungeordneter Impuls, der sich nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten ordnet. Solche gefundenen Ordnungen werden zu Wiederholungsmustern, da in ihnen wesentliche Erfahrungen gemacht werden. So werden Rituale zu
Ritual als
„gefundene
Ordnung“
„Verdichtungen von Abläufen, die sich im Sinne einer komprimierten, kollektiven und symbolischen Handlung wiederholen […] Sie stellen damit eine machtvolle nichtverbale Sprachform dar.“ (von Schlippe/Schweitzer 1996, 191)
In der Musik finden wir dieses Phänomen, indem starke emotionale Impulse aufsteigen, die sich zunächst in spontanen Lautäußerungen akustisch manifestieren und sich dann mehr und mehr formen und strukturieren.
polynesische
Totenklage
Die Totenklage einer Frau aus Polynesien beispielsweise begann damit, dass eine Frau an der Bahre eines nahen Verwandten weinte, woraus schließlich ein improvisierter Klagegesang wurde.
„Ihre Stimme wird immer wieder von Schluchzern geschüttelt, aber sie singt immer weiter. Der Schmerz überwältigt sie nicht, da sie ihm eine Form geben kann, zum Beispiel über den Rhythmus. Der Atem ist die Phrasierung und die Trauer ihrer Seele der Inhalt des Liedes. Andere Frauen stimmen ein, auch sie sehr ergriffen, dann endet das Schluchzen allmählich, der Gesang wird ruhiger und klingt aus.“ (zit. n. Engert-Timmermann 1992, 6)
Die Klage ist anthropologisches Grundbedürfnis, das sich nicht nur in ethnischen Kulturen ihren Weg bahnt. Auch in einer musiktherapeutischen Gruppe erlebte ich, wie eine Frau in einer Sitzung von einem tiefen Schmerz erfasst wurde und sehr heftig weinen musste. Schließlich bat sie die anderen Gruppenmitglieder, mit ihr zu „jammern“, und ließ das Weinen in lauten, langen Tönen zu, ähnlich wie Kinder es manchmal tun. Andere Gruppenmitglieder stimmten allmählich ein, und aus dem Jammern wurde nach und nach eine Stimmimprovisation, die schließlich ruhig und heiter ausklang.
„gemeinsames
Jammern“ in der
Musiktherapie
Diese lebendige Interaktion zwischen dem Einzelnen und der Gruppe ist improvisiert. Sie entsteht spontan, und dennoch sind die entstehenden musikalischen Formen nicht beliebig – sie bilden sich nach uralten inneren Gesetzmäßigkeiten. Auch die äußere Regelhaftigkeit des lebendigen Rituals entspricht dem inneren Gesetz. Es muss immer wieder neu belebt und lebendig erfahren werden, damit es wirkt. Im Prinzip ist es nicht an Kulturen gebunden, sondern an die Wirklichkeit des Menschen überhaupt.
Bei der Beschreibung der psychotherapeutischen Technik des Stützens (s. Kap. 6) wird darauf hingewiesen, dass die Rekrutierung von „Helfern“ aus der Gruppe an alte rituelle Traditionen anknüpft.
Eine hierzu passende musiktherapeutische Gruppenszene war, dass eine Frau für ihr abgetriebenes Kind eine Musik improvisieren wollte und es nicht alleine schaffte. Als sie darum bat, stimmte die ganze Gruppe mit Instrumenten und Stimme ein und stärkte sie so, dass sie es dann doch tun konnte. Dies erleichterte sie sehr.
„Musik für Ungeborenes“
Durch die Beschäftigung mit anthropologischen und ethnologischen Phänomenen gelangt man somit zu bio-psycho-sozialen Grundkonstanten, die in der modernen Psychotherapie berücksichtigt werden und damit in spezifischer Weise auch in der Musiktherapie.
Orff’sches Instrumentarium
Carl Orff entwickelte sein Orff’sches Instrumentarium aus ethnischen Instrumenten, die er an die europäische Musiktradition (vor allem bezüglich der Stimmung) anpasste. Die Arbeit mit original ethnischen Instrumenten und ihren besonderen Möglichkeiten und Wirkungsweisen wurde in den 80ern des 20. Jh. entwickelt und immer weiter spezifiziert (s. Strobel/Timmermann 1991; Strobel 1999; Hess 2002). Die Altorientalische Musiktherapie beruft sich explizit auf eine ethnische Tradition (Tucek 1997).
Ansonsten gibt es keinen direkten methodischen Weg vom schamanischen Heilritual zur modernen Musiktherapie, sondern verschiedene geistige und praktische Wurzeln. Hier finden wir hinter uns und um uns herum eine ganze Reihe von Vorgängern, die auch motiviert waren, Menschen zu heilen und dabei in irgendeiner Form Musik als Medium einzusetzen.
Suppan, W. (1984): Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik. Schott, Mainz
Timmermann, T. (1994): Die Musik des Menschen. Gesundheit und Entfaltung durch eine menschennahe Kultur. Piper, München