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8: Der Unfall

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„Und da ist dein Gold drin.“ Sie legte ihre Hand auf seinen Bauch. Gray machte aus Schreck einen Schritt nach hinten. Damals war er schlanker als jetzt, ihre Hand näher an ihm dran. Zu nah. Er spürte, wie einsam sie war.

Ihre Augen wanderten zu seinem Mund. „Und, schon mal darin herumgeschürft?“

Gray wusste nicht, was sie meinte. Er wollte es nicht wissen. Sie waren keine Freunde. Egal, was andere behaupten, sie waren keine Freunde. Er kannte sie kaum. Er verstand sie nicht. Damals nicht, heute nicht. Carmen schüttelte den Kopf und lächelte langsam, bis ihr Mund aufleuchtete. Er hätte ihr nicht vertrauen sollen. Ihr Mund leuchtete auf und sie griff nach ihm. Und dann sah es so aus, als hätte er nach ihr gegriffen und nach dem Gold gesucht. Man kann ihr nicht vertrauen.

Gray dachte tatsächlich für einen Moment, er hätte die Nuss geknackt. Das Geheimnis um Cameron gelüftet. Er dachte, er wusste, wer Cameron ist. Wer er wirklich ist, unter der Perücke, hinter der Sonnenbrille, den permanent umschatteten Augen. Damals, als seine Schwester und Lucinda bei einem Autounfall starben. In der Schweiz, wo sie angeblich Kirchen besichtigen wollten. Er musste nach Genf fliegen, um die Leichen zu identifizieren. Dort trafen sie sich. In einer kleinen Kapelle in den Bergen. Cameron gab sich als Freundin seiner Schwester aus. Verabredete sich mit ihm. Er wollte ihm helfen. Ihn trösten. Nach vier Tagen. Erst nach vier Tagen merkte er, dass Carmen ein Mann ist. Er haute sofort ab. Aber da war es schon zu spät.

Jahre später trafen sie sich wieder. Bei einer Razzia. Cameron lächelte breit, als er Gray sah. Er arbeitete nun für die Polizei, für Grays Einheit. Wie das Leben so spielt. Gray konnte es nicht fassen. Er konnte nicht so tun, als würden sie sich nicht kennen. Er ist kein guter Schauspieler. Und er konnte ihn nicht in Ruhe lassen. Er konnte sich nicht in Ruhe lassen. Und das Übel nahm seinen Lauf. Gray warf Cameron vor, am Unfall mit schuld gewesen zu sein. Cameron verteidigte sich nicht. Aber Gray wusste, er war nicht einmal im Auto gewesen, als es passierte. Er hatte in einer Kirche auf sie gewartet. Die drei waren durch die Schweiz gefahren und hatten sich Kirchen und Burgen angeschaut. Cameron wiederholte seine Version, bis Gray ihm ins Gesicht schlug.

Und das Übel nahm seinen Lauf. Nachdem Gray sich abreagiert hatte, suchte er nach ihm. Er vermisste seine Schwester. Er vermisste Carmen. Es ging weiter. Cameron tröstete ihn. Mit einer Engelsgeduld. Aber er wurde nie wieder zur Frau dabei. Das war vorbei. Endgültig.

Kurz darauf hörte Cameron auf, für die Polizei zu arbeiten. Er verschwand für einige Monate. Gray ließ sich nichts anmerken. Zuhause zerschlug er aus Zorn seinen Spiegel im Bad. Er setzte sich auf die Badewanne und sah zu, wie das Blut auf die staubigen Fliesen tropfte. Dann suchte er das einzige Foto, das er von Carmen hatte. Er hatte sie fotografiert, als sie sich gerade umdrehte. Der Himmel war grau, aber an einer Stelle war ein Loch in der Wolkendecke aufgerissen und ein Sonnenstrahl fiel auf ihr Gesicht. Ihr feuchtes Haar glitzerte unter der Kapuze und sie lächelte ihn an, voller Trotz. Er dachte damals, mit diesem Trotz könnte er alles überleben. Auch den Tod seiner Schwester. Er nahm das Foto und fackelte es in der Badewanne ab. Dann putzte er die Fliesen.

Fast zwei Jahre später klingelte es spät abends. Gray öffnete die Tür. Cameron lehnte an der Wand. Gray warf die Tür zu. Cameron klingelte wieder.

Am nächsten Morgen stand Gray auf und machte sich einen Kaffee. Cameron schlief noch. Auf dem Couchtisch lag ein goldenes Armband, dass Cameron ihm mitgebracht hatte. Geschürftes Gold für den alten Freund, der keiner war. Gray dachte nicht mehr an seinen Bauch. Er starrte in den Rauch, der aus der Tasse stieg, bis ihm die Augen tränten. Ab jetzt würde er hart bleiben. Cameron war ein Fremder, der sich viel zu vertraut anfühlte. Er ging, bevor der Fremde aufwachte.

Er wollte sich nie wieder von ihm trösten lassen. Nicht als Freund, nicht als etwas anderes. Das Armband versteckte er tief in seinem Kleiderschrank.

Fox beißt sich auf die Zunge, als er die Nachricht bekommt. Es ist wie verhext. Alle Spuren scheinen ins Nichts zu führen. Die Zeugin, die sie zwei Tage zuvor festnahmen, ist an diesem Morgen ganz plötzlich gestorben. Die zuständigen Ärzte sprechen von Kreislaufversagen. Eine Autopsie bringt einige Stunden später Licht ins Dunkel: Das Mädchen hatte eine akute Bleivergiftung. Die Gerichtsmedizinerin findet Spuren einer stark bleihaltigen Paste in Mund und Genitalien, die bei der ersten Untersuchung nicht entdeckt wurden. Die Identität von „Blei-Girl“ bleibt ungeklärt. Keiner in dem Haus, in dem sie gefunden wurde, weiß, wer sie ist, und eine Recherche im Vermisstenarchiv führt auch zu keinen Ergebnissen.

Fox presst seine Kiefer aufeinander. Versunken fährt er mit einem Finger über die Fotos des toten Mädchens. So viele Bilder, so wenig Sinn. Sie wäre hübsch gewesen, unter anderen Umständen. Ein bisschen zu blass vielleicht, aber hübsch. Alles an ihr war hell, die Augen, die Haut, das blondierte Haar. Fast durchsichtig sah sie aus, so als wäre sie gar nicht richtig da gewesen. Mit einer Lupe betrachtet er die Details. Blaue Flecken. Abschürfungen. Zarte Tätowierungen. Er erkennt Blumen, Tiere und Gesichter. Ein Auge mit Flügeln kann er nicht ausmachen. Frustriert wirft er die Lupe an die Wand.

Ich sehe die Leiche, ich sehe sie immer wieder, in unterschiedlichen Positionen, immer derselbe Mensch, ich bin die Leiche, die Leiche bin ich.

Der Mann schläft friedlich. Er träumt nicht. Langsam hebt und senkt sich sein Brustkorb. Er wacht nicht auf, als seine Knochen anfangen zu brechen. Als sein Blut in das weiche Leinen sickert, sein Leben in die Matratze tropft. Er weiß nicht, wie ihm geschieht. Jemand legt die Hand auf sein Gesicht und friert sein Lächeln ein. Der Mann ist ohne Lust. Er hat den höchsten Berg erklommen. Er hat den tiefsten Zustand erreicht. Er begehrt nichts mehr. Sein Sinn ist gekommen. Und hat ihn mitgenommen. Kleine dicke Engel jubilieren in einem Strahlenkranz um seinen Kopf. Flinke Hände nehmen ihn auseinander mit Skalpellen, Sägen, Scheren, Messern. Es ist still im Raum. Still und stickig. Der Mann lächelt. Er weiß mehr als sein Mörder. Viel mehr.

Beim Schneiden hört der Mörder auf, ihn zu hassen. Die harte körperliche Arbeit füllt ihn aus. Er ist ruhig und gelöst. Eigentlich hasst er keinen von ihnen. Er mag nur den nächsten Tag nicht. Die aufdringlichen Kopfschmerzen, den süßlichen Geruch unter den Fingernägeln. Sie gehen auf die Reise und er bleibt zurück. So ist das Leben. Einer bleibt immer zurück. Der Mörder ist nicht sentimental. Das verbietet er sich. Als er sich die Hände wäscht, vermeidet er es, in den Spiegel zu sehen. Man sagt, die Züge des Mörders brennen sich ein in die Augen des Ermordeten. Oder in einen Spiegel in der Nähe. Er ist nicht abergläubisch. Was ihm Angst macht, ist sein eigener Blick.

Erst der Kopf. Die kleine Säge macht ein schnappendes Geräusch. Ihr Schnurren übertönt das schwerfällige Blubbern, mit dem sich das Blut nach draußen kämpft. Er bemüht sich, keine Fontänen auszulösen. Die große Kunst ist, den Körper auch nach dem Tod noch zu kontrollieren. Er schneidet in sickernden Mustern. Zarte Linien überziehen seine Leinwand. Das Werk nimmt Gestalt an. Auf den Kopf folgen die Hände. So will es der heilige Prozess. Er legt das Gebiss an. Beißt in den Schenkel. Ordnet die Glieder an, wie im Halbschlaf. Er weiß nicht, wie glücklich er ist. Routine. Ritual. Innere Stille. Er wartet seine eigenen Bewegungen ab, denkt nicht über den nächsten Schritt nach, legt ein Teil neben das nächste. Führt die Hand, führt den Pinsel, arrangiert die Bühne. Er weiß nicht, wie glücklich er ist. Glück ist für Verlierer. Für ihn zählt nur die Ekstase. Der Moment, in dem die Zeit stillsteht. In dem sie keine Macht mehr über ihn hat.

Der Mann auf dem Bett ist kein Mensch mehr. Er ist ein Tatbestand. Eine Situation. Zweiunddreißig Fotos in einer Akte. Ein Akt für sich. Ein Akt in einer Serie. Doch ist er mehr als ein bloßes Kunstwerk. Er ist das Leben selbst. Oder das, was sein Mörder daraus machen will. In seinem Tod sieht er das erste Mal aus wie das blühende Leben. Sein fruchtbarer Saft ist überall. Auf dem Bett. Auf dem Boden. An den Wänden. An den Möbeln. Sein furchtbarer Saft riecht nach Leben und treibt dem Mörder Tränen in die Augen. Das einzige, was zählt, ist das Leben. Das ewige Leben. Der Körper des Mannes ist ein Bild des Schreckens. Jeder kann sehen, dass er nicht mehr hier ist. Jeder. Außer dem Mörder.

„Ich bin der Sturm. Ich bin die Stimme. Ich bin der, auf den ihr wartet. Ohne mich kein Leben. Ohne mich kein Leid. Ohne mich keine Unsterblichkeit.“

Als er fertig ist. Als er den Raum verlassen hat, sauberer als je zuvor. Als er dem Mann im Aufzug zunickt und zurück in die Tiefgarage fährt, sein Spazierstock akkurat neben seinem rechten Fuß. Als er auf dem Weg nach Hause ist, fühlt er die Müdigkeit. Der bekannte Druck danach. Die drohende Depression. Der Gott kommt und geht, wie es ihm passt, aber gnade ihm Gott, wenn er sich nicht im Griff hat. Er hat sich im Griff. Pfeifend greift er sich in den Schritt.

Meine Fantasien sichern mein Überleben, denn man überlebt nur in der Fantasie, im Wachzustand ist der Spaß irgendwann vorbei, wie soll ich orakeln, wenn ich den Tod noch nie bewusst erlebt habe? Osiris sah seine Gliedmaßen und wurde zum Gott der Götter, die Weissagung musste sich bewahrheiten, damit es so etwas wie Wahrheit geben konnte, im Wachzustand ist der Tod näher als die Wahrheit.

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