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6: Narben

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Ich erinnere mich, ich stand vor dem Spiegel und betrachtete mich, ich sah aus wie immer, es war da, aber ich sah es nicht, es hatte sich versteckt. Wenn sich der Tod versteckt, versteckt sich das Leben genauso? Now you see it, now you don’t.


Nach der Mittagspause sitzen Sophia und Gray träge an ihren Schreibtischen. Sophia blättert in der Zeitung. Gray starrt vor sich hin und massiert sein Handgelenk. Er hat inzwischen so offiziell mit dem Rauchen aufgehört, dass er sich vor Sophia keine mehr anstecken kann. Nun tropft die zigarettenlose Zeit zäh und einförmig dem Feierabend entgegen. Sophia legt die Zeitung weg und spricht endlich aus, was beiden schon den ganzen Tag durch den Kopf geht. „Wir müssen Cameron finden.“

Gray braucht mehrere Sekunden, bis er ihre Worte registriert. Bis er registriert, dass sie es endlich ausgesprochen hat. Er erinnert sich an seinen Kaffee, nimmt einen Schluck und nickt.

„Du weißt, wo er wohnt, oder?“

Gray verschluckt sich, schüttelt den Kopf. „Keine Ahnung. Ich meine, ich weiß, wo seine Ex-Freundin wohnt, aber ...“

Sophia wirft ihm einen langen Blick zu. Der Sturm naht. „Du schützt ihn.“

„Wen? Cameron?“

„Du schützt ihn.“

„Mach mal langsam. Wir wissen, dass er nicht der Mörder ist. Er hatte bis jetzt für jeden Mord ein Alibi. Wenn er irgendetwas mit der Sache zu tun hat, bin ich der Erste, der ihn festnimmt.“

„Jack, tut mir leid, aber das glaube ich nicht. Ich weiß, ihr seid befreundet und …“

„Sind wir nicht!“

„Und er hat dir das Leben gerettet, oder das deiner Schwester oder was weiß ich, aber du musst jetzt mal den Tatsachen ins Auge sehen. Er wurde an den meisten Tatorten gesehen. Er kommt nicht zu Vorladungen. Weigert sich, mit uns zu sprechen. Er war schon nicht besonders zuverlässig, als er noch für uns gearbeitet hat, aber jetzt …“

„Er kann die Morde nicht ausgeführt haben. Nicht allein. Nicht auf diese Weise. Er ist natürlich unzuverlässig und nicht richtig ... keine Ahnung, seriös, aber… Er hat viele Probleme, Sophia, aber er bringt keine Leute um. Ganz sicher nicht.“

Sophia stützt den Kopf auf und sieht ihn an. Gray merkt, dass es regnet und er steht auf, um das Fenster zu schließen. Der Himmel ist blass und leblos. Im Gebäude gegenüber steht eine ältere Frau am offenen Fenster und raucht. Als sie merkt, dass er sie anschaut, steckt sie die Zigarette zwischen die Lippen und schließt das Fenster. Er dreht sich wieder zu Sophia um. Sie sieht ihn noch immer an. Zwischen ihren Augenbrauen zittert eine kleine Falte. „Probleme? Das kann ich mir vorstellen. Mein Problem ist, dass er uns nicht alles sagt, was er weiß. Ich bin mir sicher, er kennt die Gerüchte, die in der Szene herumgeistern. Er weiß, was sich die Leute erzählen. Und er kennt vielleicht diesen Typen, der an den Tatorten aufgetaucht ist.“

„Das werde ich ihn fragen, sobald ich ihn in die Finger kriege, ehrlich, ich ...“

„Wir werden ihn gemeinsam befragen. Und wir werden ihn fragen, was er über Fiordia weiß.“

„Warum soll er was über Fiordia wissen? Ich dachte, wir sind uns einig, dass die Fiordia-Fährte falsch ist. Dass es eigentlich um was ganz anderes geht.“

„Und um was geht es deiner Meinung nach?“ Sophia starrt Gray so lange an, bis er wegsieht.

„Wie wäre es mit einem politischen Motiv? Geschäftsleute wollen hier investieren. Irgendeine radikale nationalistische Organisation hat Angst vor dem Fremdeinfluss. Sie bringen die Leute um und lassen es nach einem Serienkiller aussehen.“

„Du denkst an organisierten Terror? Warum übernimmt keiner dafür die Verantwortung? Es gibt keine Bekennerschreiben.“

„Ja, aber ...“

„Außerdem waren mindestens drei oder vier der Opfer Touristen ohne geschäftliche Interessen. Jack, ein politisches Motiv bringt uns genauso wenig weiter wie ein religiöses. Wir tappen einfach im Dunkeln. Und wenn Cameron uns helfen kann, Licht da hinein zu bringen, dann wird er das tun. Das verspreche ich dir.“

Gray versinkt in seinem Stuhl und schaut aus dem Fenster. Es dämmert und der Regen macht ihn schläfrig. Er denkt an die Frau gegenüber, an ihren ertappten Blick. Er versucht, ein Motiv zu finden, irgendetwas, was sie weiterbringt. Aber er bringt keinen einzigen Gedanken zu Ende. Kann man irgendetwas je zu Ende denken? Haben Gedanken überhaupt einen Anfang und ein Ende, eine lineare Geschichte? Bevor er die Frage beantworten kann, flackert eine neue Idee auf: Was, wenn es gar kein Motiv gibt? Er verwirft den Gedanken. Es gibt für alles Gründe. Für alles. Auch wenn er jetzt nicht darauf kommt. Er spürt ein leichtes Kratzen im Hals, Vorbote eines schlechten Gewissens. Morgen wird er den Schal vergessen. Übermorgen wird er Schnupfen haben.

Am nächsten Morgen kommt Gray zwei Stunden zu spät ins Büro. Er nickt seinen Kollegen zu und geht schnell zu seinem Schreibtisch. Mit einem Kaffee in der Hand lässt er sich auf seinen Stuhl fallen. Der Kaffee schwappt über. Er flucht leise. Er hätte im Bett bleiben sollen. Er macht den Computer an und checkt seine Mails. Er hofft, eine enorme Konzentration auszustrahlen. Eine Konzentration, die es den anderen verbietet, ihn anzusprechen.

Er runzelt die Stirn. 20 Mails seit gestern. Davon über die Hälfte Spam. Er liest jede einzelne durch. Er ist konzentriert, er hat viel zu tun. Der Tag beginnt zäh und langsam, er bleibt auf halber Strecke stecken. ... announcements become it, in person If a withdraw intersecting to repression Reality … Er merkt nicht, wie ihm die Augen zufallen. … social up and cross-sectional ... Er zuckt zusammen, als ihm der Kopf nach vorne fällt. Schnell sieht er sich im Raum um. Alle schauen auf ihre Bildschirme oder in Akten. Niemand sieht zu ihm herüber. Er gähnt und vertieft sich wieder. Manche dieser Mails sind wirklich lustig. Who became alternate communication different for the there, guts ways the make maat industries always idea economic or sum crowd, to it idea everything up Reality. Mind parts liberally as questions, create electronic that of Offline citizen-to-citizen the perception every it, cognitively, into void … Er öffnet die Augen. Jemand steht neben ihm. Fox.

„Na, gut geschlafen? Wir hatten ein Meeting vor über einer Stunde, falls du dich erinnerst. Nein? Vielleicht schaffst du’s ja jetzt, dich von deiner Arbeit ...“ Bevor Gray wegklicken kann, bleiben Fox’ Augen an der geöffneten Mail hängen. „Zu lösen. Ich weiß zwar nicht, was du da gerade tust, aber ich hoffe für dich, dass es etwas mit den Ermittlungen zu tun hat. Ich warte auf euren Bericht. Und zwar jetzt.“

Fox dreht sich um und geht in sein Büro. Gray folgt ihm mit. Seine Müdigkeit ist schlagartig verflogen. Sophia wartet schon. Mit überschlagenen Beinen sieht sie abwesend aus dem Fenster. Als Fox und Gray eintreten, setzt sie sich auf und versucht zu lächeln. „Morgen, Jack.“

„Morgen ist gut.“ Fox sieht auf die Uhr. „Obwohl Jack ganz danach aussieht. Hast du deinen Rasierer verloren? Na, mir soll’s egal sein. Kommen wir zur Sache. Was gibt’s Neues?“

Sophia verschränkt die Arme. „Wir haben vielleicht einen Anhaltspunkt, was den Kettenanhänger angeht, den wir bei dem letzten Opfer gefunden haben.“

Fox nickt, seine Hände in der Gebetshaltung verschränkt. „Und?“

„Nun ja, Warren von der Forensik meint, der Anhänger könnte ein mittelalterliches Symbol sein.“ Sie zieht ein paar Fotos und Kopien aus einer Mappe. Auf den Fotos ist der Anhänger zu erkennen, gereinigt im Labor und so, wie sie ihn gefunden haben, blutig am Hals des Opfers. Auf den Kopien sind zart gestrichelte Zeichnungen zu sehen. Gray erkennt auf den ersten Blick Herze, Kreise, Schriften, Worte, die er nicht entziffern kann. Geometrische Formen. Und, tatsächlich, immer wieder das geflügelte Auge.

„Ich habe mich erkundigt und herausgefunden, dass dieses Auge entweder als Symbol für Gott benutzt wurde, oft in Verbindung mit einer Pyramide, oder auch für die Seele.“ Sie atmet tief ein. „Interessanterweise habe ich dieses Symbol auch in den alten Fiordia-Akten entdeckt. Es wurde bei einigen Selbstmördern gefunden. Als Schmuck oder Tätowierung.“

Fox nickt. Er erinnert sich an die Graffitis, die damals immer wieder auftauchten, in den Lagerhallen und Wohnungen, wo man die Leichen fand. „Somit gehst du also doch davon aus, dass die Sekte involviert sein könnte.“

Sophia seufzt. „Wir gehen jeder Spur nach. So wie du es gewünscht hast.“

„Ich wünsche mir, dass es für euch selbstverständlich ist, jeder Spur nach zu gehen, in Herrgottsnamen!“ Fox’ Stimme wird wieder leiser. Er weiß, dass er den Bogen nicht überspannen darf. Er muss die beiden so unter Druck setzen, dass sie spuren, ohne panisch zu werden. Er nimmt sich vor, seine Ungeduld im Zaum zu halten. Langsam zählt er bis 333.

Wir ziehen ihn, wie es uns gefällt, manch einer hat Gefallen daran gefunden, wir ziehen ihn über den Stein und schinden ihn, schänden ihn und hängen ihn mit einem Bein an den Baum. Wir schänden ihn, bis er lächelt, bis der Kopf leuchtet, bis der Leib aus dem Mund herausleuchtet. Fleisch und Blut, Blut und Fleisch, bis dass der Leib leuchtet.

Auch an diesem Morgen wartet das gefräßige Monster Zeit geduldig unter dem Kopfkissen, bis sich Gray endlich entschließt, das Haus zu verlassen und in den freien Tag zu flüchten. Die Luft ist drückend, es regnet, ohne zu regnen, und die ausgewaschene Stadt legt sich wie ein Schleier über die Augen. Durch einen Zufall (er steigt in den falschen Bus) findet er sich im Äußeren Ring wieder. Er geht ziellos am Ufer entlang, auf der nördlichen Seite des Flusses, und sieht den Massen von Raben zu, die die kahlen Bäume mit ihren zuckenden Flügeln bedecken. Als er auf der anderen Seite einen Buchladen entdeckt, überquert er die stark befahrene Straße und bleibt vor dem Schaufenster stehen. Er weiß nicht, was er hier sucht, doch seine Augen bleiben sofort an einem Buch hängen, auf dem eine halbnackte Frau zu sehen ist. Sie trägt hohe schwarze Stiefel und steht breitbeinig vor einer weiß gefliesten Wand. An ihrer Hand hat sich ein kleiner Hund festgebissen und hängt frei schwebend in der Luft. Die Frau schaut mit einem entrückten Blick in die Kamera.

Gray geht in den Laden und fragt nach dem Buch. Die Verkäuferin zeigt stumm auf einen Stapel neben dem Eingang und versteckt sich wieder hinter dem Computer. Gray fährt mit dem Finger über den obersten Band. Im Umschlag ist ein Name eingraviert. Nephthys. Unter dem Bild steht der Name des Verlags. Gray schlägt den Band in der Mitte auf. Langsam blättert er die Seiten um, fährt mit dem Zeigefinger über matt schimmernde Portraits von körperbehinderten, verletzten oder krank aussehenden Menschen. Gray hasst Betroffenheitsfotografie, doch diese Bilder sind anders: Die Menschen strahlen trotz ihrer offensichtlichen Gebrechen und Schwächen eine fast schon unheimliche Stärke aus. Ein alter Mann, der sich auf einen Stock stützt und seinen Beinstumpf schräg abspreizt. Eine Frau im Rollstuhl, auf ihrem Schoss eine Handvoll Hamster. Ein nacktes Paar, das sich an den Händen hält, auf ihren Körpern eine zusammenhängende Landschaft von Narben und verbranntem Gewebe. Sie schauen den Betrachter herausfordernd an, zeigen ihre Körper mit einer geradezu obszönen Arroganz. Stolz stehen sie vor der Kamera und präsentieren ihre Prothesen und Krankheiten mit einem wissenden Blick, als würden sie sagen: Nichts ist sicher. Morgen könntest du einer von uns sein. Verwirrt legt Gray den Band wieder zurück und verlässt den Laden, ohne sich zu verabschieden.

Als er wieder auf der Straße steht, beschließt er, bei Chinchilla vorbeizuschauen. Vielleicht kann sie ihm sagen, wo Cameron steckt. Als er vor ihrer Tür steht, fragt er sich, wie lange er sie schon nicht mehr gesehen hat. Ob sie überhaupt noch hier wohnt? Ob sie zu Cameron noch Kontakt hat? Nach anfänglichem Zögern klopft er. Heute ist sein freier Tag. Er kann tun und lassen, was er will. Als er Schritte hört, hebt er den Kopf und zieht die Schultern nach hinten. Die Tür öffnet sich. Und Cameron steht vor ihm. Er zuckt zusammen. Damit hat er nicht gerechnet. Er bereut seinen Spontanbesuch sofort. Cameron wirkt nicht überrascht. Er grinst ihn an mit einer Zahnbürste im Mund und zieht ihn in die Wohnung. Chinchilla ist arbeiten.

Gray setzt sich ins Wohnzimmer und spielt mit einem kleinen Messer. Die Vorhänge sind zugezogen. Um ihn herum stehen halbverpackte Möbel, Kisten und Taschen. Viel hat sich in den zwei Jahren, seit Chinchilla hier wohnt, nicht verändert. Die meisten ihrer Sachen sind noch immer in Kisten und Gray erinnert sich, dass sie eigentlich sofort wieder ausziehen wollte. Das hatte sie gesagt. Und dass sie sich von Cameron trennen wollte. Das hatte sie auch gesagt. Er bricht mir das Herz, waren ihre Worte, als sie sich das letzte Mal sahen. Das war vor mindestens einem Jahr.

Gray versucht, nicht in Richtung Küche einzuatmen. Es riecht hier schlimmer als in seiner eigenen Wohnung. Doch als Cameron hereinkommt, frisch geduscht und mit einem Handtuch um die Hüften, ist der Geruch und das Dämmerlicht vergessen. Gray geht ein Licht auf und die Dinge um ihn herum bekommen Konturen, werden unangenehm scharf. Er weiß für einen Augenblick, was sein Problem ist, und dass Cameron es skrupellos ausnutzt.

Als Cameron sich aufs Sofa fallen lässt und nach dem Tabak greift, platzt ihm der Kragen. Er haut das Messer in die Tischplatte und steht auf. „Ich kann es nicht fassen, dass du mich so hängen lässt. Du weißt ganz genau, wir brauchen dich für diesen Fall, Scheiße, wir haben schon elf Tote, und du rufst nie zurück!“

„Elf Tote, und ich rufe nie zurück?“

„Hör auf, mich zu verarschen. An jedem Tatort taucht jemand auf, der zufälligerweise so aussieht wie du. Sophia wirft mir vor, ich würde dich schützen. Wenn’s nach ihr ginge, wärst du schon längst vorgeladen worden. Fox macht mir die Hölle heiß und ... Hörst du mir überhaupt zu?“

Cameron nickt und hustet. Dann hält er Gray den Joint hin. Gray schüttelt den Kopf. „Weißt du eigentlich, wie nah du an einer Verhaftung bist? Wenn ich nicht wäre ...“ Er setzt sich auf das Sofa und inhaliert tief. „Wenn ich nicht wäre ...“ Er hustet. Cameron dreht sich auf den Rücken und grinst.

Gray fängt sich wieder. „Du musst mir sagen, was los ist. Ich kann dich nicht mehr in Schutz nehmen. Sogar Sophia …“

Cameron zieht eine Augenbraue hoch. „Was ist mit ihr?“

Gray gibt ihm den Joint zurück und schließt die Augen. „Ich weiß nicht mehr weiter. Wir brauchen dringend einen Verdächtigen und Sophia geht davon aus, dass du was mit der Sache zu tun hast. Ich kann dich nicht mehr verteidigen, wenn du mir nicht hilfst. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr sagen soll. Kannst du mir sagen, wo du letzten Dienstag warst? Zwischen acht Uhr abends und zwei Uhr nachts?“

„Ungern. Aber wenn es für dich wichtig ist … Ich war bei Manasse.“

„Mylor Manasse?“

Cameron nickt.

Gray schließt die Augen. „Das darf nicht wahr sein. Den können wir da nicht reinziehen. Fox wird durchdrehen, wenn er davon was mitkriegt. Andererseits … Kannst du mir die Adresse geben? Vielleicht kann ich das nebenbei erledigen.“

Cameron zuckt mit den Schultern und nennt ihm die Adresse. Dann zieht er Gray an sich. Gray merkt, wie er weich und durchlässig wird. Halberinnerte, halb fantasierte Bilder schieben sich einen Moment lang in sein Bewusstsein. Er reißt sich los und verabschiedet sich. Cameron ist schlimmer als Drogen. Und er weiß es.

Wer stirbt, der bleibt, wer lebt, der wird vergessen. Die Ewigkeit kommt nicht von allein, man muss sie sich erkämpfen.

Cameron bleibt auf dem Sofa sitzen und starrt an die Wand, bis Chinchilla nach Hause kommt. Sie sieht sofort, dass er allein sein will. Sie setzt sich in die Küche und knetet ihre Finger, einen nach dem anderen. Sie stellt sich vor, wie sie ihre Kunden abstreift, die verschiedenen Körper aus den Händen schüttelt. Sie macht den Job schon lange und kann damit umgehen. Doch in letzter Zeit fühlt sie sich immer ausgelaugter. Vergiftet von den Emotionen ihrer Klienten. Vergiftet von ihrem eigenen Anspruch, in jeder Sekunde professionell und emotionslos zu bleiben.

Durch die geöffnete Tür sieht sie Cameron, der sein Leben so scheinbar leichtfüßig und unbedarft meistert. Sie sieht, wie er regungslos auf dem Sofa kauert und ins Leere schaut. Sie weiß, dass er gerade versinkt. Und dass sie nicht hinterher tauchen kann. Sie geht zu ihm, zögerlich, und setzt sich neben ihn. Schüchtern berührt sie seine Hand, fährt mit den Fingerspitzen die Haut bis zum Ellbogen hoch. Er schließt die Augen und sie befürchtet für einen Moment, dass er wütend wird, sie abschüttelt. Doch er lässt nur den Kopf hängen. Sie nimmt ihn in den Arm.

Später, als sie erschöpft neben ihm liegt und mit ihrer Hand durch sein Haar fährt, Strähne für Strähne ins Licht hält, hat sie eine Vorahnung. Sie wird ihn bald verlieren. Sie denkt an den grauhaarigen Mann, der vor kurzem vor ihrer Tür stand und nach Cameron fragte. Sie ahnt, dass ihr jetziges Leben bald vorbei sein wird. Sie wurden aufgespürt. Sie wird versuchen, bei ihrer Schwester unterzutauchen und sie hofft, dass Cameron mitkommen wird. Doch die Chancen stehen schlecht: Der Sturm wird kommen und nichts wird übrig bleiben. Seit ein paar Tagen kann sie die Angst schmecken, egal, wie oft sie sich die Zähne putzt.

AM SEE:

Nebel zieht vom Tal in die Berge und lässt die kleine Kapelle im Dunst verschwinden. Ein Auto schlingert viel zu schnell um die Kurven und hält mit einer Vollbremsung vor der Kirche. Der Fahrer steigt aus und rennt zur Kapelle. Er rüttelt erfolglos am Haupteingang, dann geht er schnell um das Gebäude herum und findet einen Nebeneingang. Er betritt die Kapelle. Er braucht einige Sekunden, bis sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt haben. Auf dem Hauptaltar und links daneben brennen Kerzen. Es riecht nach Weihrauch und Styrax. Vor dem kleinen linken Altar kniet eine Frau und betet. Sie ist nicht allein. Auf der Bank hinter ihr sitzt noch jemand, verborgen in der Dunkelheit. Er geht auf die Frau zu, legt seine Hand auf ihre Schulter, dreht sie um. Sie fällt vor ihm aufs Gesicht. Er bricht weinend zusammen.

LIFE KILLS

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