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4: Der Sprung

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Der Mann, massiv, aber wendig, fährt mit einer ausladenden Geste über den Schreibtisch. Tassen klirren, Stifte rollen, Papiere flattern. Fox ist gereizt. Seine Ungeduld hängt wie kalter Nebel zwischen ihm und Gray und Sophia, die schweigend vor ihm sitzen. Gray blickt auf den Boden. Dann zu Sophia. Dann wieder auf den Boden. Jede falsche Bewegung kann unangenehme Folgen haben. Er hat in diesem Raum schon zu viele Dinge fliegen sehen, um dieses Risiko einzugehen.

Fox lockert seine Krawatte. Die Fakten sind beunruhigend. Sein Gesicht ist rot. Elf Morde nach demselben Muster. Fox atmet tief aus. Elf Touristen und Geschäftsreisende wurden in ihren Hotelzimmern abgeschlachtet, neun davon in mehrere Teile zerlegt. Er atmet tief ein. Das Gemetzel, die Verwüstung der Zimmer von Tat zu Tat schlimmer. Er zählt innerlich bis fünf und atmet wieder aus. Und jetzt noch Fiordia. Er kratzt sich am Hals und zählt weiter.

Sophia räuspert sich. „Jack und ich sind der Meinung, dass …“

„Ja?“ (Eins, zwei, drei, vier, fünf)

„Also, wir denken, dass der Mörder, oder die Mörder, es könnten ja auch mehrere sein …“ (neun, zehn, elf, zwölf), „dass der Mörder uns auf eine falsche Fährte locken will. Die Zeichen sind zu gewollt, zu …“ Sie wirft Gray einen Hilfe suchenden Blick zu. Er sitzt zusammengesunken neben ihr, seine Augen halbgeschlossen.

„Zu offensichtlich. Die Hieroglyphen, die Graffitis …“

„Offensichtlich? Was meinst du mit offensichtlich? Wissen wir, was sie bedeuten? (siebenundzwanzig, achtundzwanzig, achtund …, verdammt …)“

„Noch nicht. Aber ...“

Fox atmet tief aus. Das Zählen wird ihm zur Qual. Er rutscht nach vorne. Seine Hand greift zur Wasserflasche. Plastik. Gut. Scherben wurden ihm verboten. Er atmet tief ein. „Was aber?“

„Wir glauben, das bedeutet nichts. Der Täter erwähnt Fiordia nur, um uns zu verwirren.“

„Wieso können wir eine Verwicklung der Fiordia-Sekte völlig ausschließen? Habt ihr dafür Beweise? Und was bedeuten diese ganzen Graffitis überhaupt? Leute, wie wäre es, wenn ihr noch mal die Kryptologen einschalten würdet? Nur so ein Tipp von mir.“ Er lässt sich zurück in den Stuhl fallen und drückt die Flasche an die Brust. Jetzt nicht komplett die Nerven verlieren. Nur ein bisschen. Er sieht, wie Sophia den Mund verzieht. Wie er diese Trotzigkeit hasst.

Sophia beißt sich auf die Lippe: Sie glaubt nicht an eine Fiordia-Verschwörung. Fox starrt seine beiden Ermittler an. Gray versinkt tiefer im Stuhl. Fox’ Stimme wird leiser. „Was soll das sein, Jack? Sekundenschlaf?“

Sophia schubst ihren Kollegen an. Als Gray nicht reagiert, nimmt sie einen tiefen Atemzug. „Noch was. Die Indizien häufen sich immer mehr und wirken so ... arrangiert. So, als würde der Täter einer bestimmten Dramaturgie folgen. Wir wissen nicht, wohin uns das noch führen wird, aber ich denke, der nächste Mord ist schon geplant.“

Fox zieht eine Grimasse, die Flasche zittert. Er flüstert, immer noch kontrolliert. „Umso wichtiger, dass wir endlich Fortschritte machen. Dass ihr endlich vorankommt. Jack? Folgst du mir? Bist du noch da? Hallo?“

Dann geht alles ganz schnell. Gray wird sich später nicht mehr genau erinnern können, ob er zuerst den Aufprall gehört oder gefühlt hat. Jedenfalls ist er plötzlich nass. Und Fox sitzt nicht mehr hinter dem Schreibtisch, sondern springt neben ihm auf und ab. So schnell, wie der Ausbruch begann, ist er auch schon zu Ende. Sophia und Gray sehen konzentriert auf ihre Hände. Gray kratzt sich heimlich unter dem nassen Stoff am Schenkel. Fox setzt sich wieder hinter den Schreibtisch und sagt, als sei nichts passiert: „Und ist der Verdächtige dieses Mal wieder gesichtet worden?“

„Vage Andeutungen des Liftboys. Sonst hat ihn niemand gesehen.“

„Niemand hat irgendwas gesehen oder gehört? Leute, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!“ Fox schüttelt den Kopf. Sophia und Gray werfen sich einen Blick zu.

Fox fährt fort, „Der Täter verabreicht den Opfern ein Beruhigungsmittel, so viel wissen wir. Danach tötet und zerteilt er sie. Und das recht fachmännisch. Und schnell. Der Täter muss kräftig sein, wenn er das so sauber hinkriegt. Was denkt ihr?“

Gray räuspert sich. „Vielleicht ist der Verdächtige ein Lockvogel, der später andere ins Zimmer lässt.“

„So, so. Interessante Theorie, Jack. Wie auch immer. Schneider sitzt mir im Nacken. Es wäre schön, wenn ihr nächste Woche mehr Infos hättet. Und ich meine damit nicht eine neue Leiche.“ Fox’ Stimme wird leiser und sein Kopf verschwindet in einer Schublade. Sophia macht eine kurze Kopfbewegung zur Tür und beide verabschieden sich schnell.

Wir gehen in die Sterne, weil wir nicht anders können, nichts anderes macht mehr Sinn, wenn du es einmal getan hast. Es ist kein Zwang, es ist ein Ausweg, der einzige Ausweg.

Wann fing es an? Wann hörte es auf? Am Anfang waren es nur vereinzelte Randnotizen. Ungeklärte Todesfälle im Äußeren Ring der Stadt. Scheinbar ohne Zusammenhang. Zwei Menschen verbrannten sich auf der Straße, während Passanten hilflos zuschauten. Drei Jugendliche wurden tot in einem Keller gefunden, vergiftet. Andere stürzten sich zu Tode. Sie hinterließen keine Abschiedsbriefe, ihre Motive blieben im Dunkeln. Schnell wurden sie wieder vergessen. Doch dann schwappte eine Welle von Massenselbstmorden in ein Sommerloch und sorgte für Medienhysterie: Die Polizei fand an einem einzigen Wochenende 28 Tote in einer Wohnung und vierzehn Leichen in einem Lagerhaus. Das machte die Randnotiz über Nacht zu einer Schlagzeile, den vereinzelten Fall zu einem Phänomen. Tragisch und verstörend, aber auch faszinierend. Zumal immer häufiger ein Name kursierte, ein mögliches Motiv: Fiordia.

Im lokalen Dialekt bedeutete das Wort damals so viel wie „Gott in mir“ und beschrieb alles Mögliche, von religiöser Verzückung bis zum banalen Vollrausch. Bald jedoch stand der Begriff nur noch für die Sekte, die hinter den Selbstmördern vermutet wurde. Waren es Apokalyptiker, die das Ende der Welt prophezeien oder provozieren wollten? Das Gros der Opfer war jung. Zu jung für den Tod, zu arm und ungebildet für ein Leben jenseits des Äußeren Rings. Eine Tragödie, an der sich nicht wirklich etwas ändern ließ. Und die nach anfänglicher Bestürzung auch schnell wieder zur Randnotiz schrumpfte. Die offene Wunde, die Fiordia gerissen hatte, verkrustete, bevor geklärt werden konnte, was tatsächlich dahinter stand. Warum so viele Menschen sich für den Freitod entschieden, ohne sich zu erklären. Der Tod an sich war die Botschaft, und das machte Fiordia zu einer radikal individualistischen Angelegenheit, zu einer mysteriösen Massenpsychose am Rande der Gesellschaft.

Zehn Jahre später war Fiordia zum Mythos geworden, zu einer historischen Fußnote in einer geteilten Stadt. Ihre Ursprünge und Motive blieben im Dunkeln. Suchten die Mitglieder im Tod eine „Vereinigung mit Gott“, einen ekstatischen Extremzustand, der sie aus ihrem Elend befreite? Auch war unklar, ob sich die gesamte Sekte das Leben genommen hatte oder nur einzelne Mitglieder. Die Gründer blieben gesichtslos, es gab keine Informationen, die darauf schließen ließen, dass die Selbstmorde abgesprochen waren, oder dass die Sekte auf irgendeine Weise weiterlebte. Das Einzige, was als erwiesen galt, waren die knapp achtzig Suizide, die mit Fiordia assoziiert wurden, weil der Name entweder bei den Leichen auftauchte oder weil die Selbstmorde zeitlich und räumlich gesehen ins Raster passten. Davon hatten sich die meisten vergiftet, einige wenige verbrannt, erhängt oder selbst gekreuzigt, andere waren in den Tod gesprungen.

Sophia erinnert sich noch an die Fernsehbilder: Zwei Schatten, die sich händehaltend von einem Hochhaus hinunterstürzten, in eine Menge von Zuschauern, die ihnen sprachlos entgegen sah. Auf dem Dach die dunklen Umrisse der zurückgebliebenen Feuerwehrleute, die sie nicht mehr aufhalten konnten. Damals nahm Sophia die Tat weniger als einen Akt der Verzweiflung oder Verzückung, sondern vielmehr als eine Art Performance wahr. Als die beiden nach ihrem Sprung, ein leichtfüßiger Tanz in Sophias Augen, nicht mehr aufstanden, erwischte der Schock sie eiskalt. Die Realität des Todes riss sie aus ihrer Fantasie mit Bildern, die ihr noch Jahre nachgehen sollten. Zwei Jahre danach begann sie ihre Polizeiausbildung. Und nun, fast acht Jahre später, verfolgt der Todessprung sie erneut.

Sophia und Gray sichteten das gesamte verfügbare Videomaterial über die Selbstmorde: Über 40 Stunden Nachrichtenberichte, Interviews, Amateuraufnahmen. Auch die Hochhausspringer sprangen wieder, in den verwackelten Bildern eines aufgeregten Katastrophentouristen. Und wieder erschien es Sophia, als tanzten die beiden wie Superhelden durch die Luft. Und wieder zuckte sie zusammen, als sie unten liegen blieben, während die Kamera an den Füßen der Umstehenden hängen blieb. Sie sah die Gesichter der Toten nicht, aber sie war sich sicher, dass die beiden lächelten. Und sich noch immer an den Händen hielten.

AM SEE:

Die beiden Männer verließen den Raum nicht. Zimmerservice. Minibar. Do Not Disturb. Es regnete in Strömen. Der See lag mit gekräuselter Oberfläche direkt vor dem Fenster. Sie verschanzten sich gegen die nasse Kälte im Hotelzimmer und ließen die Tage und Nächte vorbeiziehen, abwechselnd grau und schwarz, verwaschen, ohne Konturen. So, als habe sich ein Ball dämmender Watte um sie gelegt, um ihre Sinne und Bewegungen. Die Geräusche verschwanden im Nebel. Die Farben verblichen in der Feuchtigkeit. Alles, was die Männer noch sehen konnten, waren sie selbst. Der eine war bei einem Unfall gestorben. Ein Wiedergänger. Ein Inkubus. Ein bösartiges Geschwür, das sich Stunde um Stunde fester in den anderen verkeilte. Dieser wiederum verkroch sich in seiner Trauer. Er hatte seine Schwester verloren und sich in ihr. Der Wiedergänger hielt die Zeit für ihn an, versteckte sie im Nebel, befreite ihn von sich selbst. Der Trauernde wusste es noch nicht, aber er würde den Nebel mitnehmen.

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