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9: Der Nachtmahr

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Das Böse hat keinen Namen. Das Böse kennt keine Verantwortung. Es nimmt keinen Urlaub, es macht keine Pause. Es lauert auf den perfekten Augenblick. Dann schlägt es zu. Heute sitzt es neben Sophia auf dem Sofa und hat seinen schweren Arm um sie gelegt. Es flüstert. Worte, die sie wie Blei in die Kissen drücken. Das Böse flüstert vom Mangel, von dem, was dahinter ist, und von dem, was dort anfängt, wo die Leere zu Ende ist. Die kleine depressive Verstimmung, unruhig und voller Untiefen, ein hoffnungsloser Druck aus dem Irgendwo sitzt neben Sophia und sieht sie schräg an. Sie seufzt auf und schon sitzt es auf ihr drauf, wie eine fette Stubenfliege. Sophia sinkt in sich zusammen. Sie kennt die Antworten. Sie kennt die Techniken, die Verteidigungsstrategien, die Gegengifte. Doch das Böse hat ihr alles weggenommen und ihr ein Glas Wein in die Hand gedrückt. Sitzen und trinken. Das Böse ist in seinem Element. Da klingelt das Telefon.

Gray pöbelt sofort los: Was sie sich einbildet, mitten in der Ermittlung falsche Fährten zu legen, nichts ist erwiesen, im Gegenteil, alles war offen gewesen, und nun ist es aussichtslos. Sie werden nie herausfinden, was wirklich passiert ist. Die Wahrheit wird im Dunkeln bleiben. Der Fall wird eingestellt, Cameron kommt in Haft, der Mörder bleibt auf freiem Fuß. Die „Wahrheit“ schon wieder. Sophia legt mitten im Satz auf. Dann greift sie lustlos zur Fernbedienung und hofft auf Talkshows, auf bunte, laute Menschen, die mit ihren bizarren Problemen ihren eigenen Zustand erträglicher machen. Sie zieht den Bademantel fester zu und sinkt weiter in die Kissen, die drückende Trägheit fest wie ein Handtuch um den Kopf gewunden.

Als es Sturm klingelt, taucht sie wieder auf, schwerfällig, und windet sich aus dem Sofa. Durch den Spion kann sie ihre Nachbarin erkennen, eine ältere Frau mit strengen Gesichtszügen. Sie hat keine Lust, die Tür zu öffnen, doch tut sie es schließlich doch. Zweimal dreht sie den Schlüssel. Und hat die Tür im Gesicht.

Cameron steht über ihr und lächelt boshaft. Später wird sie Gray erzählen, dass er sie auf den Boden warf. Dass er ihr mit einer Hand den Mund zuhielt und mit dem Fuß die Tür zutrat. Dass er sie ins Schlafzimmer zog und aufs Bett drückte. Dass er sich auf sie setzte. Wenn sie sich erinnern will, verschwimmen seine Gesichtszüge. Sie sieht sich von oben, sieht, wie er auf ihr sitzt wie ein Alptraum und ihr die Luft abdrückt. Sie hört sich selbst unter der Hand aufschreien, wortlos keuchen. Er lächelt noch immer. Sie beißt in seine Hand. Er drückt sie tiefer in die Matratze. Sie atmet schwer, Schweiß rinnt ihr die Schläfen und den Hals hinunter, ihr Mund schmeckt salzig.

Er sieht sie durchdringend an und beginnt, mit leiser Stimme auf sie einzureden. „Sophia, du hast es noch immer nicht begriffen. Nach all den Jahren nicht. Willst du wissen, warum ich hier bin? Pass auf.“ Er legt seine Hände zwischen ihre Brüste und schließt die Augen. Sophia wird ruhiger. Ihr Atem wird regelmäßiger und tiefer. Er streichelt sie, zieht sie an sich, küsst ihr Haar. Sie fängt an zu weinen. Er streichelt ihren Rücken. Die Erinnerungen kommen. Sie wehrt sich nicht mehr.

Bevor sie aufwacht, weiß sie, dass er gegangen ist. Bevor sie aufwacht, weiß sie, dass er zuvor mit offenen Augen neben ihr gelegen und die Wand angeschaut hat. Sie weiß, dass ihr Arm auf seiner Brust lag, dass er sich vorsichtig von ihr befreit, sich leise angezogen und davongestohlen hat. Sie hat geschlafen und geträumt. Sie hat all das gesehen und weiß, dass er nicht mehr zurückkommen wird und dass sie darüber froh sein sollte. Sie weiß, dass sie blaue Flecken am Hals und auf den Armen hat. Sie weiß, dass sie in Ordnung ist. Sie weiß, dass er niemanden getötet hat. Sie ahnt, dass sie sich dafür hassen wird. Es lief nicht so, wie es hätte laufen sollen. Sie hat sich nicht genügend zur Wehr gesetzt. Cameron ist gegangen und hat ihre Depression mitgenommen. Sie erinnert sich, sie schlägt die Hände vors Gesicht, sie verkriecht sich unter der Decke, unter ihren verknoteten langen Haaren. Cameron ist weg und sie verabscheut sich dafür, dass sie es jetzt schon bedauert. So viele Jahre sind vergangen und was hat sich verändert?

„Gott gibt’s. Gott nimmt’s. Wer sind wir, dass wir uns einmischen? Wir nehmen unser Leben nur deshalb so ernst, weil wir denken, wir haben nur eines. Wer sind wir, dass wir so denken?“

Sophia sieht durch den Mann hindurch auf die rauchenden Jugendlichen in der hinteren Ecke des Parks. Er lässt sich davon nicht abschrecken und kommt noch einen Schritt näher. „Schwester, es ist der Eifer, der uns Gottes Liebe nimmt. Die Ernsthaftigkeit. Das Regelwerk, das uns vom Leben abhält. Schwester, du musst dich freimachen …“

Er greift nach ihrer Sonnenbrille und sie wehrt ihn ab. Sein Geruch nimmt ihr den Atem. Da sieht sie, dass er in einem schimmernden Fellmeer steht, kleine dunkle Leiber, die um seine Füße wuseln. Sie zwinkert ein paar Mal. Führt der Mann ein Rudel Ratten aus? Plötzlich steht Gray neben ihr, macht ein empörtes Gesicht und verscheucht den Penner. Sie schließt die Augen. Als sie sie wieder öffnet, ist der Rattenmann weg und Gray sitzt neben ihr. Er sieht sie scharf an. „Was hast du da?“

„Was meinst du?“

„Da, am Hals. Was ist das?“

„Nichts.“

„Ich kann doch sehen, dass da was ...“

Sie zieht sich das Tuch vom Hals und fängt an, sich zu schütteln. Gray starrt ungläubig auf die dunklen Flecken, auf den Kratzer, der sich bis zum Ohr zieht und in einem Pflaster endet. Er will sie in den Arm nehmen, doch sie drückt ihn weg. Sie weint, ohne Tränen oder Trauer. Sie weint ohne Wut. Sie weint, weil jetzt der Zeitpunkt ist, an dem geweint werden muss. Weil sie sich nicht mehr versteht, weil sie ihre Depression verloren und noch keinen Ersatz dafür gefunden hat. Dann sagt sie, „Cameron“. So als würde das alles erklären.

Gray zuckt zusammen. „Was hat er getan? Das da? Zeig mal her. Hat er dir das angetan? Was ist passiert?“

„Ich weiß es nicht. Er kam vorbei, er hat mich überwältigt. Er hat mich ... Nein. Ich war für einen Moment weg. Ich habe mich nicht gewehrt. Ich habe ihm zugehört. Er hat mir erzählt, was passiert ist. Er hat mir alles erzählt. Er hat mich, keine Ahnung, ich erinnere mich nicht mehr. Ich weiß nicht, woher die blauen Flecken kommen. Erst jetzt, erst jetzt …“ Sie erzählt ihm von Camerons Geschichte. Dass er die Männer besucht und sie wieder verlässt, wenn sie schlafen. Dass er ihnen Frieden und Ruhe bringt, weil sie das wollen. Dass es mehr als Sex ist. Und dass er nicht weiß, was danach passiert. Sie erzählt ihm die ganze Geschichte so, wie sie es sich vorher überlegt hat. Sie lässt nichts aus, auch nichts, was ein schlechtes Licht auf sie werfen könnte. Die Geschichte klingt glaubwürdig, logisch. Sie glaubt selbst daran.

Gray runzelt die Stirn. Er will nicht wahrhaben, was er hört. Dass Cameron seine Partnerin aufgesucht und vergewaltigt hat. Dass er ihr, nur ihr und nicht ihm, seine Rolle in dieser Mordgeschichte verraten hat. Gray ist hin- und her gerissen zwischen Wut und Eifersucht, Angst und Beschützerinstinkt. Er will Sophia in die Arme nehmen, trösten, schütteln, ausfragen, ohrfeigen. Er bleibt wie versteinert auf der Bank sitzen und sieht ins Leere.

Sophia lacht bitter. „Und ich habe ernsthaft geglaubt, du könntest mir helfen. Was bin ich für ein Idiot.“ Sie steht auf und geht mit schnellen Schritten weg, vorbei an den rauchenden Jugendlichen, vorbei an dem Obdachlosen, der über einen Mülleimer gebeugt einen kleinen Hund indoktriniert, weg von Gray. Sie dreht sich nicht mehr um und Gray versucht nicht, sie aufzuhalten. Er blickt auf die Bäume vor ihm, rotgolden in der Dämmerung. Ein Eichhörnchen springt auf die Bank gegenüber und schaut ihn wissend an. Gray verschluckt sich und beginnt zu husten. Als er die Augen wieder öffnet, ist das Eichhörnchen weg. Sophia hat ihn angelogen. Cameron auch.


AM SEE:

Der See glitzert dunkel. Der Mann auf dem Badewannenrand weiß, dass der See auf ihn wartet. Schwarz liegt er vor den Fenstern und breitet sich bis zum Horizont aus. Der Mann greift sich an den Hals und sieht nach oben. In den Spiegel. Seine Augen sind so dunkel wie das Gewässer, aber nicht so unergründlich. Er hat Angst. Er hat Schweineangst. Sie liegt auf dem Bett. Sie wartet. Sie haben ein Abkommen. Er tut so, als sei ihr Haar echt. Sie tut so, als sei er echt. Er schluckt, steht auf und öffnet die Tür. Er geht auf sie zu. Ihr blondes Haar macht sich über ihn lustig. Er legt die Hand auf ihre Schulter, dreht sie um. Sie fällt vor ihm aufs Bett. Er lässt sich auf sie fallen. Willenlos.

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