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3: Kopflos

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Der erste Mord. Ein Einzelfall. Das dachten sie damals. Ein Monolith, der aus dem Alltag herausragte. Aus dem Sumpf tödlicher Eifersucht, Gier und Dummheit, mit dem sie es normalerweise zu tun haben. Der Mord, der ein neues Kapitel ankündigen sollte. Damals ahnten sie noch nichts, aber: Ab hier griffen die bewährten Methoden nicht mehr. Ab hier gab es kein Zurück mehr. Sie steckten fest.

Es fing harmlos an: Gray und Weinstein fuhren ins Büro. Gray am Steuer, Weinstein am Telefon. Der ältere Kollege, kurz vor der Pensionierung und seit Jahren auf Psychopharmaka, nickte und grunzte alle paar Sekunden. Dann legte er auf und atmete tief ein.

„Mord im Arcadia. Wir müssen.“

„Müssen was?“

Weinstein verdrehte die Augen. Gray wendete an der nächsten Kreuzung und fuhr zurück in die Innenstadt. Mord im Arcadia. Das klang nach Überstunden. Sie fuhren über den Lastenaufzug in den dreizehnten Stock und gingen durch dicke Teppiche den Flur entlang. Zimmer 1309. Gray nickte seinen Kollegen zu und trat ein. Vor dem Bett blieb er stehen. Auf einmal hatte er stechende Kopfschmerzen. Er fasste sich an die Schläfe und sah zu Weinstein. Der Kollege warf einen Blick auf das blutüberströmte Bett und drehte sich wortlos um. Am nächsten Tag meldete er sich krank. Eine Woche später war er frei gestellt.

Unter normalen Umständen hätte Gray ihn aufgehalten. Unter normalen Umständen wäre alles anders gelaufen. Doch als Gray in dem Zimmer stand und auf das Bett starrte, auf den kopflosen Körper und das Blut, das auf den Teppich getropft und an die Wände gespritzt war, als Gray das alles sah, konnte er sich nicht mehr umdrehen. Er hatte schon viel gesehen. Er war schon an Tatorten gewesen, die dem Gemetzel hier in nichts nachstanden. Doch die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Und er hatte eine böse Vorahnung. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er sah, was er sah, und er hatte das Gefühl, dass das nicht alles war.

Ein Kollege von der Spurensicherung zeigte auf das Badezimmer und Gray drehte langsam den Kopf. Durch die geöffnete Tür sah er das Waschbecken. Im Waschbecken sah er den Kopf. Er atmete tief ein. Er wartete. Er wusste nicht genau, auf was. Dass Weinstein wieder zurückkommen würde. Dass ein anderer Kollege ihn ablösen würde. Ein junger, motivierter Beamter, der mit der Spurensicherung auf dem Boden herumkriechen und nach Stoffresten suchen würde. Jack, geh nach Hause. Wir übernehmen das hier.

Er bewegte sich erst wieder, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Sophia. Seine Sophia. Sein Schrecken, sein Segen. Seine neue Partnerin, wie sich herausstellte. Ersatz für Weinstein und Verbündete in einem aussichtslosen Kampf in den folgenden Monaten. Aber das wusste er damals noch nicht. Denn der erste Mord ist immer ein Einzelfall. So lange, bis ihn der zweite zu einer Serie macht.

Sophia begrüßte ihn mit einem kurzen Nicken, sah sich um und ging ins Badezimmer. Gray folgte ihr mit gesenktem Blick. Die weißen Kacheln schimmerten bräunlich im gelben Licht. Haare klebten am Waschbeckenrand. Gray zwang sich, den Kopf anzusehen. Sophia zog sich Handschuhe über und fasste ins Becken. Vorsichtig drehte sie das Gesicht nach oben. Gray zuckte zusammen. Das Gesicht war gereinigt worden. Der Kopf in Sophias Händen lächelte.

Fiordia, meine Liebe, meine Lust. Zuerst fühlt es sich einfach an, dann wird es kompliziert, und dann wirst du kompliziert und es funktioniert nicht mehr.

Die nächsten Tage verbrachten Gray und Sophia damit, Informationen zu sammeln und das berüchtigte Netz zu knüpfen. Das feinmaschige, unsichtbare Netz, in das sie den Täter locken wollten. Sein Profil. Doch es taten sich immer wieder Löcher auf. Blinde Stellen, Sackgassen, frisch geknüpfte Fäden lösten sich zwischen ihren Fingern auf. Sie wussten nur soviel: Der Tote war ein britischer Tourist. Er war am Tag vorher eingereist und eingecheckt. Über seine Reisepläne war nichts Genaues bekannt. Auch der Tatort gab ihnen Rätsel auf: Es gab weder Finger- noch Fußabdrücke. Die Autopsie ergab, dass der Mann kurz vor seinem Tod Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Man fand Spuren eines latexfreien Kondoms. Jedoch keine anderen Körperflüssigkeiten als seine eigenen. In seinem Blut wurden Reste eines starken Schlafmittels festgestellt. Der Gerichtsmediziner war nicht der Meinung, dass der Mann „friedlich lächelte“. Gray und Sophia schon und Fox verschüttete beim Diskutieren seinen Kaffee. Die Ermittlungen kamen nicht voran.

Der nächste Mord sechs Wochen später versetzte das gesamte Präsidium in Alarmbereitschaft. Die Ähnlichkeiten zum Arcadia-Fall waren frappierend: Wieder hatte es einen Touristen erwischt, Reisegrund unbekannt. Diesmal war der abgetrennte Kopf des Mannes zurück an den Hals gelegt worden. Auch „Schwanenhals“ lächelte. Und der Autopsiebefund stimmte weitgehend mit dem des letzten Mordes überein. Der Innenminister schaltete sich ein. Das Team wurde aufgestockt. Verbissen knüpften sie weiter am Netz.

Drei Monate vergingen, ohne dass sie in den Ermittlungen weiter kamen. Sie ließen die großen Hotels der Stadt bewachen. Verhörten Hotelpersonal. Erstellten Phantombilder von potenziell Verdächtigen. Entwickelten Täterprofile und verwarfen sie wieder. Sie forschten in der Satanistenszene, trafen sich mit Beamten, die verdeckt in radikalen politischen Gruppen aktiv waren. Wälzten Dossiers über Sexualdelikte, Perversionen, Geisteskrankheiten. Dann ging alles ganz schnell: Die nächsten drei Morde geschahen innerhalb einer Woche. Sie unterschieden sich darin, dass die Männer, ausnahmslos Touristen oder Geschäftsreisende von außerhalb, nicht nur geköpft, sondern in mehrere Stücke zerteilt wurden. Allen gemeinsam war das mysteriöse Lächeln.

Ab dem vierten Mord tauchten blutige Schmierereien an den Wänden auf. Kryptologen entzifferten, widersprachen sich, stellten Theorien auf, verwarfen diese wieder. Gray und Sophia verbrachten Tage in Archiven und verglichen Bilder von Serien- und Ritualmorden auf der ganzen Welt. Es gab Parallelen. Fälle, die Ähnlichkeiten aufwiesen. Fälle, die aufgedeckt und Fälle, die nie gelöst wurden. Serien, die Serien nach sich zogen. Spontantäter und Täter, die alles bis ins kleinste Detail planten. Von einem Motiv in ihrem eigenen Fall jedoch keine Spur.

Ab dem dritten Mord gab es Hinweise auf einen Verdächtigen. Ein junger, dunkelhaariger Mann wurde an den Tatorten gesichtet. Nach dem fünften Mord nahmen sie einen Hotelangestellten fest, der kurz davor in einem der anderen Hotels gearbeitet hatte. Nach Mord sechs ließen sie ihn frei.

Ab dem siebten Mord fanden sie endlich die ersehnte Fremd-DNA: Der abgetrennte linke Schenkel wies Bissspuren auf. Sie begannen, Bluttests bei Verdächtigen zu machen. Ohne Erfolg. Der Täter spielte mit ihnen. Sie mussten, ob sie wollten oder nicht, mitspielen. Nach dem achten Mord gelangte eine Information zu viel an die Öffentlichkeit und Gray musste auf einer Pressekonferenz erscheinen. Fox zog ihn von den Kameras weg. Der Pressesprecher der Polizei behielt die delikaten Umstände für sich, gab aber zu, dass es in den letzten Monaten zu einer Reihe von Übergriffen auf Touristen gekommen sei. Es bestünde jedoch kein Grund zur Sorge.

Was Gray zunächst verdrängte und später bewusst verschwieg, war, dass ihn das Phantombild an jemanden erinnerte. Als Sophia schließlich unbedingt mit einem ehemaligen Informanten reden wollte, wusste Gray sofort, wen sie meinte. Ohne, dass sie es vor einander zugaben, schwebte Cameron im Raum. Ein vages, unangenehmes Gefühl machte sich bei Gray breit. Zwei Tage später, unmittelbar nach dem neunten Mord und dem ersten entzifferbaren Fiordia-Graffiti am Tatort, nahm er sich ein Herz und klickte das Phantombild an, als Sophia neben ihm saß. „Willst du mit Cameron sprechen?“

Sie biss auf ihren Kugelschreiber. „Was meinst du?“

„Ich kenne ihn. Ich meine, von früher.“

„Ich weiß.“

„Er hat damit nichts zu tun. Da bin ich mir ganz sicher.“

Sie sah ihn an. „Ja? Nachfragen schadet nichts.“

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