Читать книгу Einführung in die Geschichte der Religionswissenschaft - Udo Tworuschka - Страница 7
Оглавление1. Einleitung
Gründe für die Entstehung der Religionswissenschaft
Das vorliegende Buch bietet eine kurze Darstellung der Geschichte der Religionswissenschaft von ihren (vorwissenschaftlichen) Anfängen bis etwa in die 1970er Jahre. Eric J. Sharpe nennt drei Elementarbedingungen für das Entstehen von Religionswissenschaft: 1. ein Motiv: zum Beispiel pure Neugierde, aber auch Unzufriedenheit mit den ererbten Religionstraditionen; 2. das Vorhandensein von Material über Lehren bzw. Praktiken von Religionen, die nicht zur Dominanzreligion gehören; 3. das Vorhandensein von Methoden, mit deren Hilfe das Material systematisiert werden kann. Als unabdingbare Voraussetzung gehört ein gewisses Maß an „detachment“ (Trennung, Abstand) von der dominanten Religion sowie „interest“ an fremden religiösen Vorstellungen und Praktiken. Hinzukommt eine kritische Haltung gegenüber den eigenen religiösen Vorstellungen (Sharpe 1975: 2). Nach Guy G. Stroumsa sind für das Entstehen einer neuen Wissenschaft die „Entdeckungen neuer Tatsachen“ und die „Herausbildung neuer Methoden“ erforderlich. Vor allem aber das Vorhandensein einer „neuer Sensitivität“, d.h. einer intellektuellen Neugier (Stroumsa 2010: 24). Solche Eigenschaften, die auch für andere Fächer reklamiert werden, werden als „soft skills“ bezeichnet.
„Väter“ der Religionswissenschaft
Oft orientiert sich Wissenschaftsgeschichte an Personen, die für unaufhaltsamen Fortschritt stehen, der in die jeweilige Gegenwart mündet. Eine besondere Rolle spielt die Suche nach den „Vätern“ der jeweiligen Wissenschaften. Diese Ahnen haben jedoch erst in der Rückschau ihre Rolle als „Vaterfiguren“ erhalten. Die Vätersuche geht tendentiell möglichst weit zurück, um dem Fach Ansehen zu verleihen. So wurden Aristoteles zum „Vater der Zoologie“ und Homer, Hesiod, Herodot, Thukydides zu „Vätern der Geschichtsschreibung“. Gibt es in der Religionswissenschaft eine jahrhundertelange Kontinuität von Forschungsinteressen?
Unterschiedliche Ansätze der Fachgeschichte
Häufig wird die Geschichte der Religionswissenschaft als problemorientierte Ideengeschichte dargestellt, welche die Art, Entstehung, Wandlungen und Auswirkungen religionswissenschaftlicher Denkweisen und Fragestellungen betrachtet. Würde die Disziplingeschichte dagegen als Geschichte individueller Wissenschaftler konzipiert, träte die biographische Seite stärker in den Mittelpunkt und damit das familiäre, soziale Umfeld des Wissenschaftlers, sein Bildungsweg, einflussreiche akademische Lehrer usw. Die seit den 1980er Jahren wiederentdeckte „Biographieforschung“ geht von einer kontextualisierten Biographie aus, betrachtet den Forscher vor dem Hintergrund seiner jeweiligen Lebenswelt und stellt ihn in engere und weitere soziale, wirtschaftliche, kulturelle Zusammenhänge. Damit wird der Einzelne zum „Konstrukteur seiner eigenen Biographie“ (Hans Erich Bödeker). Narrative Selbstzeugnisse lassen Lebensumbrüche und Diskontinuitäten hervortreten, so dass die Idee eines kontinuierlichen Lebensweges einer Person als konstruiert erscheint. Nachholbedarf besteht in der Religionswissenschaft bei der Autobiographieforschung. Systematische Auswertungen einschlägiger Autobiographien könnten einen Beitrag zur Dekonstruktion biographischer bzw. posthumer Mythen liefern.
Ideen- und problemgeschichtliche Untersuchungen sollten durch institutionsgeschichtliche Zugänge flankiert werden. Erst im letzten Drittel des 19. Jh. etablierte sich die Religionswissenschaft an europäischen Universitäten. Aufgabe institutionsgeschichtlicher Untersuchungen wäre die Erforschung von Organisation, Strukturen, Eingliederung des Faches in Fakultäten/Fachbereiche, Art der Studiengänge, Prüfungen, inhaltliches Lehr- und Forschungsprofil der Hochschullehrer, Benennung des Faches bzw. der Lehrstühle. Sozialgeschichtliche Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte könnten die Beziehungen zwischen Forschern und Forschungsinstitutionen beleuchten: Lehrveranstaltungen (Vorlesungsverzeichnisse), Fachverbände, Studierende des Faches (Geschlecht, Entwicklung der Studierendenzahlen), öffentliche Adressaten.
Die Religionswissenschaft würde einen Beitrag zur „historischen Wissenschaftsforschung“ (Lepenies 1978) leisten, wenn sie ihre Geschichte vor dem Hintergrund der allgemeinen Auseinandersetzung des Menschen mit Natur und Gesellschaft (geschichtlich, sozial, kulturell, technisch, ökonomisch) thematisierte. Sir Karl Raimund Popper (1902–1994), prominentester Vertreter des Kritischen Rationalismus, hebt darauf in seiner 12. These ab: „Die Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen Wissenschaftler, sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen Kritik, der freundlichfeindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und auch Gegeneinanderarbeitens. Sie hängt daher zum Teil von einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ab, die diese Kritik ermöglichen“ (Popper 1962: 88).
Fruchtbarkeit wissenschaftlicher Irrtümer
Während die traditionelle Wissenschaftsgeschichte die Entwicklung der Wissenschaft als einen evolutionären Prozess deutet, entlarvt die aus Frankreich stammende Epistemologie diesen als eine Konstruktion. Für Georges Canguilhelm (1904–1995) ist die Vorstellung einer stetigen Abfolge sich dauernd optimierender Theorien, die sich auf einen Urvater zurückführen lassen, eine Fiktion. Canguilhelm bemerkt nachdrücklich die Fruchtbarkeit von Irrtümern („dunkle Stellen des Denkens“). Daraus lässt sich folgern, dass eine Geschichte der Religionswissenschaft sich nicht auf den wissenschaftlichen Mainstream konzentrieren, vielmehr auch „Irrwege“ erkenntnistheoretisch ernst nehmen soll. Erst später erkennt man, dass ein so genannter Vorläufer seinen Zeitgenossen voraus war. Dieser Vorläufer ist „nur das Produkt einer bestimmten Wissenschaftsgeschichte (…) und nicht ein Agent des wissenschaftlichen Fortschritts“ (Canguilhelm 1979: 35f.).
Nach Poppers Wissenschaftsbegriff beginnt Erkenntnis „nicht mit Wahrnehmungen oder Beobachtungen oder der Sammlung von Daten oder von Tatsachen, sondern sie beginnt mit Problemen. Kein Wissen ohne Probleme – aber auch kein Problem ohne Wissen. Das heißt, dass sie mit der Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen beginnt: Kein Problem ohne Wissen – kein Problem ohne Nichtwissen. Denn jedes Problem entsteht durch die Entdeckung, dass etwas in unserem vermeintlichen Wissen nicht in Ordnung ist; oder logisch betrachtet, in der Entdeckung eines inneren Widerspruches in unserem vermeintlichen Wissen, oder eines Widerspruches zwischen unserem vermeintlichen Wissen und den Tatsachen eines anscheinenden Widerspruches zwischen unserem vermeintlichen Wissen und den vermeintlichen Tatsachen“ (These 4; Popper 1962: 87).
Die Religionswissenschaft – eine junge Wissenschaft?
Gern umgibt sich die Religionswissenschaft mit dem Charme, eine junge Wissenschaft innerhalb der universitas literarum zu sein. Es gibt aber viele andere Wissenschaften, die ähnlich jung oder noch jünger als die Religionswissenschaft sind: Als Geburtsstunde der modernen Betriebswirtschaftslehre in der Schweiz, Österreich und Deutschland wird das Jahr 1898 angesehen, in dem im deutschsprachigen Raum mehrere Lehrstühle etabliert wurden. Die Wurzeln der wissenschaftlichen Kybernetik gehen gar erst auf die 1940er Jahre zurück. Die Gesundheitsökonomie existiert in den USA erst seit ungefähr 50 Jahren bzw. geht in Deutschland auf das Jahr 1978 zurück.
Herkunft des Begriffes Religionswissenschaft
Die zweite Hälfte des 19. Jh. war die formative Epoche der Religionswissenschaft. Damals wurde/n Religion/en in mehreren europäischen Ländern (Schweiz, Niederlande, Belgien, Frankreich, Britannien, Deutschland) zum wissenschaftlichen, in institutionalisierter Weise untersuchten Gegenstand. Der Begriff „Religionswissenschaft“ ist lange vorher mit einer religionsphilosophischen/theologischen Bedeutung belegt (so bei Niethammer, 1795; Henke, 1806–1808. Bei Figl 2003: 21). Diese Form von Religionswissenschaft wollte das Christentum als höchste Religion erweisen. Der katholische Priester, Philosoph und Mathematiker Bernhard Bolzano (1781–1848) verstand unter Religionswissenschaft „die Wissenschaft von der vollkommensten Religion“ (Bolzano 1834, Bd. 1: 3), „die Wissenschaft von der katholisch-christlichen Religion“ (8). Der vor der Existenz eines gleich lautenden Faches bereits im 17. Jh. belegte Begriff „Religionsgeschichte“ (historia religionis) bezeichnete zunächst „Faktensammlungen zur jüdischen und christlichen Religion, ab etwa 1700 auch zu anderen Religionen (…). Im 18. Jh. wird das Fach Religionsgeschichte von der Kirchengeschichte abgegrenzt“ (Figl 2003: 20f.).
Internationale Bezeichnungen für Religionswissenschaft
1870 verwendete Friedrich Max Müller (1823–1900) den Begriff „Science of Religion“ (Müller 1972), der in der englischsprachigen Welt jedoch keine nachhaltige Bedeutung erlangt hat. Die dort üblichen Begriffe weisen auf jeweils unterschiedliche Aspekte hin: History of Religions, Study of Religions, Comparative Study of Religions, (academic) Study of Religion, Comparative Religion (entweder als systematischer Zweig der Study of religions oder als eigenständige Disziplin). Der Begriff „Religious Studies“ hat ein diffuses Bedeutungsspektrum. Weitere Übersetzungen: „Science des Religions“ (französisch), Religiestudies (niederländisch), Religionsvidenskab (dänisch), religioznawstwo (polnisch). In asiatischen Sprachen heißt das Fach shukyogaku (japanisch), zongjiaoxue (chinesisch), chongkyaohak (koreanisch). Der japanische Begriff ist die früheste Übersetzung des modernen Begriffes Religion in eine ostasiatische Sprache. Dabei dürfte nicht nur europäische Einflussnahme eine Rolle gespielt haben, die gut protestantisch die innere, private Perspektive von Religion hervorhob, sondern es liegt auch „ein aktiver Prozess der „Aneignung“ vor (Krämer: 319ff.). Die japanische Neubildung wurde von den Chinesen übernommen (zongjiao), wird aber in den jeweiligen Religionstraditionen unterschiedlich verstanden (Meyer 2013: 351ff.).
Unterschiedliche Anfänge der Religionswissenschaft
Die Frage nach den Anfängen der Religionswissenschaft ist unterschiedlich beantwortet worden. Manche sehen in dem Deutsch-Engländer Friedrich Max Müller (1823–1900) den „Vater der Religionswissenschaft“ (Sharpe 1976: 35), andere in dem Niederländer Cornelis Petrus Tiele (1830–1902).
Chantepie de la Saussaye (1848–1920) greift auf den indischen Kaiser Akbar (16. Jh.) oder den islamischen Philosophen Averroës/Ibn Rushd (12. Jh.) zurück, „weil sie für das relative Recht mehrerer Religionen einen offenen Sinn hatten“ (la Saussaye 1889: 3). Nach Guy G. Stroumsa haben die mittelalterlichen Religionskontakte zwischen Christen, Muslimen und Juden wesentlich zur „Entstehung unserer modernen Kategorien des Verständnisses von Religion“ beigetragen (Stroumsa 2010: 259). Er nennt drei Wurzeln der modernen Religionswissenschaft: die großen Entdeckungen, die Entstehung der modernen historisch-kritischen Philologie in Humanismus und Reformation sowie die Religionskriege (16. Jh.).
Nicht wenige sehen die Anfänge des Faches in der Antike. Der französische Jesuit Henri Pinard de la Boullaye (1874–1958) beginnt seine Geschichte der Religionswissenschaft in der griechischen Antike. Morris Jastrow Jun. (1861–1921) hebt die religionswissenschaftlichen Leistungen Plutarchs hervor. Edvard Lehmann (1862–1930) betrachtet Herodot im 5. Jh. v. Chr. als ersten Religionshistoriker. Gustav Mensching, Walter Holsten, Eric J. Sharpe, Frank Whaling, Philippe Borgeaud u.a. finden die Wurzeln des Faches im griechisch-antiken Aufklärungsdenken. Der große alte Mann und Querdenker der amerikanischen Religionswissenschaft, Jonathan Zittell Smith (geb.1939), sieht die Religionswissenschaft als „Kind der Renaissance“ (Smith 2004: 364). Samuel Preus führt die Linie der nicht-theologischen, „naturalistischen“ Religionsanalyse bis in das 17. Jh. zurück, hebt dabei den niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632–1677) hervor. Manche lassen die Geschichte des Faches mit der neuzeitlichen Aufklärung anfangen, etwa Gerardus van der Leeuw (Van der Leeuw 1970: 789) und Peter Harrison (Harrison 1990). Gustav Mensching beurteilte die Religionswissenschaft geradezu als „Kind“ der (antiken bzw. neuzeitlichen) Aufklärung (Mensching 1948: 8). Andere betrachten die romantische Kritik an der Aufklärung als Auslöser für religionswissenschaftliche Impulse (Kippenberg 1991: 28f.). Für Eric J. Sharpe gehen entscheidende Anstöße für die Religionswissenschaft vom Evolutionismus/Darwinismus/Spencerianismus des 19. Jhs. aus.