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Schiss vor dem widerlichen Geruch des Todes

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Waren im Dorf Beerdigungen nötig, gab es die alte Tradition des Kreuztragens. Als Führer zur letzten Ruhestätte schritt ich dem Trauerzug voran, bekleidet mit schwarzer Hose und weißem Hemd. Im Sommer beide kurz. Als stämmiger Bursche war ich Pfarrer Röblings bester Mann, so stellte er mich unvermeidlich der traurigen Gemeinde vor. Der war das rotzegal. Vor zwei Sachen hatte ich Schiss: Erstens in der Trauerhalle dem widerlichen Geruch des Todes zu begegnen und zweitens, dass mir wegen des einschläfernden Sermons meines Vorgesetzten das schwere Holzkreuz aus der Hand fallen und laut polternd auf den vor mir ruhenden Sarg mit dem Entschlafenen schlagen könnte.

Verwesungsgeruch hat es gottlob nie gegeben. Das andere kam so:

Im Dorf war die alte Anna gestorben und ich hatte meine Friedhofs-Schicht wieder rechtschaffen zu erledigen. Wie jedes Mal bezog ich mit dem Pastor und meinem massiven sakralen Utensil unseren gewohnten Standort am Kopfende der Totenlade. Alle Nachbarn, Bekannten und Verwandten waren vollzählig in der Kapelle angetreten. In vorderster Trauerfront Sohn Bibi nebst Familie. Wir alle kannten Bibi nur unter Bibi und wussten nicht, wie der mit richtigem Namen hieß. Also, Bibi und sein Clan hatten sich gerade direkt längsseits vorm braunen Vollholzsarg gruppiert, da ging das Gezeter seiner Frau auch schon los. Die entschlafene Anna hatte sich mit dieser Schwiegertochter ein Leben lang befehdet. Alle wohnten unter einem Dach und schrien sich dort ohne Unterbrechung an. Einmal bin ich bei ihnen am Küchenfenster vorbeigeschlendert, als gerade wieder ein Gezanke im vollsten Gange war. Um ein Haar hätte mich dabei ein fliegender Kochtopf mit dampfenden Pellkartoffeln erwischt. Den nämlich feuerte die rabiate Anna geradewegs aus dem Fenster, als ich auf gleicher Höhe ahnungslos passierte. Mit Getöse landete das schwere Kochgeschirr direkt auf der Straße, einen fingerbreit neben mir. Der Topfdeckel rollte davon, die Erdäpfel vor meine Füße. Damit hatte sie nicht nur ihre ständige Gegnerin und Schwiegertochter, sondern auch mich beeindruckt. Die blieben einander bis zuletzt spinnefeind. Jene Schwiegertochter wehklagte und jammerte nun an der Fürimmerkiste der alten Anna derart inbrünstig laut, dass Hochwürden stellenweise mit seinen tröstenden Worten innehalten musste. Das Geheul schwoll derweil so sehr an, dass es die Dorfsirene bei einem Feueralarm gewiss übertönt hätte. Die Trauernden blickten betreten in die Runde und das nicht allein wegen des tragischen Todesfalls. Das hysterische Gekreisch irritierte auch mich. So eine Vorstellung hatte ich während meiner gesamten Kreuzträgerkarriere nie erlebt. Den Fluss der blutigen Tränenbäche bei jener Wehklagenden konnte man nicht verfolgen, denn das trauernde Antlitz war mit einem Schleier zugehängt. Untermalt von gellenden Jaulattacken krümmte sich Bibis Angetraute von neuem gramgebeugt. Bog sich endlos weit nach hinten und dann nach vorn, dass man befürchten musste, als Nächstes würde sie sich verzweifelt auf den Sarg werfen, in dem die tote Anna ruhte. Dazu wäre es bestimmt gekommen, hätte ich nicht so grandios dazwischengefunkt. Kurz vor jener Beerdigung hatte mir Mama eine neue Sonnenbrille geschenkt. Obwohl Sonnenbrilletragen beim letzten Gang nur in Mafiakreisen statthaft ist, nahm seltsamerweise nicht mal Herr Pfarrer Röbling Anstoß an meinem neuen Augenglas. Das bestand aus brauner Plaste, einschließlich der Durchguckscheiben. Die waren verbogen und lieferten interessante Zerrbilder von den betrachteten Objekten. Im Moment war es besonders unterhaltsam, die Tragödin durch meinen Verzerrer zu studieren, dadurch wirkte ihr Auftritt noch grotesker. Mal hielt ich den Kopf nach links, mal nach rechts, bewegte ihn leicht hin und her und staunte, welche Bewegungen die vom Schmerz Geschüttelte zu vollführen schien. So fasziniert war ich von meinem Kaleidoskop, dass ich mich auf meine Aufgabe als Kreuzhalter nicht mehr konzentrierte. Und da geschah das Unglaubliche: Das mächtige Kreuz entglitt meinen Händen, kippte nach vorn und knallte kopfüber, der gusseiserne Heiland vorweg, auf den Sargdeckel, Eiche hell. Nach diesem dröhnenden Donnerschlag herrschte totale Ruhe in der Kapelle. Totenstille, sozusagen. Alle Klagegesänge waren verstummt. Ich stürzte nach vorn, verfehlte wegen meiner Trugbilder beinahe das Ziel und griff dann doch das schwere Eichenrundholz, um den schwarzen Mast eiligst in Position zu hieven. Bloß gut, dass ich die Brille trug, denn ich wusste vor Schreck nicht, wohin mit meinen Blicken. Fast war ich dankbar, als erneut Geheul die Trauerhalle erfüllte. Vielleicht war es ja ein Freudenschrei, weil Anna von jenem derben Schlag, der Tote hätte erwecken können, nicht wieder aufgewacht war. Das liebe Jesulein an meinem Kreuz hatte die schändliche Behandlung vollkommen unbeschadet überstanden. Am Erdmöbel gab es eine minimale Schramme. Mir wurde vom Herrn Pfarrer mein Zwei-Mark-Honorar radikal gestrichen, das war die Strafe des Herrn.

Bei der darauffolgenden Trauerfeier war der Diener Gottes höchstselbst der Superdödel. Der ständig zerstreute Pastor hatte seine Manuskripte zu Hause liegen lassen. Ohne die konnte er niemals seine herzbewegenden Reden halten. Wie von der Tarantel gestochen, ruckartig und wortlos wendete er mitten in der Trauerkolonne, um mit wehendem Talar kommentarlos zu entschwinden. Der Seewind blies zum Sturm und haute der davoneilenden Heiligkeit das Barett vom Haupte. Es rollte mit Karacho entlang die Straße in den nächsten Graben. Dort hinein entschwand auch die Eminenz, um sein Mützchen einzufangen. Entgeistert sahen wir dem Flüchtenden hinterher. Mein Gott! Verbindungslos und total verdutzt stand ich in der Schar der seelenwunden Hinterbliebenen und musste die irgendwie bei Laune halten. Verlegen scherzte ich ein bisschen über das stürmische Wetter, wir plauderten über Masterfolge bei der Kaninchenzucht und tauschten gegenseitig wertvolle Erfahrungen aus. Ein älterer Mann zeigte seine dick angeschwollenen Arthrose-Knie. Dazu musste er seine schwarze Anzughose herunterlassen, was wiederum seiner Frau missfiel. Nun fingen sie an zu streiten. Von der Streiterei ganz ungerührt und womöglich durch die gefallene Hose inspiriert, schilderte ein anderer Nachbar seine Prostataprobleme. Erklärte, wie sauer ihm das Pinkeln wird. Das alte Ehepaar hatte seinen Streit wegen des runtergelassenen Beinkleides aufgegeben, weil sich nun ihr Interesse auf die Beschwerden beim Wasserlassen konzentrierte. Ich versuchte mein Bestes beim Moderieren, allein hätte ich das jedoch nie geschafft. Dem Allmächtigen sei Dank, Frau Röbling kam in Windeseile angefegt und stand mir bei. Sie war klein, stets lustig, dabei resolut und flink, also das exakte Gegenstück von Hochwürden. Die mochten alle. Es wurde beständig fröhlicher. Wir lachten, scherzten und hatten eine vergnügliche Beerdigungs-Ouvertüre. So ein Jux!

Strelow war wieder da. Nur kurz. Ich bin beleidigt. Ja, richtig sauer. Seine Worte klingen mir im Ohr: Die Episoden hätte ich kurzweilig-amüsant erzählt, aber meine manierierte Sprache ginge im mitunter auf die Nerven. Reichlich müsse glatt gebügelt und Wildwuchs herunter gestutzt werden. Ich solle in allem reduzierter und nicht so geschwollen reden, einfach so wie jetzt mit ihm. Das wäre das Beste und passe zu mir und meiner Geschichte doch vielmehr. Der Rechtsanwalt hätte leider noch keine Zeit gefunden. Das und seine Krittelei sollten mich aber nicht abhalten, an der Geschichte mit Feuereifer dranzubleiben. Bitte recht sehr! Und weg war er. Das musste ich erst mal verdauen. Frühestens morgen würde ich weitermachen. Und ganz und gar in meinem Stil!

Bereits als Kind war mir eines klar, für mich waren typische Männerberufe, wie Maurer, die früh am Morgen frierend auf schneeumwehter Rüstung stehen müssen, oder Schlosser mit schmierigen Händen in lauten Werkhallen, nicht das Richtige. Das wusste ich mit Sicherheit. Also hieß das, Abitur zu machen, wie alle meine älteren Verwandten. Herr Tritsche, der Karrierekommunist und verhinderte Eishockey-Star, versuchte mein Streben nach höherer Bildung zu boykottieren. Er hasste alle Kirchlinge und verurteilte mein unfreiwilliges Engagement bei Trauerfeiern aufs Schärfste. Als es in Schulkonferenzen um meine Besuchserlaubnis auf die höhere Lehranstalt ging, wirkte er meinem Bildungsdrang stramm kontraproduktiv entgegen und versuchte meinen Herzenswunsch mit allen Mitteln zu vereiteln. Dass ich Herrn Tritsche damals mit dem Eishockeyschläger mit solcher Gewalt erwischt hatte, war insofern womöglich höhere Gewalt. Das Strafgericht von ganz oben. Wer weiß?

Alle fanden, der Thomas, der muss Lehrer werden. Meine Lehrer begründeten es damit, dass ich alle Tricks schon kannte und mich mit meinem großen Rand nicht unterbuttern ließe. Meine Verwandten fanden, ich rezitiere fabelhaft und mit lauter Stimme, selbst die Alten konnten jedes Wort verstehen. Und Mama meinte, bei meinem Talent wäre ich der geborene Pädagoge, denn erklären könne ich doch schon jetzt ganz wunderbar. Ich war mit allen einer Meinung, fünfzehn Jahre alt und wollte sehr gern Lehrer werden. Fortan würde ich deshalb mit dem stinkenden Linienbus „Rakete“ zur Penne in die Stadt fahren müssen. Mir schwante nichts Gutes – und ich sollte Recht behalten. Bis dahin gewohnt, lauthals die Dinge selbstsicher im Griff zu haben, trat ich nun an, kleinlaut und bedrückt. Das sollte sich nicht im Geringsten ändern. Ich hasste diesen bedrohlichen Kasten vom ersten bis zum letzten Tag und fürchtete, er könnte mich zermalmen.

Die Dinge hatten sich umgekehrt. Früher kämpfte ich mit meinen miserablen Benehmensnoten, die nun vorbildlich waren. Dagegen verstand ich im Unterricht nun gar nichts mehr. Am meisten legte sich mir die Rechenkunst wie Blei auf Magen und Gemüt. Diese Wissenschaft wurde mir noch ganz und gar verekelt durch jenen Mobbing-Lehrer, der es bis zum bitteren Ende auf mich abgesehen hatte. Jeden Morgen dieselbe Grütze: Todmüde aus dem Bett kriechen, als Klamotte wieder der zu eng gestrickte Kratzpullover von Tante Lisbeth und womöglich noch die ersten zwei Stunden beim Menschenschinder. Nur unser Hund, der hatte es gut. Beneidenswert gut. Meine Mutter hatte dem Spitz-Mix auf dem durchgelegenen Kanapee ein extra kuschlig-warmes Lager eingerichtet. Dort rekelte er sich wie eine arbeitsscheue Diva, blinzelte mir verschlafen zu, wenn ich zur Tür hinaus in den dunklen, kalten Wintermorgen stürzte, um zur Bushaltestelle zu hasten. Dort stand bereits der alte Dieselstinker und hupte, weil er auf mich warten musste. Ich hechelte mich durch die vollbesetzten Reihen und hätte den Anschluss garantiert verpasst, hätte nicht mein Vater, mein täglich Mitreisender, als Busfahrerbeschwörer auf die Notbremse getreten. Alle Fahrgäste grinsten müde wegen mir. Papa war dagegen putzmunter und sauwütend, weil mein verspäteter Auftritt so unerfreulich peinlich war. Alles in allem begann so ein Schulmorgen, den man lieben musste.

Detlev, der zwei Jahre später in unsere Klasse kam, hat mich gerettet. Den lotste ich sofort auf den leeren Platz neben mir, ohne zu wissen, welche Qualitäten der Neue haben würde. Mein bisheriger Banknachbar war genauso eine Rechenschieber-Null wie ich. Mit Detlev setzte ich auf Fortune und hatte Glück. Er wurde nicht nur mein prima Schulkamerad, sondern auch die zuverlässige Quelle geistigen Zahlendiebstahls. Heute sammele ich komische Postkarten, die schalkhaften Humor besitzen. Auf einer steht geschrieben: „Mathe ist ein Arschloch!“ Stimmt genau! Denn noch heute träume ich zuweilen von meinem Matheabitur und wache schweißgebadet auf. Munter und hellwach schwitzte ich damals schon am Tage bei dem Gedanken an diese Bedrohung. Die lag zwar noch in der Ferne, aber war genauso unausweichlich. Bei Klassenarbeiten konnte man tricksen, niemals bei der schriftlichen Abschlussprüfung! Ich hatte Riesenschiss und nicht die leiseste Vorstellung, wie ich das deichseln sollte.

Ohne meinen alten Kumpel Alexander hätte ich jene entscheidende Reifeprüfung nie bestanden, wäre abgesoffen wie der Mafiakronzeuge mit Betonschuhen im Landwehrkanal. Alexander war an einer anderen Bildungsstätte gelandet und konnte seinem bedrängten Freund und Schwachmatiker nicht helfen. Oder vielleicht doch? Mich traf ein Geistesblitz! Seine ältere Schwester war Lehrerin an einer Berufsschule und kam an Prüfungsaufgaben heran. Ihr wurden Riesenkörbe Spargel aus unserer heimischen Produktion versprochen. Nach diesem Edelgemüse war sie so etwas wie süchtig. Nie hätte ich geglaubt, dass sie das tatsächlich für mich macht. Noch dazu für einen so läppischen Lohn, auch wenn sie Spargelstangen für ihr Leben gerne aß. Ich hätte doch noch alles Mögliche mehr spendiert. Mindestens den Ertrag einer ganzen Erntesaison. Es war ein zittriges Bangen bis zu dem Festtag, als mir Alex grinsend den Undercover-Umschlag mit der Bemerkung überreichte, dass das wirklich niemand erfahren dürfe. Mich hätte man mit glühenden Eisen foltern können. Mit Sicherheit wäre das seiner armen Schwester geschehen, wären wir aufgeflogen. Mitunter denke ich noch heute dankbar und etwas verschämt an die beiden und auch an den verhassten Mathepauker, der als linientreuer Atheist nach der Korrektur meiner braven Klausur dann wahrscheinlich doch an so etwas wie Mysterien glaubte.

Literatur und Kunst liebte ich. So wie ich vor dem Mathezeug ein Grausen hatte, so gelassen sah ich nun dem Abi-Prüfungsaufsatz entgegen. Als das Examen startete, fiel mir so furchtbar viel Schönintelligentes ein und ich schrieb wie der Poet unter Hochdruck unermüdlich seitenweise Abhandlungen. Plötzlich waren die vier Stunden um; gerade so war mein Entwurf fertig geworden. Ich Volltrottel hatte auch noch ein durchweg prima Gefühl, als ich meine hingeschmierte Kladde übergab. Den ganzen Murks noch mal durchzulesen, geschweige denn abzuschreiben, war keine Zeit. Wegen Unlesbarkeit wurde mein ach so geistreicher Prüfungsaufsatz mit einer astreinen Fünf bewertet. Nichtswürdige Kelleretage, schmachvolle Schande. Ich fühlte mich wie eine Endvierzigerin, denn unentwegt stiegen Hitzewallungen in Schüben in mir auf. Kurz vorher hatte ich mich für das Pauker-Studium Kunst und Deutsch beworben. Die nehmen mich jetzt bestimmt nicht mehr, schoss es mir durch den Kopf! Was nun? Mein Traum vom schönen Lehrer-Leben einfach geplatzt!? Aber die haben mich dann doch genommen. Ich war froh, froh, also zwei Mal froh, als das Kapitel Oberschule zu Ende war, ich mein Reifezeugnis unter den Arm klemmen und der verhassten Penne Adiós zurufen konnte.

Von klein auf malte, zeichnete, knetete und schmierte ich gern überall herum. Die Mitglieder meiner Familie haben für so etwas keine Ader. Vermutlich waren sie deshalb entflammte Fans meiner Kunst, rätselten, wo der Junge das bloß her hatte und lobten mich fast zu Tode. Das war schmeichelhaft, doch war mir klar, das bringt dich keineswegs nach vorn. Meine Kunstlehrer in der Schule waren keine und nutzten deshalb diese Stunde, um ihre private Buchhaltung auf den aktuellen Stand zu bringen. Jedes Mal aufs Neue bekamen wir den Auftrag, ein hübsches Bild zu malen, damit war die kunstpädagogische Anleitung auch schon zu Ende. Das blieb so bis zum Abitur. Deshalb besuchte ich während meiner Pennezeit jeden Samstag einen Malkurs. Und es hat sich gelohnt, weil ich begriff, dass ich gar nichts konnte.

Und noch etwas Künstlerisches rief ich in jenen Tagen selbst auf den Plan. Bislang fanden mich die Mädchen als unterhaltsamen Kumpel allenthalben toll, jedoch mehr nicht. Die Aufreißer waren immerfort die anderen oder sie taten zumindest so. Ich musste etwas tun. Musik interessierte mich konstant und das war der einzig richtige Denkansatz. Disco-Tralla mit Tonbändern konnte jeder machen, Livemusik hingegen nicht. Ich beschloss, das Gitarrespiel zu erlernen. Koste es, was es wolle. Na ja, kosten durfte es nichts. Wie das Ganze auf die Beine stellen? Da lief mir wie auf Bestellung Gerd Böderich über den verwandtschaftlichen Weg, wenn der auch um hundert Ecken führte. Gerd war Lehrausbilder auf dem modrigen Landesgut und ein Bohemien, wie er im Buche steht. Er wohnte über der Toreinfahrt zur alten Ritterburg in einem verwahrlosten Tonnengewölbe mit meterdicken Wänden und hatte zahllose Laster. Die wichtigsten waren Frauen und Alkohol, beide fand er reichlich vor. Und er war ein begnadeter Freizeit-Gitarrist. Damit kriegte Gerd die Frauen rum. Behutsam tastete ich mich an ihn und mein Unterfangen heran. Als der von mir auserkorene Musikpädagoge merkte, was los war, winkte er entschieden ab und brachte tausend Argumente vor, die gegen eine fakultative Lehrunterweisung sprechen sollten. In Wahrheit hatte er wenig Lust, sich mit mir herumzuplagen. Wollte in der Zeit lieber sein ausschweifendes Leben genießen, friedlich saufen oder Präparandinnen flachlegen. Am besten beides zugleich. Ich war ziemlich am Ende mit meiner Überredungskunst, als ich beschloss, meine absolut letzte, dafür unkonventionelle Trumpfkarte aus dem Ärmel zu ziehen. Gerd konnte zwar tüchtig trinken, aber nicht tüchtig essen, weil er nie Essen im Hause hatte. Höchstens mal einen Klempner-Imbiss aus dem Kiosk. Ich versprach ihm jedes Wochenende ein fürstliches Mahl, das könnte ich ihm in seinem Gemäuer servieren, aber nur, wenn er mir für jedes Essen einen brauchbaren Gitarrenakkord beibringen würde. Der Lebemann merkte auf, überlegte nicht lange und der Kuhhandel war beschlossene Sache. Es fiel nie auf, wenn ich vom häuslichen Menü einige Häppchen entwendete, um sie in Einmachgläsern verpackt meinem Musiklehrer als Honorar vors Bett zu stellen. Wenn ich erschien, schlief Gerd noch tief und fest, grunzte wie eine Elefantenkuh in den Wehen. Endlich erwacht, machte er sich schlaftrunken und mit übelriechender Alkoholfahne gierig über das vor ihm aufgebaute Warm-Kalt-Büfett her und lobte ausdrücklich den fein abgeschmeckten Gurkensalat meiner Mama. Nach den Bacchanalen rauchte er noch genüsslich eine Zigarette. Dann begann der Unterricht. Tatsächlich lernte ich die Griffe flink. Die Fingerkuppen schmerzten zwar fürchterlich vom stählernen Druck der Gitarrensaiten. Doch bald, nachdem sich Horn darauf gebildet hatte, war ich beschwerdefreier Musikantenlehrling. Ich besaß kein eigenes Instrument, sondern klimperte auf der Leihgabe von Gerd herum.

In dieser Frühphase meines musikalischen Wirkens traf ich unseren Bürgermeister. Obwohl ich noch weit davon entfernt war, auch nur halbwegs musizieren zu können, versprach ich ihm, sofort einen Dorf-Singe-Club zu gründen. Der könnte dann, zum Beispiel zum ersten Mai, der Jubelfeier, mit schwungvollen Songs würdigen Glanz verleihen und alle Ohren würden Augen machen. Das bahnbrechende Vorhaben würde aber nur dann gelingen, wenn ein Instrument verfügbar wäre. Der sonst ungenießbare, cholerische Dorfschulze, der jeden Bürger, der mit einem Anliegen vorsprach, prophylaktisch herunterputzte, weil er meinte, das gehöre zu seinem Job, witterte kulturpolitische Beiträge von Rang, gab seiner Stimme einnehmenden Klang und verwies auf den Boden des Gemeindehauses, wo seit ewigen Zeiten eine Westerngitarre vor sich hin verstaubte. Das wusste ich. Mein Plan ging auf. Er überreichte mir mit weihevoller Miene das kostbare Instrument, sozusagen als Basisequipment für die künftig musizierende Kampfreserve der Partei in unserem Dorf. Als am ersten Mai der Singe-Club noch immer fiktiv und deshalb stumm blieb, zog unser enttäuschtes Dorfoberhaupt erbarmungslos die Klampfe wieder ein, um sie dem verstaubten Dachboden zurückzugeben.

Alljährlich jobbte ich in den Sommerferien. Nach dem Abitur hatte ich mich als Aushilfskellner im hiesigen Ausflugslokal direkt am See beworben und wurde eilends als vollwertige Servicekraft den Gästen zugemutet. Kein Mensch erklärte mir irgendetwas, dafür ging es sofort mit voller Pulle Schnaps und Bier Herumschleppen los. Meine erste Flasche Sekt, die ich servieren musste, hatte bei brütendheißem Sommerwetter wohl zu lange ohne Kühlung rumgestanden und deshalb nicht die optimale Genusstemperatur. Nach meiner mehr als stümperhaften Explosionsentkorkung ergoss sich die teure Flüssigkeit als Fontäne direkt ins Riesendekolleté einer distinguierten Dame. Das war peinlich und delikat zugleich. Ich murmelte so etwas Blödsinniges wie gehobene Klasse darf in Champagner baden und unternahm am pikanten Ort ungeschickt pikante Trocknungsversuche. Die Dame vollführte derweil ein Mienenspiel, als hätte sie gerade Essig und Honig zusammen verschluckt. Da eilte mir zum Glück Günter zu Hilfe, Charming-Boy als Kellner und noch mehr als Frauenaufreißer. Er war reichlich älter als ich und die Saisonhilfe aus Berlin. Einfühlsam und mit Kennerhand betupfte er den üppigen Vorbau der begossenen Grande Dame. Mit seiner weichen Kognak-Stimme hauchte er beruhigend übers feuchte Dekolleté. Und es schien, als wolle die vornehme Frau gar nicht von ihm beruhigt werden, denn mittlerweile schaute sie nicht mehr so grantig drein. Kurz vor Feierabend nahm Günter regelmäßig die anwesenden Frauen ins Visier, traf routiniert seine Wahl, umhüllte die Angebetete mit süßlichen Schmeicheleien, sanft, wie mit einer wohltuenden Lotion, um sie nur wenig später zielstrebig in seine angemietete Dachkammer zu schleppen – und dort schonungslos durchzuvögeln. Auch die ältliche Champus-Dame ließ sich nur allzu gern in sein schräges Kabuff deportieren. Dort hat der attraktive Günter sie endgültig trockengerubbelt oder ganz im Gegenteil. Wahrscheinlich war die gar nicht so alt und ich nur so jung.

Es ist tiefe Nacht. Meine Aufzeichnung muss ich unterbrechen. Ich spüre einen Kloß im Hals. Der wird so unerträglich und ist schuld, dass ich kaum noch atmen kann. Ich öffne meinen Kragen. Bloß jetzt nicht weinen. Wie ist aus dem lieben Jungen, der ich einmal war, der Insasse geworden, der auf den weißen Vollmond blickt, dessen wundervoller Kreis vom Zellengitter in gleichförmige Teile zergliedert wird.

Bravourös in die Suppe gespuckt

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