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ОглавлениеUli Grunewald
Bravourös
in die Suppe gespuckt
Inhalt
Herr Ulbricht versprach, keine Mauer zu bauen
Mannis Vater war Gendarm und eine gefährliche Drecksau
Onkelchens Jähzorn war bemerkenswert für einen heimlich Schwulen
Kaltlächelnd trennte die schicke Frau den Kopf vom Rumpf
Mit zehn Jahren rauchte Alexander konsequent auf Lunge
Bitterlich weinend neben dem gefallenen Pferderiesen
Opa war eine Respektsperson und bis ins hohe Alter scharf wie Pfefferchili
Schiss vor dem widerlichen Geruch des Todes
Ausmarsch – nun soll aus mir was werden
Papa mahnte, ja nichts mit einer Rothaarigen anzufangen
Johann sah aus wie George Cloony für ganz Arme
Lehrer sein machte Spaß, dann kam die Lärmphobie
Schulwechsel bravourös, bravourös daneben
Vom Kellerarbeiter zum Wohlstandsbürger
Leichenteile schwammen in der Badewanne
Beinahe hätte es den ersten DDR-Clochard gegeben
Als Unternehmer rechtlos und schwerelos
Von rosaroten Schweinchen, mausetoten Autofahrern und anderen Katastrophen
Grüne Entenscheiße in weißer Dauerwelle
Michael Dougles ganz kitschig und Tina Turner ganz traurig
Italien sehen und beinahe sterben
Rudis Ohrfeige war kräftig gesetzt und sehr berechtigt
Marlies wollte keine Liebe, sondern Sex
Ein Goldesel für mich, eine Wasserleiche für die Bildzeitung
Mit seinem Vorschlaghammer wollte er mich kaltblütig erschlagen
Schnick-Schnack-Schnuck in einer Klapsmühle
Kackfrech mein Drehbuch geklaut
Eine dicke Kameradschaft, die in einem noch dickeren Desaster endete
Tante Inge fraß sich zu Tode, dann krachte ihr Häuschen zusammen
Gabi, Patrik, Porno-Dieter und schlechtes Benehmen
Das größte Wagnis meines Lebens
Multimillionär mit zehn Millionen Miesen
Auf Pazific-Island gab es Slipeinlagen als Stirnband
Um ein Haar hätte Lonzo auf die weißen Schuhe von Mario Adorf geschissen
Als mein Auenland vollendet war, empfand ich das als surreal
Der Wind blies eiskalt von vorn
Es brach der Pool, das Wasser lief davon und ich am liebsten auch
Onkel Christian saß vor uns im Rollstuhl, Fernseh-Gottschalk stand hinter uns in Malibu
Wir hatten abgemacht: Wenn, dann nur im Swinger Club
Der Chef der Pavian-Horde zerfleischte ihm das Gesicht
Alles Verloren. Meine Existenz und mich selbst
Chinesen sind eine eigentümliche Spezies
Wenn um dich herum Sämtliches implodiert, ist dein Leben wohl zu Ende
Perdu! Und fröhlich klingt der Schlussakkord in Moll
Wer immer tut,
was er schon kann,
bleibt immer das,
was er schon ist.
Henry Ford
Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben. Ich sitze im Knast. Ich, der kluge Junge, der ideenreiche Schöndenker, der findige Geldmacher, der redegewandte Sympath. Ich, das rücksichtslose Muttersöhnchen, angefüllt bis zum Stehkragen mit Widersprüchen und Unstimmigkeiten. Ich, Ich, Ich, die vielen Ich`s, immer wieder. Zu viele in meinem ruinierten Leben.
Seit zwei Tagen bin ich in Untersuchungshaft. Ob ich verurteilt werde, ist ungewiss. Vielleicht gibt es nicht einmal eine Verhandlung. Wer weiß? Mein Anwalt ist keine große Nummer, dafür zuversichtlich. Ich glaube, ich habe Tränen in den Augen. Ich schließe sie und spüre kleine Rinnsale auf meinen Wangen. Zwei kühle Striche. Ich schlucke. Vor Selbstmitleid tut mir der Magen weh und weil ich an Mama denke. Sie weiß nicht, wo ich bin. Nun ist sie alt, doch ihre Güte und Lebensklugheit haben sie nicht verlassen. Sie liebt die Menschen und sieht in ihnen nur das Gute. Wie soll sie das verkraften, wie soll sie diesen Kummer und diese Sorge um mich ertragen. Um ihren Sohn, den sie über alles liebt und der ihr Lebensinhalt ist. Ihr Sohn, dieser Idiot, hat so viel gewonnen und am Ende jegliches verloren. Dass ausgerechnet ich dieser Idiot bin, ist schwer auszuhalten. Wachte ich früher aus einem Albtraum auf, fühlte ich Erleichterung. Heute ist das nicht mehr so, weil die Wirklichkeit noch schlimmer ist.
Meine Vorfahren wurden ausnahmslos steinalt und deren eisenharte Gene bescherten mir bislang die mustergültige Gesundheit. Heute, am 22. November 2012, eingesperrt und Mitte Fünfzig, spüre ich das erste Mal meinen Körper. Ohne Schmerzen und ohne erkennbare Symptome fühle ich mich krank. Nun sind alle vorwärtstreibenden Kanten abgeschliffen. Ich hasse Larmoyanz, jetzt muss ich sie selbst erdulden. Sie hat mich aufgesogen wie ein Strudel, in dem man rettungslos versinkt. Jene innere Stimme, die schönreden und helfen könnte, schweigt unerbittlich. Gegen Gewissheit kommt sie nicht an. Gewiss ist, dass ich in Gewahrsam und verloren bin. Mach dir das klar, mein Lieber. Du hast deine Zukunft hinter dir.
Nun meldet sie sich doch, jene Fachabteilung meiner inneren Stimme, die zuständig ist für Dur und Zuversicht. Nur zaghaft versucht sie ihr Glück. Will sich Gehör verschaffen. Vielleicht wird am Ende doch noch irgendetwas gut. Stets habe ich einen Weg gefunden. Auch wenn die Dinge sich noch so derb gegen mich wandten, konnte ich sie zuletzt doch zu meinen Gunsten fügen. Und gestern, war das etwa jener Schimmer, nach dem ich verzweifelt Ausschau halte. Gestern, wie merkwürdig unwirklich das war. So kurz nach meiner Überstellung erschien in meiner Zelle gegen Abend dieser mir fremde Mensch. Ich verstand nicht. Wegen meiner Verwirrtheit, Niedergeschlagenheit und Verzweiflung nahm ich ihn zunächst nur wie im Nebel wahr. Alles schien verschwommen. Doch die Bestimmtheit seiner Worte, ließ die Eintrübung verschwinden.
Tim Strelow stellte sich mir als Journalist sowie Drehbuchautor vor und arbeite außerdem als Kunterbunt-Lektor für Buchverlage. Ich war noch von den Ereignissen wie benommen, als der achtsam eröffnete, ich solle mir keine übergroßen Sorgen machen, weil er mir helfen könne. Er fragte mich, ob ich ihn nicht kennen würde, schließlich seien wir mal so etwas wie Kollegen und später wäre er oft Gast bei mir gewesen. Nur aus dem fernen Irgendwo kam mir sein Gesicht bekannt vor. Aber ich erinnerte mich nicht. Komisch, sonst merkte ich mir doch jede Visage, das Einzige, was ich mühelos und wie von selbst nachhaltig zu speichern vermag. Der Mann sah blendend aus. Mit vielleicht Mitte vierzig war sein dunkles Haar leicht von Grau durchzogen und makellos in Form gebracht. Noch im Dämmerschein meiner Zelle leuchteten seine auffallend blauen Augen, ein gepflegter Schnauzbart verlieh seinen markanten Gesichtszügen Manneswürde. Und über dem schwarzen Jackett trug er einen auffällig gebundenen Schal. Sind Männer attraktiv und ohne schwule Attitüden, dann gestatte ich mir durchaus den Gedanken, auch an anderen Ufern spazieren zu gehen. Tim Strelow war auffallend gut aussehend. In meiner Lage über derlei Neigungen zu reflektieren, war absurd, lachhaft und so unglaublich wie alles im Moment.
Sein Gesicht schien entspannt und dennoch konzentriert. Als er sich nah zu mir beugte und mit ruhiger Stimme eindringlich sprach, ruhte sein Unterarm auf der kühlen Knasttischplatte. Die trennte und einte uns zugleich: „Herr Grune, Sie wundern sich bestimmt über mein unvermitteltes Erscheinen, aber lassen Sie es mich bitte so erklären: Ich will die Chronik vom Ende des vergangenen und vom Anfang unseres Jahrhunderts neu erzählen. Schablonen und tausendfach Gesehenes interessieren mich nicht. Ich möchte aus anderer Sicht und Perspektive den Zeitgeist nachempfinden. Es geht darum, Geschichten auszumalen, sie abzubilden und unterhaltend zu erzählen, möglichst ironisch frech. Ich bin auf der Suche nach einer neuzeitlichen Eulenspiegelei. Den markanten Protagonisten jener Tage will ich ins Leben rufen. Mit Witz, hintersinnigem Humor, aber nicht unernst. Und vor allem ohne Zeigefinger, keine Stasi- und Bonzengülle oder die sonst üblichen gesellschaftsrelevanten Bewältigungsarien. Das ist auserzählt. Und Biographien aus der Promi-Liga sind hierfür ungeeignet. Ich brauche die Geschichte eines unordentlichen Lebens und das unartige Gegenstück zu Langweilermemoiren. Ich sage es frei heraus, Grune, ich will dein Leben.“
Aus diesem Stoff wolle er eine Fabel schneidern, als Vorlage zu einer ungemein bahnbrechenden Fernsehsendung für mitteldeutsche Regionalprogramme. Ein Filmchen fürs heimische Erdnuss- und Chipslettenkino…?! Was bitte noch mal?! Alles erschien merkwürdig. Er sagte „Dein“ Leben. Ich sagte nichts. Ich dachte nur, wieso mein Leben? Das war gerade dingfest gemacht worden? Was sollte das hier werden? Ein abgeschmacktes Schelmenstück, der Narr am Boden liegend und zerschmettert. Tragisch-komisch, in der Tat! Oder eher spaßig amüsant bis drollig originell? Strelow sah mich an, schien meine Gedanken zu erraten und erklärte: Er hätte von den jüngsten Ereignissen schnell Wind bekommen, wäre daraufhin gleich hier hergefahren und wüsste bereits viel von mir. Als erstes wollte er mir einen erstklassigen Anwalt besorgen. Der arbeite für seine Verlage und hätte schon so manchen Kopf gerettet. Außerdem solle jener Anwalt ein Schriftstück aufsetzen, das alle meine Rechte sichern würde. Strelow wurde deutlich:
„Ich kann verstehen, dass Sie überrascht, wahrscheinlich irritiert sind, weil wir ausgerechnet hier und jetzt zusammentreffen. Aber möglicherweise ist das der richtige Moment, um jenes Vorhaben mit Ihnen zu besprechen. Sie können sich alles in Ruhe überlegen, haben jedes Mitspracherecht und riskieren nichts. Ich habe Ihnen ein Gerät mitgebracht, das ist phantastisch. Mit seiner Hilfe können Sie Ihren Gedankenwelten, Reflexionen, Einfällen und Imaginationen mühelos Gestalt verleihen. Sie sprechen, die Maschine schreibt und visualisiert synchron. Eine Audio-Taste gibt es natürlich auch, wenn Sie eine Wiedergabe wünschen. Und ich kann später das Resultat Ihrer Kopfarbeit problemlos ordnen, verdichten und in die geforderte Form verwandeln. Fangen Sie mit Ihrer Geschichte einfach von vorne an und reden Sie frei von der Leber weg. Ich bin mir sicher, Sie können das. Was meinen Sie, haben Sie Lust, sich darauf einzulassen? Gerade jetzt hilft Ihnen das vielleicht. Sie sind ein exaltierter Mensch, der den Auftritt liebt. Wichtig ist, gegen Ihren Willen wird nichts geschehen.“
Unverständlich, aber er schien mich tatsächlich gut zu kennen. Aus welchem Versandhaus nur hatte er seine Informationen bekommen?! Und wieso offerierte Strelow sein Vorhaben so siegessicher ohne Konjunktive. Wie unwirklich. Mein Ausnahmezustand hatte nun biblische Ausmaße erreicht. Es klang glaubhaft, als Strelow bei der Verabschiedung versicherte, er würde bald wiederkommen und alles mit mir und dem Advokaten en Detail besprechen. Nach seiner Rede, die nicht einmal fünf Minuten dauerte, war ich nicht im Stande, Vernünftiges zu denken, geschweige denn zu sagen. Ich nickte nur und bedeutete eine Gefühlsmischung aus Skepsis und Geneigtheit. Nun bin ich wieder allein. Nur dieses Sprechen-Schreiben-Wunder-Ding leistet mir Gesellschaft und liegt vor mir auf dem Tisch. Screenwriter nennt sich das schwarze Prachtstück, es ist das Neueste auf dem Markt und vorerst nur in Fernost zu haben. Es sieht aus wie meine alte Schiefertafel, auf der ich als Kleinkind kritzelte. Dagegen dieses Juwel scheint gläsern und glänzt wie stundenlang poliert. Was hatte Strelow noch einmal gesagt? Ich brauchte nur einzuschalten und zu sprechen, das Gerät zeichnet auf und zeigt das Gesprochene in Schrift auf dem Tableau. Wort für Wort, haargenau. Ich bin beileibe kein Anbeter von Medienfirlefanzen, doch hiervon würde ich bestimmt beeindruckt sein. Gar nicht schlecht. Wie das wohl gehen mag? Während ich versuche, die Maschine in Gang zu setzen, scheint es, als aktiviere ich auch damit mein Erinnerungsvermögen und überraschend wird der verschüttete Tim Strelow aus meiner untersten Gehirnetage ausgegraben. Ja, richtig, jetzt dämmert es. Jahre ist das her. Der war beim Fernsehen als Redakteur beschäftigt, genau wie ich, nur bei einem anderen Sender. Wiederum Jahre später begegnete er mir wieder. Da war er nackt und schien mich ständig zu beobachten.
Ich drücke den Stecker in die Dose und dann den winzigen Schalter an der schmalen Gehäusekante. Milchig leuchtet die schwarze Scheibe auf und am Rand blinkt die Aufforderung in greller Schrift: You can talk now. Meine Ellenbogen sind auf den Tisch gestützt. In meine Hände, zu einer Muschel geformt, presse ich Nase, Mund und Kinn. Ich atme tief und starre dabei an die Decke meiner Zelle, die die gleiche fahle Farbe wie der Bildschirm hat. Dann höre ich meine Stimme, die mir fremd und losgelöst erscheint, als gehöre sie nicht zu mir. Dennoch spreche ich weiter – leise, zögernd – und verlasse diesen jämmerlichen Raum:
Die Vorstellung, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind, hat mir stets gefallen. Funktioniert hat das natürlich nie. Zumal ich mich, im Widersinn dazu, ständig für Neues interessierte. Oft genug war das ausgefallen und abseitig von der Normalität. Vieles von dem, vermutlich zu viel, habe ich ausprobiert. Einige von der Heilkünstler-Innung meinen, dass sich das Innenleben der Menschen alle sieben Jahre umkrempelt. Und bei manchen, so wie bei mir, krempelte sich das Außenleben gleich noch mit um. Mein Wechsel-Zyklus allerdings brauchte nur drei Jahre für die ganze Umkrempelei. Und so hatte mich das Leben hin und her geschleudert. Alles ist nur halb geglückt, wenn überhaupt. Nichts habe ich zu einem guten Ende führen können. Ich bin ein Fünfzig-Prozent-Vielkönner. Diese Erkenntnis gibt keinen Anlass zu überbordendem Freudentaumel. Und nun soll ich die ganze Wahrheit offenbaren.
Mama hatte oft gesagt, ich solle doch alles aufschreiben, weil es so außergewöhnlich sei, was ich erlebte. Sicher würde mir meine Mum diese Empfehlung nicht gegeben haben, wüsste sie von all meinen bizarren Eskapaden und den rabenschwarzen Abgründen. Nun ist der Tag gekommen, an dem ich zwar nichts aufschreibe, aber reden werde. Ein Monolog. Geht das überhaupt? Aber vielleicht wird das mein Rettungsanker? Vielleicht. Von wegen, vielleicht. Bescheuert bin ich, das zu glauben. Was kann mich noch retten? Nichts. Und nichts kann mich mehr gefährden, auch wenn ich mich nun ausziehen werde bis auf die Haut. Am Ende werde ich dastehen wie der vitruvianische Mensch, nackt und von aller Welt vermessen. Was macht das noch? Also wage ich mich auch noch an dieses Abenteuer, begleitet von einer fernöstlichen Computer-Rarität. Eines allerdings ist sicher, nie könnte ich bücherfüllende Geschichten erfinden, auch nicht im Reclam-Format. Darum ist, was nun folgt, wirkliches Leben – zumindest aus meiner Erinnerung.