Читать книгу Bravourös in die Suppe gespuckt - Uli Grunewald - Страница 3
Das erste Entsinnen Herr Ulbricht versprach, keine Mauer zu bauen
ОглавлениеMit kurzer Lederhose, langen Blondlocken und dem Terrier-Mischling Purzel, der festgebunden am wackeligen Holzroller hängt, so stehe ich mit sechs Jahren auf dem kleinen Platz vor unserer Hoftür, mitten in einer Wolke aus duftendem Wiesenheu. Das hatte mein Großvater zum Trocknen hier ausgebreitet. Damals war ich ein zierliches, niedliches Kerlchen, was sich später ändern sollte. Diese Erinnerung habe ich wahrscheinlich nur deshalb, weil es davon ein winziges Schwarzweißfoto mit Zackenrand gibt. Meine Kindheit hätte eine Mischung aus schnulziger Heidi mit ihrem Geißen-Peter und den Heiden von Kummerow werden können, wäre da nicht mein tyrannischer Vater gewesen. Mama arbeitete zu Hause. Das fand ich großartig. Wenn die anderen Kinder zur Nachmittagsschicht im Kindergarten ausharren mussten, weil beide Eltern in sozialistischen Großbetrieben Geld verdienen mussten, trabte ich froh heimwärts, in unser jahrhundertealtes Lehmgemäuer. Daheim angekommen, wurde ich liebevoll und mit einem zünftigen Mittagbrot empfangen. Das war häufig zu zünftig, denn aus dem niedlichen Blondschopf wurde bald ein dicker Landjunge. Bis zum heutigen Tag habe ich mir gewünscht, schlank zu sein. Das ist mir nie gelungen. Aber schon damals, als kleiner Mensch, genoss ich die Freiheit und Natürlichkeit des Landlebens. Lag ich zu Tagesende in meinem Bett, konnte ich aus meinem Schlafbüdchen den alten Kirchturm sehen, auf dem an warmen Sommertagen ein Amselhahn sein melancholisches Abendlied für mich pfiff. Ich fühlte mich geborgen und wusste, dass ich behütet schlafen würde.
Am schönsten aber war für mich die ständige Nähe zu unseren Haustieren. Schon damals waren Tiere für mich lebenswichtig. Das ist bis heute so geblieben. Unzählige Male haben sie mir Momente der Einsicht, Heiterkeit und Entspannung vermittelt. Das haben Menschen nur selten vermocht. Manches war dabei auch traurig, eben wie das Leben selbst. Stundenlang konnte ich dem tierischen Treiben um mich herum zuschauen und liebte es, niedliche Ziegenlämmer auf den Armen herumzuschleppen.
So konnte ich es kaum erwarten, dass unsere zwei Geißen im Frühjahr ihre Jungen bekamen. Und wie entsetzt war ich, als ich nichtsahnend Tage später im Kohlenschuppen zwei winzige Felle hängen sah, die mein Großvater dort zum Trocknen aufgehängt hatte. Ich stellte mir die geballte Grausamkeit des Schlachtens bis in alle widerwärtigen Einzelheiten vor. Und sah, wie mit groben Händen die kleinen, schneeweißen, zuckenden Körper auf dem Schlachtbrett festgeschraubt wurden. Ich hörte das gurgelnde Röcheln der durchtrennten Kehle, sah das Blut am baumelnden Kopfe herunterrinnen und glaubte den Schmerz zu spüren, den diese reizendsten aller Tier-Geschöpfe durch die kalte Messerklinge erleiden mussten. Die Ursprünglichkeit des Lebens, auch mit seinen derben Seiten, wurde mir so früh vermittelt und fühlbar bewusst.
Unsere Ziegen, die am Leben bleiben durften, hatten es augenscheinlich richtig gut. Mama, die Tiere ebenso liebt wie ich, sorgte dafür, dass sie von ständiger Kettenhaft befreit wurden und ich für frisches Sommergrün von der kargen Weide hinterm Kirchberg. Bei sonnigem Wetter rüstete ich mich aus mit Buch, Wolldecke und natürlich einer opulenten Zwischenmahlzeit. So zog ich los mit der zierlichen Lissy, der selbstbewussten Jenny und dem Rest der Herde. Sie folgten mir wie dressierte Hunde. Am liebsten mochten sie den Klee unseres mürrischen Nachbarn, der sich bei meinem Großvater über meine Unverfrorenheit und die der Ziegen wutschnaubend beschwerte. Opa nahm jene Schimpfkanonaden gelassen und mit vorausschauendem Pragmatismus hin. Denn am Ende gab frischer Klee, egal woher, die beste Ziegenmilch. Die Jungen aus unserem Dorf versuchten mich zu hänseln, gaben mir Spitznamen, die auf mein gelegentliches Hirtendasein abzielten und kamen damit nicht weiter, weil ich ihren Schmähungen mit Gleichmut begegnete. Niemand wusste, dass das Ziegenweiden mir meinen ersten sexuellen Höhepunkt einbrachte. Ein älteres Mädchen lud mich zu Doktorspielchen auf der Kamelhaardecke ein. Das war deutlich aufregender, als nur die Hippen im Herbst vom Bock bespringen zu lassen.
Jenny war die aufgeweckteste von unseren Geißen, von ungewöhnlich mächtiger Statur und selbstbewusst. Sie konnte manchmal boshaft sein. Wenn sie Lust hatte, stieg sie in ihrem Stall an der Mauer empor und schaute neugierig auf den Hof. In unmittelbarster Nähe hatte mein Vater seine Tauben untergebracht und beobachtete in gedankenversunkener Stille ihr flatterhaftes Treiben. Dazu hatte er sich unglücklicherweise direkt an dem Stallmauer-Quartier angelehnt, in dem Jenny residierte. Diese hatte für derartig beschauliche Momente meines Papas geringes Einsehen. Sie stieg empor, machte einen langen Hals und schnappte zu. Mit einem kräftigen Ruck zerrte die alte Geiß an der Haarfrisur meines Vaters, die er täglich in beängstigende Form zu striegeln pflegte. Die hinterlistige Ziege hatte ein gehöriges Büschel der gut geölten Haare ausgerissen und flüchtete sofort ins sichere Hinterland ihrer Residenz. Vor Verblüffung und Schmerz schrie der Gefolterte auf. Als Folge dieses heimtückischen Überraschungsangriffes flog die Papa-Brille in hohem Bogen von der Nase und auf Nimmerwiedersehen direkt in die Jauchengrube nebenan. Längst stand die Missetäterin mit gespielter Unschuld kauend an ihre Futterraufe, als ihr der zu Tode Erschrockene die Pest oder wenigstens den Ziegenpeter an den Hals wünschte.
Alljährlich schlachteten wir zwei fettgemästete Schweine und fraßen die übers Jahr planmäßig auf. Es gab drei Hausschlächter, die bei uns ihr blutiges Handwerk versahen. Ausnahmslos haben sie sich alle im Greisenalter ihr Bolzenschussgerät an den Kopf gesetzt und sich so vom Leben in den Tod befördert. Ist das nicht seltsam!? Oder müssen Menschen Schaden nehmen, wenn sie damit beschäftigt sind, ein Leben lang Leben zu liquidieren?