Читать книгу Oh nee, Boomer! - Uli Hannemann - Страница 10
Forever young
ОглавлениеEines Freitagmorgens in der Yogastunde bemerkte ich die Veränderung. Wir sollten, mit den Armen über dem Kopf auf dem Rücken liegend, mit beiden Händen den jeweils anderen Ellbogen ergreifen. Für meine Mitschülerinnen war das kein Problem. Ich aber mühte mich vergeblich – die Arme mussten auf einmal zu kurz geworden sein, denn bis dahin war mir das immer gelungen. Ich sah, wie Carola, die Lehrerin, zu mir herüberblickte. Mit ernster Miene notierte sie etwas in ein neben ihrer Matte bereitliegendes Oktavheft.
Während ich mich mit zunehmend rotem Gesicht abmühte, musste ich an meinen Schulreifetest denken:
Mit fünf Jahren war ich dafür ungewöhnlich jung gewesen. Der Amtsarzt forderte mich auf, mit dem rechten Arm über den Kopf hinweg mein linkes Ohr zu berühren. Ich glaube, meine Mutter half noch etwas nach, indem sie heimlich drückte. Ich muss es wohl geschafft haben, denn der Doktor machte ein Häkchen. Ich war stolz auf meine Leistung. Bis zum Ende meiner Schullaufbahn blieb ich stets der Jüngste in der Klasse.
Nach heutigen Erkenntnissen ist es natürlich schwer zu verstehen, warum man die Kinder nicht einfach fragte, was eins plus drei ist, wie das kleine Tier mit den Stacheln heißt oder ob sie überhaupt schon in die Schule wollten, aber früher war das eben so: Ärmchentest.
Nach der Yogastunde kam Carola zu mir. Sie wedelte mit ihrem Notizbuch. »Ich muss das melden«, sagte sie. »So leid es mir tut, aber ich komme sonst in Teufels Küche. Dann machen die mir hier den Laden zu, und ich kann sehen, wo ich bleibe. Ich hab nun mal ein Kind zu versorgen.«
Ich ahnte, dass ich tief in der Tinte steckte. Es war ja nicht so, dass sich die Zeichen nicht bereits zuvor gemehrt hätten. Denn schon seit Längerem hatte ich mich seltsam klein gefühlt. Ich kam auf dem Stuhl sitzend nicht mehr so richtig mit den Füßen auf den Boden und machte wieder öfter in die Hose. Das alles hatte ich auf mein Alter und dessen Begleiterscheinungen zurückgeführt. Gewissermaßen hatte ich sogar recht damit, allerdings anders, als ich gedacht hätte.
Kaum eine Woche später bekam ich Post.
»Lieber Uli-Schnulli. Uns wurde gemeldet, dass deine Ärmchen zu kurz sind. Du giltst somit als nicht eingeschult«, stand in dem Schreiben. Aus nachvollziehbaren Gründen hatte man sich in der Anrede gegen die Höflichkeitsform entschieden. »Des Weiteren werden dir der Hauptschulabschluss, die Mittlere Reife und das Abitur unehrenhaft aberkannt. Daher hättest du auch nicht an der FU Berlin studieren dürfen. Ein entsprechendes Betrugsverfahren wurde von der Berliner Staatsanwaltschaft eingeleitet. Liebe Grüße, Elisabeth Sack, Bezirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport für den Bezirk Neukölln in Berlin.«
Ihr Titel war fast so lang wie der ganze Brief. Doch das war es nicht, was mich beschäftigte. Sondern mein Abitur. Mein schönes bayerisches Landabitur, bewerkstelligt einst an einem schönen bayerischen Landgymnasium, also alles vom Feinsten: Latein, Französisch, Anschreien, Strammstehen. Und nicht so ein preußisches Klippschulzertifikat, das den grenzdebilen Absolventen mithilfe gleitfähiger Leistungsfächer wie Origami oder Poledance nahezu ruckfrei in den Popo geschoben wurde.
Man hatte mir die Schulreife entzogen. Und was noch schwerer wog: ausdrücklich unehrenhaft. Das hatte zur Folge, dass ich selbst nach einer Sperrfrist sowie erfolgreich bestandener MPU keinen neuen Anlauf auf den Erwerb des Abiturs unternehmen dürfte, sondern auf einer schwarzen Liste landete, die mir lebenslänglich den Besuch jeglicher wie auch immer gearteten Lehreinrichtung verwehrte. Symbolisch würde dieser Amtsbeschluss besiegelt, indem man mein Abiturzeugnis öffentlich an das Portal einer entweihten Kirche nagelte und von saarländischen Sonderschülern mit Exkrementen bewerfen ließ. Die sogenannte »Causa sine minima ratio perplex« von 1637 galt für Fälle wie meinen nach wie vor als Höchststrafe. Auch wenn ich eines Tages entgegen sämtlicher Prognosen mit dem Arm doch wieder das Ohr erreichen sollte, wäre die Sache für mich endgültig gelaufen. Das alles hatte ich der Yogalehrerin zu verdanken.
Und noch vieles mehr. Bereits am nächsten Tag kamen Mitarbeiter des Ordnungsamts, die Personalausweis, Führerschein und Kreditkarte einzogen und im Hof mein Fahrrad »anpassten«, wie sie sich ausdrückten. Der Sattel wurde tiefer gestellt und die 26-Zoll-Reifen durch 14er ersetzt. Ich war nun offiziell nicht mehr erwachsen. Auch mein Mietvertrag war ungültig geworden. Dann nahmen sie mir mein Geld ab, um es »für deine Zukunft« auf ein Sparbuch einzuzahlen.
»So, kleiner Mann«, sagte einer der Männer nach Beendigung der Arbeiten und strich mir unbeholfen über den Kopf. »Jetzt kannst du wieder zum Spielplatz fahren.«
Dort versuchte ich gerade, die Rutsche hochzuklettern, als mich die nächste schlimme Überraschung ereilte. Die Polizei kam wegen des angekündigten Betrugsverfahrens. Ich war zwar nicht mehr strafmündig, doch natürlich ein Risiko für mich und die Gesellschaft. Ich wurde in einer Noteinrichtung untergebracht, bis das Jugendamt meine Eltern erreichte. Das Gespräch dürfte kurz gewesen sein. Die Aussicht, bis an ihr Lebensende auf ein vierundfünfzigjähriges Vorschulkind aufzupassen, ließ die über Achtzigjährigen nicht gerade vor Begeisterung im Kreis humpeln. Dazu hatte meine Mutter damals nicht den Schularzt überlistet. Aber sie hatten keine andere Wahl, denn sonst käme ich ins Heim. Das brächten sie nicht übers Herz. Immerhin wurde das Zugticket vom Amt bezahlt.
Und wieder bin ich der Jüngste. Zu Hause wartet mein Kinderzimmer. Hoffentlich sind die Schlümpfe noch da. Mit brennenden Augen blicke ich aus dem Fenster des Schnellzugabteils, das für allein reisende Kinder reserviert ist. Nur eine Ordensschwester der Bahnhofsmission begleitet uns. Sie achtet darauf, dass wir rechtzeitig aufs Zugklo gehen und uns hinterher auch schön die Hände waschen. Draußen zieht die Endmoränenlandschaft vorüber, kahle Bäume, braune Wiesen und schmutzig orangefarbene Baumärkte. Am Rande einer Bundesstraße streiten sich mehrere Krähen mit einem Bussard um die Filetstücke eines überfahrenen Waschbären. Mama, ich komme.