Читать книгу Oh nee, Boomer! - Uli Hannemann - Страница 8
Ein Buch mit leeren Seiten
ОглавлениеJedes Mal, wenn Radfahrer auf dem Bürgersteig für meinen Geschmack zu dicht an mir vorbeifahren, bekommen sie von mir verlässlich ein in die Seite gebrummeltes »Arschloch« mit auf den Weg. Es ist wie ein Reflex.
Und so habe ich den bewährten Fluch schon auf den Lippen, als sich eine Frau mit einem sperrigen Lasten-Bike, in dem offenbar ihr ganzer Wurf verstaut ist, zwischen mir und einem Baugerüst hindurchquetschen möchte. Doch stattdessen lasse ich sie, wohl aus einer instinktiven Eingebung heraus, stumm passieren, ja trete sogar noch freiwillig ein Stück beiseite. Erst dann erkenne ich in ihr die Freundin einer Kollegin. Ein kurzer Gruß, ein schlampig aufgesetztes Lächeln und weiter. Sie ahnt nicht, welchem Schimpf sie gerade knapp entgangen ist. Puh.
Umso mehr, da ich in solchen Fällen zu gegenderten Beleidigungen neige. Als eine mir flüchtig bekannte Radiomoderatorin mich mit ihrem Rad mal ohne hinzugucken übel schnitt, entfuhr mir automatisch ein »Och nö, Häschen«. Sie drehte sich kurz um und zwitscherte: »Sorry.« Ich lächelte so säuerlich wie falsch und hegte die begründete Hoffnung, dass sie mich nicht gehört hatte. Andernfalls hätte sie sich ja wohl kaum entschuldigt, weil dann wären wir ja quitt gewesen.
Man kann das Kind ruhig beim Namen nennen: Das ist nicht korrekt. Ich weiß das natürlich. Ich bin kein Heiliger, auch wenn die meisten das von mir denken, das ist mir schon klar. Für sie bin ich immer nur Ikone, silbergraues Sexsymbol, Liebling der Massen. Die enttäusche ich nun natürlich, doch ich will hier wenigstens dieses eine Mal ehrlich sein.
Natürlich niemals das F-Wort. Gegenüber Frauen schon mal prinzipiell nicht, und ohnehin wäre das, am Anlass gemessen, ein gewaltiger Overkill. Aber so ein halb ironisches »Häschen« kann mir schon mal entschlüpfen. Das fände ich normalerweise auch nicht so ganz die feine Art, doch genau deshalb mache ich das ja. Wie Jod brennt es erst, bevor es heilt und nützt. Sie merken sich das auf diese Weise Erlernte besser, und ich kann die alte Sau rauslassen – eine klassische Win-win-Situation.
Vierzigjährigen rufe ich im Wilden Westen des Straßenverkehrs hingegen gerne mal ein »Ach nee, Muttchen« zu, im gespielt gutmütigen Tonfall des in der Routine bitter gewordenen Altenpflegers, denn obwohl oder eben gerade weil auch die mittlerweile fast schon wieder meine Töchter sein könnten, verletzt es in seiner boshaften Anmaßung ganz besonders, und das ist schließlich der Zweck. So beleidigt das tapfere Schneiderlein: Sexismus, Ageismus und ein bisschen Lookismus auf einen Streich – ein eleganter, ein großartiger Kniff, wie ich meine. Besser noch als das F-Wort, denn oft sticht der Degen tiefer als der Säbel. Das nächste Mal fahren die Ziegen bestimmt rücksichtsvoller.
Heute beglückwünsche ich mich allerdings zu der zufälligen Ausnahmeentscheidung, die Frau nicht angeraunzt, sondern ihr in einem unerklärlichen Anflug von Milde im Gegenteil sogar noch Platz gemacht zu haben. Und das, obwohl ich in dem Moment noch nicht mal ihr Gesicht gesehen hatte.
Was für ein Glück! Denn andernfalls hätte sich das doch nur rumgesprochen: »Neulich hat mich so ein Typ am Hermannplatz vollkommen grundlos mit ›blöde Sau‹ beschimpft. Und weißt du, wer das war? Dein komischer Schreibkumpel da, dieser Olli oder so, der hat mich wohl erst nicht erkannt. Und dann aber so rumgenuschelt von wegen ›nicht so gemeint‹ und so. Also ich fand den ja schon immer ganz schön creepy.«
Nein, nicht auszudenken. Einmal mehr stelle ich fest, wie wenig ich möchte, dass die Leute herausbekommen, wie ich wirklich bin. Das ist deswegen merkwürdig, da man mir meistens recht gut anmerkt, wie es in mir aussieht: ob ich verlegen, wütend, ungeduldig, gelangweilt oder aufgeregt bin. Nur wenn ich mich freue, was ohnehin selten geschieht, weiß ich das bestens zu verbergen.
Ansonsten aber bin ich wie ein offenes Buch, wenngleich mit leeren Seiten. Wenn ich es mir recht überlege, bin ich außerdem ein reichlich widerwärtiger Mensch. Doch, Hand aufs Herz, wer ist das eigentlich nicht?