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Die Kamera

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Es geschah, als Alfons fünf Jahre alt war und einige Stunden alleine im Hause zubrachte. Ihm als einem nach dem Urteil seiner Umgebung „vernünftigen“ Jungen und mit seinem kleinen Bewegungsradius traute man zu, gelegentlich unbeaufsichtigt zu Hause sein zu können. Wieder einmal streifte Alfons wie schon so oft durch das Haus, öffnete Schubladen, die er schon oft geöffnet hatte, in der Erwartung, dass sich doch inzwischen noch einmal etwas getan haben könnte – was er erwartete, das war nach wie vor sein Geheimnis –, strich an den Regalen entlang und wiederholte das, was er für jedes einzelne Regal schon unzählige Male erledigt hatte: tasten, einzelne Gegenstände verrücken, Bücher herausholen und dahinter greifen. Und schließlich hielt er inne: Ein neuer, bisher nicht ertasteter Gegenstand ließ ihn vor Erregung erschauern. Rechteckig, schachtelartig, aber metallisch, mit einer runden Vorwölbung auf einer Seite, die wiederum von einer metallisch eingefassten gewölbten runden Glasscheibe geschlossen wurde. Alfons beschlich der Verdacht, dass er das gefunden hatte, was er seit seiner Geburt suchte. Er nahm die Brille ab, die er heute ausnahmsweise auch im Hause getragen hatte, und tastete den Gegenstand noch so lange ab, bis er das runde Guckloch auf der Rückseite erfühlte. Dass es so etwas geben musste, war ihm aus den Erzählungen seiner Eltern über die vielfältigen Möglichkeiten dieser Welt bekannt. Dann hielt er sich diesen Gegenstand, die Kamera, mit dem Guckloch vor sein rechtes Auge und öffnete dies zum ersten Mal in seinem Leben. Nun machte er zwei Entdeckungen: Sein rechtes Auge konnte sehen, und das, was er vor seinem Gesicht hatte, war tatsächlich das, was er gesucht hatte: Mit seinem rechten Auge und mit dem Apparat davor sah er die Welt genau so, wie er sie hatte sehen wollen, nicht unvermittelt, blendend, unerwartet, aufreizend, mit unübersichtlichem Horizont, nicht eine Welt, die ihm diktieren konnte, wie sie gesehen werden wollte. Nein, sie war ordentlich erfasst, mit konzentrischen Kreisen um einen Mittelbereich, mit einfassenden Eckstrichen – das Menü der sichtbaren Welt zubereitet für das Fassungsvermögen und die Fassungsbereitschaft des genau definierten optischen Hungers des Betrachters. Er konnte sie verändern, schärfer machen und verschwimmen lassen. Alfons schwenkte seinen Kopf mitsamt Kamera und war begeistert. Zu Recht hatte er sich jahrelang dem unvermittelten diktatorischen Anblick dessen verweigert, was die anderen die Wirklichkeit dieser Welt nannten. Genau das, was er hier sah, war die Version von Realität, der zu begegnen er geboren worden und bereit war. Die Welt, die er suchte, seine Welt. Nicht irgendeine. Seine.

Ihm war aus den Gesprächen seiner Familie bekannt, dass ein Fotoapparat nicht nur zum Durchschauen, sondern auch zum Festhalten und Dokumentieren der Seh-Früchte gedacht war. Was damit gemeint war und wie das Resultat des Festhaltens aussehen sollte, wusste er nicht. Aber er versuchte diesen Vorgang nun in Gang zu setzen, noch einmal, diesmal wieder mit geschlossenen Augen, den Apparat abtastend nach den Instrumenten, die dies ermöglichen sollten. Es gab einiges, was die fühlenden Finger entdeckten. Ein Rädchen mit Rillen, das sich, immer wieder sanft einrastend, in beiden Richtungen drehen ließ. Er drehte es in beiden Richtungen mehrfach komplett. Es geschah nichts. Ein weiteres Rädchen schien mit einem Griff-ähnlichen Auswuchs verbunden zu sein. Das Rädchen selbst war so schwerfällig, dass es sich nur mithilfe dieses Griffs bewegen ließ. Er setzte seinen rechten Daumen an und drückte den Griff und bewegte das Rädchen, das sich um ungefähr sechzig bis siebzig Grad drehen ließ. Dann stieß es gegen einen Widerstand, und als Alfons seinen Daumen zurückzog, schnellte es von selbst in seine Ausgangslage zurück. Was war nun geschehen? Noch einmal setzte er seinen Daumen an und versuchte den Vorgang zu wiederholen. Vergeblich. Das Rädchen war jetzt festgerastet. Was hatte Alfons da wohl angestellt? Er verzichtete auf weitere Tätigkeiten an diesem Rad, um nicht noch mehr Unheil anzurichten. Die Suche ging weiter. Er ertastete einen etwas schrägen Knopf auf der Vorderfront des Gehäuses neben der runden Vorwölbung. Er berührte ihn, und auf einen leichten Druck hin gab der Knopf nach und verursachte ein leichtes kurzes metallisch knirschend-raschelndes Geräusch. Das klang in Alfons‘ Ohren ordentlich, er hatte diesmal nicht den Eindruck, Schaden angerichtet zu haben. Er kannte das Geräusch, vermutlich hatte er sich in der Nähe befunden, wenn ein Familienmitglied den Apparat betätigte. Was hatte er nun angerichtet? Was tat dieser Apparat? Ein erneuter Druck auf den Knopf blieb erfolglos. Der Apparat hielt nur den einen einzigen Knopfdruck aus. Alfons schüttelte den Kopf. Er legte das Gerät vorsichtig an seinen Platz zurück und beschloss, erst einmal gründlich über alles nachzudenken. Über diesen Apparat und das, was er gerne damit machen würde. Wie soll man sich das vorstellen: das, was man durch ein Loch in der Maschine sehen kann, festhalten. Ein einziges bestimmtes Bild gewissermaßen einfrieren und immer wieder genau dieses Bild durch das Guckloch sehen können? Anderen dieses Bild zeigen, dieses eine Bild? Welche anderen Möglichkeiten gab es? Es musste mehr geben in einem solchen schweren und komplizierten Apparat mit Rädern, Knöpfen und geheimnisvollen Geräuschen.


Der Kameramann

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