Читать книгу Der Kameramann - Ulrich Dehn - Страница 6
Das Hobby
ОглавлениеAlfons wuchs heran, mit Sonnenbrille und jetzt als Schüler, als freiwillig Blinder und zugleich freundlicher Schulkamerad. Er fand Freunde, die ihm zur Hand gingen, eine Lehrerin, die ihm zusätzlichen Unterricht erteilte, einen Lehrer, der ihn an den Sportunterricht heranführte und ihn nicht nur Schwimmen lernen, sondern auch vom Sprungbrett springen ließ, indem er ihn über die Situation des Beckens informierte. Seine Freizeit verbrachte Alfons außer mit den Hausaufgaben mit dem Erforschen der Welt durch den Fotoapparat hindurch. Wann immer es möglich war, alleine oder im Beisein von Familienmitgliedern, holte er den Apparat heraus – dass damit auch offenkundig wurde, dass er für das „Verschwinden“ der zwanzig Bilder verantwortlich war, war ihm gleichgültig – und erkundete die Welt aus der Perspektive des Kameraobjektivs. Die Winkel des Hauses, alle seine Etagen, der Keller, all das, was ihm jahrelang seine freiwillige Blindheit vorenthalten hatte, machte er sich jetzt zugänglich, in einer Form, über die er selbst jederzeit Herr war. Das Haus war die Welt, die nun gründlicher Erfassung bedurfte. Alfons traute sich nicht mit dem Fotoapparat aus dem Haus hinaus, die dann zu erwartende neue Weite und Offenheit war ihm unheimlich. Auch hatte er bisher nicht mit der Kamera aus dem Fenster geschaut. Das schien ihm eine lange Vorbereitung zu erfordern. So blieb er draußen der „blinde“ Alfons und freute sich an der Welt vor dem inneren Auge.
Die Benutzung der Kamera erwies sich als zunehmend schwierig. Auch Georg hatte das „Fotografieren“ als sein Hobby entdeckt, und die Kamera stand nur noch selten zur Verfügung und war das einzige Exemplar ihrer Gattung im Haushalt. Somit wünschte Alfons sich eine eigene Kamera zum Geburtstag und erhielt sie, denn die Familie hatte wahrgenommen, dass er ein spezifisches Verhältnis zur Kamera hegte, das ihn dichter an ein der allgemeinen Normalität vergleichbares Verhalten heranführen konnte. Da allerdings Alfons die Kamera nicht als gelegentlich zu benutzenden Hobbygegenstand betrachtete, sondern als permanentes Weltbeobachtungswerkzeug, wünschte er sich eine Apparatur, die vergleichbar einer Brille den Fotoapparat permanent und stabil vor seinen Augen hielt. Sie musste für ihn angefertigt werden und war schließlich kostspieliger als die Kamera – ein Ungetüm, einem Motorradhelm vergleichbar, der an der Stelle des hochklappbaren Augenfensters eine größere Öffnung mit einer Vorrichtung zum Einschrauben für die Kamera vorsah, verstellbar, so dass gegebenenfalls in späteren Jahren auch eine neue anders gestaltete Kamera eingesetzt werden konnte. Nun stand Alfons die Sicht der Welt, die er wünschte, jederzeit zur Verfügung. Das alleine ließ den Reiz der Möglichkeiten ein wenig verblassen, aber die neue Situation ging ihm bald in Fleisch und Blut über. Alfons durchschritt die Räume der Wohnung, schaute links und rechts, genoss den Blick durch das geöffnete Auge und den Kamerasucher und hatte das Gefühl, nun Herr seiner selbst und der Welt zu sein. Er verstellte die Schärfe und den Blickwinkel und spürte, dass sich in der Modifikation der Perspektive nun ganz neue Dimensionen auftaten. Zoom und Weitwinkel waren zwei Funktionen seiner Kamera, die ihn vor Begeisterung außer Rand und Band geraten ließen. Die damit verbundene Beeinflussbarkeit der Weltsicht regte ihn zu einer Reihe von Experimenten an: Er stellte sich vor ein Bild an der Wand und zoomte es heran. Das bedeutete, dass dieses Bild den Sucherbereich komplett ausfüllte und damit die Welt war. Was er durch die Kamera sah, war sie, die Welt. Es war eine Flusslandschaft mit Bäumen, ein regional bedeutender Maler des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Eine Flussbiegung, der Zustand einiger Bäume ließ auf einen gerade überstandenen Sturm schließen. Solange dies der durch Zoom erzeugte Gesamtzustand der Welt war, konnte Alfons sich vorstellen, diese Welt zu seiner eigenen zu machen, optisch und für sein Leben. Eine Blumenvase auf dem Estrich im Korridor bot sich ebenfalls für ein Experiment des Zoomens an, diesmal mit Hintergrund, den er aber verschwimmen lassen konnte. Die Nachbildung einer chinesischen Blumenvase, mit stilisierten Vogelabbildungen und einer Handvoll von graphischen Zeichen, die Alfons nicht lesen konnte. Er versuchte diese Vase so dicht heranzuzoomen, dass sie die Welt würde und nichts außer ihr, das jedoch, weniger als vierzig Zentimeter Abstand, ließ der Apparat nicht zu. Es blieb beim verschwommenen Hintergrund mit der gestochen scharfen Vase in der Mitte. Er schaute eine Weile darauf, ging weiter und suchte das nächste Objekt. Durch die ganze Wohnung, durch alle Räume, er hielt auf Zierteller, Wandgemälde, Holztüren von Kleiderschränken, Kopfkissen, Schuhständer und einzelne Schuhe, Treppenstufen, die Knäufe des Treppengeländers, Türklinken, Fenstergriffe, Bücherregale, der Flügel im Wohnzimmer und die Noten darauf, Menschen, die auf ihn zugingen, Menschen, die sich von ihm entfernten, Menschen, die saßen, Menschen, die standen, seinen Bruder Georg, ihn anlächelnd, seinen Vater, ihn suchend anblickend.
Alfons verspürte immer wieder das Bedürfnis, etwas noch einmal zu sehen. Er ging zurück, suchte dieselbe Perspektive, dieselbe Einstellung, dieselbe Entfernung. Und doch gelang es nicht, die exakte Rekonstruktion des schon einmal Gesehenen war an keinem Gegenstand möglich. Es gab keine Wiederholbarkeit des lebendig Optischen. Alfons musste sich damit abfinden, dass sein Verzicht auf die Konserve ein Leben aus der Erinnerung bedeutete, ein immer wieder neues Erfinden seiner Umwelt.