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Die Familie und die Welt
ОглавлениеEs war nicht einfach, die Aufregung der Familie zu besänftigen. Wo warst du nur. Kaum haben wir uns zwei Minuten nicht nach dir umgesehen, schon bist du weg. Es hätte wer weiß was passieren können und das gleich bei deinem ersten Ausflug mit dem Helm. Ja, sagte Alfons, es tut mir leid. Ich werde es nicht wieder machen, ich bleibe jetzt immer mit euch zusammen. Sagte er. Aber das bei weitem interessanteste Erlebnis seines bisherigen Lebens hatte er entfernt von seiner Familie gehabt. Es schmeckte nach mehr, es trieb ihn wieder hinaus, in die Stadt, in die Straßen, in die Welt der Unordnung, des Krachens, der fliehenden Autofahrer, der empörten Polizisten. So konnte er schon jetzt ahnen, dass er diese Beteuerung nicht lange beherzigen würde.
Schon am darauffolgenden Nachmittag schlich Alfons sich alleine aus dem Haus und nahm seinen Weg nun in einer anderen Richtung, durch Wohnstraßen mit gepflegten und gut geschnittenen Hecken, durch Straßen mit mehrstöckigen Mietshäusern, und nach einem längeren Fußmarsch gelangte er in einen Stadtteil, der als Kern der kleinen Stadt betrachtet werden konnte. Dort gab es ein großes Warenhaus mit einem großen Platz davor, um den Platz herum weitere größere und kleine Geschäfte, Cafés, Restaurants, und wiederum Schienen für die Straßenbahn. Auf dem Platz Bänke und ältere Menschen auf ihnen sitzend und Stöcke haltend, die um sich herum Taubenschwärme sammelten und mit Brotresten und anderem fütterten und die Taubenschwärme dadurch vergrößerten. Alfons stellte sich an einen zentralen Ort des Platzes, hielt seinen Kamerahelmkopf auf eine der Bänke zu und holte mit seinem Zoom die dort Sitzenden näher an sich heran. Er stand weit genug entfernt, um kein Aufsehen zu erregen. Die Bilder – fütternde Alte, gurrende und pickende Tauben, gelegentlich passierende Spaziergänger, die durch das Bild liefen – gefielen ihm, er begann zu bedauern, dass diese Bilder einmalige Eindrücke blieben, nur wiederholbar dadurch, dass er vielleicht wieder hierhin kam und dieselbe Szene wiederfände. Hier war niemand verärgert darüber, dass er keine Fotografien machte. Er verließ den Platz, überquerte die Straße und schlenderte auf dem Gehweg, es kamen ihm zwei junge Männer entgegen. Fremdartig, mit dunklen Haaren, temperamentvoll miteinander redend, in einer Sprache, die er nicht verstand. Einer der beiden kam auf ihn zu, freundlich lächelnd, mit neugierigem Blick, den Kopf leicht zur Seite geneigt, beide Hände erhoben, und sagte etwas, was Alfons nicht verstand, es hörte auf mit perfawore oder so ähnlich. Alfons sah ihn an, das heißt, hielt den Kamerakopf in seine Richtung und ließ auf sich zukommen, was passieren würde. Der Mann war dicht an ihn herangekommen, senkte seine Hände und berührte seinen Helm, offenbar, um ihn abzunehmen und Alfons‘ Gesicht zu sehen. Alfons entwand sich ihm und lief davon, um eine Ecke abbiegend, geradeaus, jetzt in die andere Richtung wiederum abbiegend, wurde schneller, ließ einen Straßenzug nach dem anderen hinter sich, bog wieder ab, er hielt sich den Helm, um ihn im Laufen nicht zu verlieren, und blieb schließlich außer Atem stehen. Niemand folgte ihm, die Straße war leer und still, ein anderes Kind beobachtete ihn schweigend aus einem Hauseingang. Seine Mühe war unnötig gewesen, die beiden Italiener hatten ihm nur staunend hinterher gesehen. Immer noch schnaufte er, dachte an die beiden Männer, an ihre Sprache, ihre sprechenden Gesichter und ihre Hände. Alfons hatte die Orientierung verloren, er irrte nun, trotz sehender Kamera, umher wie ein wirklicher Blinder. Bei Einbruch der Dunkelheit schloss sich die Tür seines Elternhauses hinter ihm, Entsetzen, Empörung und Erleichterung empfingen ihn.