Читать книгу Der Kameramann - Ulrich Dehn - Страница 5
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ОглавлениеDie Monate vergingen. Alfons nutzte jede Gelegenheit, sich immer wieder, oft mehrmals täglich, dieses Apparates zu bemächtigen und ihn weiter zu untersuchen. Er fand heraus, dass, wenn er erneut mit dem Daumen das eine schwerfällige Rädchen mit Daumendruck gegen den Griff drehte und in die Ausgangslage zurückschwingen ließ, der Knopf an der Vorderseite wieder gedrückt werden konnte und zur Produktion jenes metallisch schmatzenden Geräusches in der Lage war. Was passierte da? Gab es im Gehäuse des Apparats etwas, was ihm leider verborgen blieb, aber das ganze Geheimnis lüften würde? Immer wieder tat er es. Und eines Tages ging es nicht weiter. Er versuchte, den Griff zu drücken, dieser verweigerte sich einer Bewegung. Ebenso konnte der Knopf an der Vorderseite nicht mehr gedrückt werden. Die Maschine war, so dachte Alfons, zerstört. Er sprach mit niemandem darüber. Seine Geschichte mit diesem Apparat blieb sein Geheimnis. Sie war leider jetzt erst einmal zuende.
Es stand ein Ausflug in den Zoo der benachbarten Stadt an. Der Vater hatte das festgestellt, was Alfons nicht wissen konnte. Erinnerungsbilder, Zebras, Elefanten, die mit Äpfeln gefüttert wurden, Leoparden, eine Giraffe, davor Georg, der inzwischen elfjährige Bruder. Das ging alles nicht, denn die zwanzig Bilder, die der Vater noch auf dem Film vermutet hatte, waren nicht mehr da, und er hatte nicht für einen Ersatzfilm gesorgt, weil er dachte, es gäbe noch zwanzig Bilder. Der Vater war verärgert. Ein Film und Bilder. Alfons dachte über seine Optionen nach. Bilder waren die Abbildung dessen, was er durch das Guckloch des Apparats hindurch gesehen hatte, wie auch immer sie entstanden. Ihm hatte aber genau das gefallen, was er durch das Loch sehen konnte. Was ein „Bild“ daraus machte, interessierte ihn nicht. Und auch war ihm nicht nachvollziehbar, was an Gutem für den Menschen ein „Bild“ mit sich führte. Wer die Welt so mochte, wie sie war, konnte sie jederzeit sehen, sofern er bereit war, die Augen zu öffnen. Ein Bild war etwas anderes, eine andere Welt, nicht einfach die konservierte eine, und nicht kontrollierbar, es war vorhanden. Alfons hatte „Bilder“ gesehen, durch die Kamera, schwarz-weiße Abbildungen einer Wirklichkeit, die es so eigentlich gar nicht geben konnte. Auf einem dieser Bilder stand ein Sofa im Mittelpunkt, auf diesem Sofa saßen drei Menschen, der größte in der Mitte, zwei Menschen auf Lücke hinter ihnen, gut gekleidet, alle blickten den Betrachter des Bildes an, ernst oder mit einem freundlichen Lächeln. Auf einem anderen Bild stand ein gut gekleideter Mann alleine neben einem Stuhl, auf dessen Lehne er sich aufstützte, winkelte ein Bein an und schaute ebenfalls in die Richtung des Betrachters. Alfons vermutete, dass es sich um Vorfahren seiner Familie handelt, die aber sicherlich nicht ihr ganzes Leben in diesen Posen zugebracht hatten. Es gab eine Welt auf den Bildern und eine Welt ohne Bilder. Die Welt auf den Bildern war nicht die Welt, die er wollte. Die Welt ohne Bilder, einfach mit geöffneten Augen, wollte er sich nicht zumuten.