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Fotografieren

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Alfons beschloss, zu fotografieren. Der ständige Schmerz über die immer einmaligen Eindrücke konnte nur so Linderung finden. Das aber bedeutete, dass er sich dem Umstand des Besorgens von Filmen von seinem eigenen Taschengeld, der weiteren Verarbeitung der fertigen Filme, die seine Familie entwickeln nannte, und der Herstellung der Papierbilder unterzog. Nachdem die Kamera bis jetzt nichts anderes als eine Sehermöglichung und Sehhilfe gewesen war, war dies ein deutlicher Umbruch seiner Lebensroutine. Er musste rechnen, wie viele Bilder er machte, er musste kalkulieren, ob das Motiv schon gelungen war, ob es noch einer Drehung des Zooms bedurfte, ob die Schärfe noch zu verbessern war. Jedes Bild sollte ein Kunstwerk werden. Da sein Taschengeld Grenzen hatte, war er darauf angewiesen, keine Experimente zu machen, mehrere Bilder pro Motiv und das Beste aussuchen, nein, jedes Bild musste sitzen. Er wurde berüchtigt dafür, dass er mitunter zehn bis fünfzehn Minuten lang die Kamera justierte, bevor der erlösende Druck auf den Knopf erfolgte.

Sein erster Gang, ausgerüstet mit einem Film in der Kamera, sollte ihn erneut alleine auf den Platz in der Innenstadt führen, nun im Einvernehmen mit der Familie, die seine Alleingänge resigniert hinnahm. Er fand den Platz nicht wieder, die Straßen wanden sich, Kreisverkehre ließen ihn die Richtung verlieren, mehr als einmal verursachte er quietschendes Bremsen, weil sein Blickfeld durch das Objektiv der Kamera definiert wurde. Da der Helm auch seine Ohren verdeckte, war im dichten Verkehr auf Gehwegen und Straßen Vorsicht angesagt. Er wurde getrieben, an der Seite gepackt und angefaucht, nach rechts und nach links gestoßen. Ab und zu schlüpfte er in einen Hauseingang und holte Luft. Er genoss es. Er war Teil des Durcheinanders und zugleich nicht, denn er war keiner von denen, die durch die Straßen zum Büro hasteten oder von der Schichtarbeit nach Hause drängten. Und zugleich hatte er den gut dosierten Blick auf das, was er sehen wollte. Andere hatten ungeschützt die Welt vor Augen, alles, ohne Wahl.

Er trat wieder hinaus auf die Straße, ließ sich treiben und gelangte zu einem Park, zu einem kleinen Stadtteilpark von mäßiger Größe, durchzogen von zwei diagonalen Gehwegen, Parkbänken, flankiert von Sträuchern, Linden und ausgestattet mit einem Rasen, schwer zu pflegen, weil er gerne von Kindern bespielt wurde, auch jenseits des Spielplatzes an seinem einen Ende, auf den Alfons jetzt zuging. Er ließ ihn rechter Hand liegen und strebte auf den Springbrunnen zu, der den Mittelpunkt des Parks markierte. Der ornamentierte Brunnen – ein wasserspeiender Löwe – hatte es ihm angetan, ein aggressiv das Maul öffnender steinerner Löwe, mit einer Wasserfontäne. Alfons hielt auf das Tier zu, justierte den Apparat, ließ die Augen und das Maul scharf sein, das Wasser stufenlos unscharf werdend sprudeln, und drückte auf den Auslöser. Er war sehr zufrieden, zumal der steinerne Löwe, im Unterschied zu einem willensstarken lebenden Menschen mit starker Motorik, durchgängig reglos posiert und ihm die Arbeit leicht gemacht hatte. Alfons wandte sich jetzt den Linden zu, deren üppiger und zugleich niedriger Wuchs ihn beeindruckte, suchte sich geeignete Blickwinkel und fotografierte durch Ast- und Blätterlabyrinthe hindurch, von unten vertikal in den Baum hinauf, in Nahaufnahme auf den Stamm und Einkerbungen, die verliebte Paare hinterlassen hatten. Er fotografierte um den Stamm herum und einzelne Blätter im Abstand von fünfzehn Zentimetern. Dann noch aus Abstand von einigen Metern eine Gruppe von drei Bäumen, von denen die beiden äußeren sich dem mittleren zuzuneigen schienen. Er fotografierte so lange, bis der Film zu Ende war, sechsunddreißig Bilder, vielleicht zwei Bilder mehr. Ein Gefühl tiefster Zufriedenheit überkam ihn. Die Welt war nicht mehr wirr, vielfältig, unbegreifbar, sie war in seinem Kasten, aufbereitet und gut anzusehen.


Der Kameramann

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