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Die Welt

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Eines Tages wagte er den Schritt aus dem Haus mit dem Kamerahelm auf dem Kopf. Das Wetter war nicht von der für subtil kontrastarme Kamerablicke vorteilhaften Sorte, nämlich leicht bedeckt und mit stark differenziertem Farbbild ausgestattet, sondern der Tag war sonnig, blendend und kontraststark, die Laune der Familie – man befand sich auf einem gemeinsamen Ausflug –, die ihm um wenige Meter vorausging, um ihn bei der kameramäßigen Erfassung der Welt nicht zu stören, war bestens. Alfons wandte den Blick nach links, nach rechts und war beglückt von den neuen Perspektiven, die sich ihm darboten. Dieser Teil der Welt war ihm bisher nur vom Ertasten im Nahbereich oder akustisch bekannt gewesen. Er bog nach rechts ab und beschritt eine ihm bisher unbekannte Straße, ebenfalls Wohngebiet, aber bereits mit zarten Anfängen von Einkaufsmöglichkeiten: eine Bäckerei, ein Kiosk, ein Friseur. Alfons blieb dem Kiosk gegenüber auf dem Gehweg stehen, richtete seine Kamera auf das Schaufenster und zoomte es heran. Die im Helm festsitzende Kamera bot den Vorteil, dass er sie einhändig bedienen konnte, mit einer Hand in der linken Hosentasche. Ein Passant wurde aufmerksam. Na Kleiner, bist du Detektiv oder jemand von einem anderen Stern? Alfons zog es vor, weiterzugehen und sich nicht auf Erklärungen einzulassen. Das Straßenbild wurde bunter und dichter, ein Lebensmittel- und ein Fahrradgeschäft säumten seinen Weg, das eine, eine Konsum-Filiale, gut frequentiert mit zahlreichen auf dem Gehweg geparkten Fahrrädern, die zugleich den Eindruck erzeugen konnten, der Nachbarladen floriere. Alfons‘ Mutter kaufte im Konsum, und Georgs Fahrrad stammte aus dem Fahrradladen. Hier waren sie, er genoss die Füllung seiner inneren Welt mit den Eindrücken der sichtbaren Welt. Die Straße mündete in eine Kreuzung mit einer größeren Straße, die mit Metallrillen versehen war, sehr gerade, insgesamt vier und je zwei mit einem Abstand von etwa einem Meter. Zur Illustration der Benutzung dieser Rillen dröhnte jetzt ein großes Gebilde heran, das einem überlangen Bus ähnelte, aber wegen seiner Höhe schwer zu besteigen schien. Das Geräusch war Alfons gut bekannt, er hatte es bisher für eine Fabrikmaschine gehalten und das Lauter- und Leiserwerden des Herannahens und Wegfahrens für das An- und Abschwellen der Maschine. Die Straßenbahn hielt ruppig quietschend und knirschend vor der Kreuzung an, Alfons richtete die Kamera auf sie und versuchte zu erkennen, was sich hinter der gewölbten Frontscheibe verbarg. Ein uniformierter Fahrer mit einem überdimensionalen Hut mit eckiger ausladender Krempe. Bei noch geöffneten Türen hörte man eine metallisch und übermenschlich laut klingende Stimme, Hinweis auf sich schließende Türen, Bitte, Platz zu nehmen oder sich beim Anfahren der Bahn festzuhalten. Da die Straßenbahn vor roter Ampel noch einige Zeit stehen musste, ging Alfons an ihr entlang und inspizierte das Innere, sofern dies durch die spiegelnden Fensterscheiben möglich war. Nicht nur vorne, auch hinten saß ein uniformierter Mann und handelte etwas aus mit Menschen, die in einer kleinen Schlange zwischen dem Eingang und ihm standen. Wegen der Höhe des Fensterrahmens konnte Alfons nicht sehen, ob der Mann frei stand oder einen Tresen vor sich hatte. Verkaufte er etwas? Bedurfte es für das Fahren mit der Straßenbahn einer Fahrkarte?

Die Bahn fuhr an, Alfons wandte sich ab und ging in der anderen Richtung weiter, als er ein Klingeln, lautes Knirschen und Rasseln, Aufschreien und schließlich Reifenquietschen sowie metallisches Knallen und dumpfes Krachen hörte. Schnell drehte er sich um in Fahrtrichtung der Straßenbahn und sah noch, wie ein am vorderen linken Teil seiner Motorhaube und im Reifenbereich beschädigter Wagen in höchster Eile den Unfallort verließ und mit scheppernden Geräuschen an ihm vorbeifuhr, empörtes Schreien und Rufen hinter sich zurücklassend. Alfons ahnte, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er sah dem Wagen hinterher, diesem zentralen Objekt der Aufmerksamkeit, nach einem Ereignis, das ihm erstmalig in seinem Leben demonstrierte, dass im Leben Beschädigungen in großem Umfang geschehen konnten und Unfrieden und Lärm entstanden. Einer der Umstehenden lief zu einer Telefonzelle, betätigte dort einen Apparat und nickte den anderen anschließend beruhigend zu. Der Straßenbahn, die unverändert halb auf der Kreuzung stand, entstiegen langsam zwei stöhnende ältere Frauen, der Fahrer kam ihnen zu Hilfe, ein Notarztwagen bahnte sich seinen Weg durch Passanten, die um die Straßenbahn herum die Straße belagerten. Polizisten baten, die Straße zu räumen. Einer von ihnen kam auf Alfons zu. Na, Junge, du hast doch sicher etwas fotografiert, den Wagen, der weggefahren ist, das Nummernschild. Oder sogar den Unfall selbst. Alfons schüttelte den Kopf. Ich habe den Wagen gesehen, aber nicht fotografiert. Und das Nummernschild, hast du das gesehen? Warum fotografierst du nicht? Wozu hast du diesen Helm? Ich kann dein Gesicht ja gar nicht sehen. Der Polizist erregte sich, Alfons ging, der Polizist ließ ihn gehen und kehrte zum Unfallort zurück.


Der Kameramann

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