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Prolog

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Cuxhavener Küstenheiden, Mai 2019

Er lief wie ein Uhrwerk, präzise, gleichmäßig und genau im richtigen Tempo. Wenn man einmal über den Punkt hinaus war, wenn man das Gehirn und all seine Gedanken ausschalten konnte und die gleichförmige Bewegung die Herrschaft über Geist und Körper übernommen hatte, dann war alles ganz einfach. Der Fuß folgte dem Fuß, die Arme schwangen im Gleichklang, und die Kraft und die Energie befeuerten die Sehnen, Gelenke und die Muskulatur – und das Dasein folgte einem einzigen Sinn, der Bewegung. Er kannte diesen Zustand, er trainierte ihn, so oft er konnte, denn Marathon laufen war seine Leidenschaft. Jeden Samstag folgte er dem gleichen Weg. Von Altenwalde hinüber nach Arensch, hinunter nach Oxstedt und dann querfeldein zurück, um noch einmal die gleiche Strecke zu bewältigen. Zwei Mal folgte er den Wegen durch die Wiesen und Wälder, bevor er sein geplantes Pensum hinter sich gebracht hatte. 42 Kilometer und knapp 200 Meter bis zum Ziel. Die Strecke war genau abgemessen, er wusste nicht mehr, wie oft er sie schon hinter sich gebracht hatte, bei Sonnenschein, bei Regen, im Wind und selbst bei Schnee. Heute war gutes Wetter, ideales Wetter sogar, ein leichter, kühler Wind, die Temperaturen nicht zu hoch, beinahe ideale Wettkampfbedingungen. Auf so einen Tag hoffte er auch, wenn in zwei Wochen, an einem Samstag, der Wangerlandmarathon bevorstand, von Wilhelmshaven an die Küste und über Jever zurück. Schließlich hatte er einen Titel zu verteidigen. In der Altersklasse über 50 war er vor zwei Jahren als Sieger durch das Ziel gelaufen. Mit einer Zeit von drei Stunden und 22 Minuten hatte er alle hinter sich gelassen und mit einem Vorsprung von über vier Minuten auf den Zweitplatzierten gewonnen. Er war bekannt im Umland in den Kreisen der Läufergemeinde. Der Wangerlandmarathon war nicht der einzige Event, an dem er in den letzten Jahren teilgenommen hatte. Sogar in München, Paris und New York war er schon gelaufen.

Seit nunmehr 20 Jahren widmete er sich diesem Sport, nachdem er dem Tennis den Rücken gekehrt hatte.

Laufen war gut, Laufen war gesund und hielt ihn in Form. Bei einer Größe von beinahe 1,80 Meter und einem Gewicht von 60 Kilo mochte er wohl ein wenig unterernährt wirken, doch das täuschte, denn sein Körper bestand neben den üblichen Zutaten aus reiner Muskulatur, Fett suchte man vergebens.

Mathias Wegener war ein Läufer aus Leidenschaft. Das Laufen war ein ausgezeichneter Gegenpol zu seiner Arbeit, die er vorwiegend im Büro und im Labor verrichtete. Nur hin und wieder war er draußen im Außendienst, und dann meist nur kurz, um ein paar Proben zu entnehmen oder einer Bohrung beizuwohnen. Mathias Wegener arbeitete beim Institut »Flachser und Kollegen« in Cuxhaven und war Geologe. An seiner Tätigkeit war nichts Abenteuerliches, denn er arbeitete im Bereich der Bodenanalysen für die Baubranche und erstellte vorwiegend Gutachten für Großbaustellen und Bauprojekte. Das Laufen hielt ihn fit.

Er war wie jeden Samstag gegen 9 Uhr an seinem Haus im Meisenweg in Altenwalde gestartet und am Ende der Siedlung nach rechts in den Wald abgebogen. Wie immer waren ihm auf dem ersten Teil der Strecke etliche Jogger begegnet. Erst, als er nach dem Wald die kleine Schonung hinter sich gelassen und die Cuxhavener Küstenweide durchquert hatte, nahm die Zahl an Joggern und Spaziergängern ab. Schließlich trabte er ganz alleine über Wald und Flur, und seine Gedanken verschwammen, bis sie sich schließlich im Nichts auflösten. Am Waldparkplatz überquerte er die Landstraße K7, die wie jeden Samstag um diese Zeit nur wenig befahren war. In Arensch bog er links ab und folgte dem Feldweg, der hinter dem Ferienhotel »Dünenhof« nach Süden bis Oxstedt führte. Die Zahl der Spaziergänger und Jogger nahm zu. Er durchquerte den Ort und lief ein kurzes Stück auf Asphalt am Möhlendiek entlang, bevor ein Waldweg nach links abzweigte, der wieder nach Norden in Richtung Altenwalde führte. Er befand sich auf der zweiten Runde und fühlte sich noch immer kräftig. Ab und zu warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, mit der er seine Laufzeit überwachte und lächelte. Für die letzten acht Kilometer lag er gut in der Zeit und würde wieder einmal unter drei Stunden und 30 Minuten das Ziel in Altenwalde erreichen.

Er hatte den Nordholzer Weg hinter sich gelassen und befand sich auf dem Möhlendiek. Sein gelbes T-Shirt war von Schweiß durchnässt, und die zweite Flasche Wasser, die er am Gürtel bei sich trug, war zur Hälfte geleert, doch hoffte er, dass die verbliebene Menge für die letzten Kilometer ausreichen würde. Als der Gehweg endete und er den Ort verließ, lief er am rechten Straßenrand. Es herrschte nur wenig Verkehr, und der Waldweg, dem er im Anschluss folgen musste, lag gerade mal 300 Meter entfernt. Den Wagen hinter sich hörte er erst, als der Motor laut aufheulte. Seine Konzentration ruhte fest in seinem Körper. Die Straße war breit genug, deshalb hielt er die Augen nach vorne gerichtet. Erst im letzten Moment, als er spürte, dass etwas nicht stimmte, wandte er den Kopf. Er nahm etwas Rotes wahr, doch bevor er registrierte, dass der Wagen direkt auf ihn zuschoss, wurde er hoch in die Luft geschleudert. Alles in ihm war ein einziger Schmerz. Er wirbelte durch die Luft. Als er hart auf dem Boden landete, schwanden ihm die Sinne. Am Straßenrand blieb er liegen, während der rote Wagen im hohen Tempo in Richtung der Bundesstraße davonraste.

*

47 Minuten, nachdem Mathias Wegener angefahren worden war, wurde er mit einem Rettungshubschrauber nach Cuxhaven in die Klinik gebracht. Er lebte, doch befand er sich in akuter Lebensgefahr. Niemand wusste, ob er die Nacht durchstehen würde.

Die Polizei fahndete mit Hochdruck nach dem Unfallwagen, einem roten Nissan Juke, von dem allerlei Teile an der Unfallstelle zurückgeblieben waren und von dem es eine Beschreibung einer Zeugin gab, die mit ihrem Kind vom Spielplatz im Nordholzer Weg gekommen war.

Eine Streife fand den Wagen am späten Nachmittag in einem Waldstück bei Sievern, und auch den Fahrer fand sie vor, der volltrunken hinter dem Steuer kauerte und seinen Rausch ausschlief. Zwei Flaschen Wodka lagen im Fond. Sie nahmen den Fahrer namens Anatol Rogoff fest und sperrten ihn nach einer Blutprobe in Cuxhaven in eine Zelle, denn der Wagen war am frühen Morgen vom Parkplatz einer Baufirma gestohlen worden.

Der Richter ordnete Untersuchungshaft an. Anatol Rogoff war nicht das erste Mal betrunken und ohne Führerschein mit einem gestohlenen Wagen unterwegs gewesen. Und auch, wenn er sich mit seinen 2,89 Promille, wie sich später herausstellte, an nichts mehr erinnern konnte, so sprach alles gegen ihn. Anatol Rogoff war der Täter und, sollte Mathias Wegener, der im Koma lag, an den Folgen des Unfalls sterben, so würde den polizeibekannten Russen eine lange Haftstrafe erwarten.

Verschollen in Ostfriesland

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