Читать книгу Psychiatrische Differenzialdiagnostik - Ulrich Seidl - Страница 13

1.6 Klassifikationen

Оглавление

Die Geschichte ist voll von unterschiedlichsten Sichten auf psychiatrische Krankheiten, von streng ordnenden diagnostischen Systemen bis hin zur völligen Ablehnung jeglicher Diagnose in der Antipsychiatrie-Bewegung und ihren Ausläufern seit den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts. Um ein Verständnis für die aktuelle Einordnung psychiatrischer Krankheiten zu bekommen, ist es sinnvoll, sich mit der Historie der Sichtweisen und den daraus resultierenden Systemen der Klassifikation zu beschäftigen. Im Folgenden soll deshalb ein kleiner Einblick in historische Entwicklungen der psychiatrischen Nosologie gegeben werden. Der rote Faden ist dabei die immer wieder gestellte Frage nach Krankheitsursachen, deren jeweilige Antwort die Klassifikationen maßgeblich geprägt hat und weiterhin prägt.

Ordnungssysteme im 18. Jahrhundert

Die Entwicklung eines zusammenhängenden diagnostischen Systems psychiatrischer Krankheiten beginnt im 18. Jahrhundert mit der Entwicklung der ordnenden, deskriptiven Naturwissenschaften. In seinem System der Krankheiten »Genera morborum« klassifiziert Carl von Linné (1707–1778) nach seinem System der Pflanzen im Jahr 1742 in einem Kapitel auch die psychischen Störungen. Die 1772 erscheinende »Synopsis nosologiae methodicae« von William Cullen (1710–1790) enthält ebenfalls eine Systematik der Geisteskrankheiten (Überblick in Dilling 1999). Cullen ist es auch, der den Begriff Neurose einführt, zunächst noch als Ausdruck für die nichtentzündlichen Erkrankungen des Nervensystems ( Kap. 1.4).

Einheitspsychose

Das im Folgenden entwickelte Konzept der Einheitspsychose geht davon aus, dass alle schweren psychischen Krankheiten Ausdruck einer einzigen zugrunde liegende Störung sind, die sich in einem fortlaufenden Prozess mit unterschiedlichen Symptomen äußert. In diesem Sinne unterscheidet Jean Étienne Dominique Esquirol (1772–1840) vier verschiedene Phasen: zunächst die Melancholie, dann die Monomanie (womit er einzelne Symptome meinte, im Gegensatz zu einer allumfassenden Erkrankung), darauf die Manie und schließlich die Demenz. Esquirol sieht einen kausalen Zusammenhang zwischen einer fortschreitenden Erkrankung und strukturellen Veränderungen und nimmt an, dass die dauerhafte Beanspruchung durch Krankheit und seelisches Leid zu einer Schädigung des Nervensystems führt. Der Gedanke der Einheitspsychose wird von Joseph Guislain (1797–1860) über Ernst Albert Zeller (1804–1877) an Wilhelm Griesinger (1817–1868) weitergegeben. Guislain und Zeller sehen dabei, in Abwandlung von Esquirol, Melancholie, Manie, Verrücktheit und Demenz als charakteristische Stadien an.

Psychiker und Somatiker

Die Psychiatrie zu Zeiten Griesingers ist geprägt von den divergierenden Sichtweisen der Psychiker und der Somatiker. Während die Somatiker biologische Ursachen für psychische Störungen postulieren, sehen die Psychiker die Bedeutung innerpsychischer Vorgänge, ohne allerdings eine vermittelnde Rolle des Gehirns gänzlich auszuschließen. Griesinger nun betont einerseits, dass psychische Krankheiten grundsätzlich Krankheiten des Gehirns sind und verortet die Psychiatrie entsprechend in die Medizin. Andererseits sieht er auch die Bedeutung psychosozialer, lebensgeschichtlicher Faktoren für die Krankheitsentwicklung und ebnet damit der modernen bio-psycho-sozialen Sicht mit der Annahme vielfältiger Krankheitsursachen den Weg. Konsequenterweise haben für Griesinger damit auch Therapieformen ihren Stellenwert, die nicht nur rein somatisch ansetzen (Überblick in Schott und Tölle 2006).

Krankheitseinheiten nach Emil Kraepelin

Die Hypothese der Einheitspsychose ist aufgrund der klinisch zu beobachtenden Vielfalt der Erkrankungen nicht haltbar. Emil Kraepelin (1856–1926) lehnt dieses Konzept deshalb ab und beginnt mit der Konstruktion sogenannter Krankheitseinheiten. Jede dieser Krankheitseinheiten soll dabei auf einer spezifischen Ursache beruhen. In seinem Bestreben nach Abgrenzung unterscheidet er deutlich zwischen somatischen und psychischen Bereichen und legt damit die Grundlage für das bereits erwähnte triadische System. Darüber hinaus bezieht er mit der Betrachtung des klinischen Verlaufs den Längsschnitt in seine Klassifikation mit ein. Auf diese Weise kommt er 1899 in der 6. Auflage seines psychiatrischen Lehrbuchs (Kraepelin 1899) zur noch heute gültigen Unterteilung der sogenannten endogenen Psychosen in Dementia praecox (später von Eugen Bleuler (1857–1939) als Schizophrenie bezeichnet) und manisch-depressives Irresein (heute: bipolare affektive Störung).

Einteilung gemäß der Ursachen

Wie schon im vorherigen Abschnitt ausgeführt ( Kap. 1.5), spiegelt das triadische System der Psychiatrie die Idee Kraepelins wider, Erkrankungen entsprechend ihrer Ursache einzuteilen. Auf diese Weise können erstens Erkrankungen mit klar organischer Ursache, zweitens solche mit (noch) nicht näher bekannter, aber vermuteter somatischer Pathologie und drittens Variationen des Normalpsychologischen einschließlich der Reaktion auf Ereignisse unterschieden werden. In historischen Begriffen ausgedrückt gliedert das triadische System also das breite Spektrum psychischer Erkrankungen entsprechend exogener, endogener und psychogener Ursachen. Auch wenn diese Einteilung starr anmuten mag, ist sie doch gerade für den Anfänger in der Psychiatrie äußerst hilfreich. Hier sind die wesentlichen Kategorien formuliert, die bei der Diagnostik bedacht und im Ausschlussverfahren angegangen werden müssen ( Kap. 2.8).

Einteilung nach Kurt Schneider

Das Fundament für die moderne Einteilung der ICD-10 legt nun Kurt Schneider (1887–1967), der seinerseits wesentlich durch das Werk von Karl Jaspers (1883–1969) beeinflusst ist. Auch Schneider unterscheidet je nach Grundlagen und postulierten Ursachen »körperlich begründbare Psychosen«, »Zyklothymie und Schizophrenie«, »Schwachsinnige und ihre Psychosen«, »abnorme Erlebnisreaktionen« und »psychopathische Persönlichkeiten«. Im engeren Sinne konzentriert sich die Unterscheidung allerdings im Sinne von Jaspers auf zwei Gruppen, nämlich »seelisch Abnormes als Folge von Krankheiten« (also Psychosen) und »abnorme Spielarten seelischen Wesens« ( Tab. 1.1).

ICD-10

Die an der Ätiologie ausgerichtete Einteilung Schneiders spiegelt sich in der ICD-10 wider ( Tab. 1.2). Hier finden sich organische und psychotische ebenso wie affektive Störungen, erlebnisreaktive Störungen sowie Persönlichkeitsstörungen als jeweils eigene Untergruppen. Hinzu kommen in Erweiterung des Schneiderschen Systems substanzbezogene und körperbezogene Störungen sowie Entwicklungsstörungen und Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend.

Tab. 1.1: Einteilung psychiatrischer Krankheiten nach Kurt Schneider


KrankheitsgruppeUrsacheKlassifikation

ICD-11 und DSM-5

Auch die ICD-11, deren Unterteilung sich eng an das DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) anlehnt, beinhaltet die Möglichkeit, dass Erkrankungen gemäß ihrer Ätiologie diagnostiziert und verschlüsselt werden. Anpassungsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen sind, wie im DSM-5, als reaktive Ereignisse in einem eigenen Kapitel (»disorders specifically associated with stress«) gefasst. Organische Erkrankungen werden anders geordnet als in der ICD-10. In einem umfassenden Kapitel (»secondary mental or behavioural syndromes associated with disorders or diseases classified elsewhere«) sind Syndrome benannt, die sekundär auf eine somatische Erkrankung zurückzuführen sind – unter anderem Psychosen oder affektive Störungen. Hiervon getrennt werden, ebenfalls analog dem DSM-5, Erkrankungen, bei denen neurokognitive Störungen im Vordergrund stehen, also insbesondere Delir und Demenz, in einem eigenen Kapitel (»neurocognitive disorders«) behandelt.

Tab. 1.2: Einteilung psychiatrischer Krankheiten nach Kurt Schneider und im Kapitel V (Psychische und Verhaltensstörungen) der ICD-10


Kurt SchneiderICD-10

Nutzen und Grenzen der Klassifikationssysteme

Die Systeme zur Klassifikation psychiatrischer Erkrankungen bestimmen zu einem großen Teil unsere Sicht, da sie uns eine Ordnung vorgeben, die unser Denken prägt. Dies macht einerseits das Leben leichter, da wir eine leitende Struktur haben, andererseits besteht die Gefahr der Einengung und der Einseitigkeit. Darüber hinaus gibt es immer wieder klinische Bilder, die sich nicht in das jeweils bestehende System einordnen lassen. Besonders schwierig wird es, wenn wir zusätzlich den Längsschnitt betrachten. Gerade in der Gruppe der schizophrenen und schizoaffektiven Psychosen lassen sich zahlreiche Untergruppen bilden, wenn die unterschiedlichen Verläufe und die Vielschichtigkeit der klinischen Bilder einbezogen werden. Dass noch wesentlich differenziertere Aufteilungen der Psychosen möglich sind, als dies in den modernen Klassifikationssystemen vorgesehen ist, zeigt sich in der auf Carl Wernicke (1848–1905), Karl Kleist (1879–1960) und Karl Leonhard (1904–1988) zurückgehenden Schule mit differenzierter Unterteilung der endogenen Psychosen (Leonhard 1995), die sich in all ihrer Komplexität jedoch auf breiter Ebene nicht durchgesetzt hat.

Funktionalität psychischer Krankheiten

Eine Kritik der aktuellen Diagnosesysteme richtet sich darauf, dass psychische Krankheiten vor allem als dysfunktional und einschränkend begriffen werden. Aus psychoanalytischer Sicht entstehen Symptome aus Abwehr und Kompensation von Konflikten, ihre Entstehung ist also nicht nur nachvollziehbar, sondern Ausdruck eines sinnhaften Geschehens ( Kap. 1.4). Es gibt durchaus Ansätze, selbst psychotischen Symptomen eine Funktionalität zubilligen (etwa bei Mentzos 2009). Hier besteht jedoch immer die Gefahr, die biologische Komponente, die Unwägbarkeit und Unverstehbarkeit – und mithin auch die Schicksalhaftigkeit der Erkrankungen – auszublenden zugunsten des Zuschreibens eines übergeordneten Sinnes, den es vermeintlich zu entdecken und zu bearbeiten gilt. Sicher kann es im Einzelfall interessant und auch nützlich sein, die Ausgestaltung unter psychodynamischen Gesichtspunkten zu betrachten. Nicht zuletzt in Anbetracht der schweren, von Defiziten geprägten Verläufe, die bei schizophrenen Psychosen zu beobachten sind, wird jedoch rasch deutlich, dass eine psychodynamische Sicht, die nicht nur die Erklärung der Erscheinungen, sondern des gesamten Krankheitsprozesses für sich in Anspruch nimmt, hier zu kurz greift.

Psychiatrische Differenzialdiagnostik

Подняться наверх