Читать книгу Psychiatrische Differenzialdiagnostik - Ulrich Seidl - Страница 8

1.2 Gesundheit und Krankheit

Оглавление

Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) definiert 1946 in ihrer Verfassung Gesundheit als einen »Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.« (Weltgesundheitsorganisation 1946, S. 1). In diesem Sinne wäre wohl niemand über eine längere Zeit vollständig gesund, denn wann befinden wir uns schon im Zustand des völligen Wohlergehens?

Leiden

Wenn wir Krankheit allein als einen Zustand des Unwohlseins begreifen, so ist diese Auffassung wenig hilfreich. Die Erfahrung von seelischem – mehr noch als körperlichem – Schmerz und Leid ist grundsätzlicher Bestandteil des Lebens und kann eine durchaus angemessene menschliche Reaktion auf widrige Ereignisse und Erfahrungen sein. Eine verbindliche Festlegung, ab wann und unter welchen Umständen welcher Grad von Unwohlsein als pathologisch zu gelten hat, ist schwierig. Umgekehrt geht Krankheit nicht immer mit subjektivem Leiden einher und selbst schwer psychisch Erkrankte, etwa Patienten mit Psychosen, leiden unter ihren Symptomen nicht immer direkt oder in dem zu erwartenden Ausmaß. Dies gilt erst recht dann, wenn die Symptomatik chronifiziert ist und der Betroffene sich gut adaptieren konnte. Leidensdruck alleine reicht also nicht aus, um Gesundheit oder Krankheit zu definieren.

Normabweichung

Ein Krankheitsbegriff, der rein auf Normabweichung zielt, ist ebenfalls problematisch. Normen beziehen sich auf den Durchschnitt einer Population. Demgemäß würden selbst auf Dauer schädigend wirkende Faktoren ihren Krankheitswert verlieren, wenn nur ein genügend großer Teil einer Gruppe davon betroffen ist. Hat zum Beispiel der größte Teil der Bevölkerung faule Zähne, so müssten diese dieser Auffassung gemäß als Normalzustand und nicht als pathologisch gelten. Im Bereich des Psychischen würde das bedeuten, dass selbst dysfunktionale und hochproblematische Erscheinungen ihren Krankheitswert verlieren, wenn sie nur ausreichend oft in der Bevölkerung vorhanden wären. Problematisch ist darüber hinaus, dass die Vorstellung, was als normal anzusehen ist, kulturellen Veränderungen unterliegt und je nach gesellschaftlicher Einstellung Menschen mit bestimmten Merkmalen und Eigenschaften, die nicht der Mehrheit entsprechen, als krank erklärt werden. Ein Beispiel ist Homosexualität, die zu früheren Zeiten per se als krankhafte Abweichung galt.

Symptome

Von hoher praktischer Relevanz ist die Definition von Krankheit als das Vorhandensein bestimmter Symptome, denen allein oder in Kombination Krankheitswert zugesprochen wird. Ein Kriterium, ab wann eine Symptomatik Krankheitswert hat, kann dabei die theoretische Relevanz für das Überleben des Betroffenen sein. So gesehen sind z. B. Störungen der Orientierung oder der Kognition zweifellos ebenso bedeutsam wie psychotisches Erleben (auf den Begriff der Psychose wird im Laufe des Buches noch eingegangen), da die hiervon Betroffenen außerhalb einer schützenden Umgebung deutliche geringere Überlebenschancen hätten als Gesunde. Dass diese Charakteristik mehr Praxisrelevanz hat, als es zunächst den Anschein hat, wird dann deutlich, wenn es um die Einschätzung einer möglichen Gefährdung geht. Ist ein Patient aufgrund seiner Krankheit in erheblichem Maße gefährdet und kann er diese Gefährdung ebenfalls krankheitsbedingt nicht erkennen, müssen möglicherweise Maßnahmen zu seinem Schutz ergriffen werden.

Ätiologie und Pathogenese

Gelegentlich wird gefordert, dass Krankheiten durch eine klare Ätiologie und eine Pathogenese gekennzeichnet sein müssen. Diese Forderung ist gerade im Bereich der Psychiatrie problematisch, da sich die Frage nach der Krankheitsursache im Einzelfall nicht immer klar beantworten lässt. Am ehesten lässt sich diese Sicht ebenfalls auf Psychosen anwenden, die, wie wir noch sehen werden, eine eigene Qualität besitzen und bei denen bestimmte Pathomechanismen einschließlich biologischer Faktoren angenommen werden können. Wenn wir es in der Psychiatrie dagegen nicht mit Psychosen zu tun haben, stehen wir wieder vor dem Problem der Grenzziehung zwischen gesund und krank. Als unscharfes Kriterium können hier die negativen Folgen einer Symptomatik herangezogen werden, im psychischen Bereich also beispielsweise ob eine freie Entfaltung der Person oder befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen verhindert werden oder inwieweit die Leistungsfähigkeit gemindert ist.

Definition psychischer Krankheiten in der ICD-11

In der ICD-11 (WHO 2019) sind psychische Krankheiten folgendermaßen charakterisiert: »Mental, behavioural and neurodevelopmental disorders are syndromes characterized by clinically significant disturbance in an individual’s cognition, emotional regulation, or behaviour that reflects a dysfunction in the psychological, biological, or developmental processes that underlie mental and behavioural functioning. These disturbances are usually associated with distress or impairment in personal, family, social, educational, occupational, or other important areas of functioning.« (»Psychische, verhaltensbezogene und Störungen der neuronalen Entwicklung sind Syndrome, die charakterisiert sind durch klinisch signifikante Störungen der Kognition, der Emotionsregulation oder des Verhaltens, die eine Dysfunktion in den psychologischen, biologischen oder Entwicklungsprozessen widerspiegeln. Diese Störungen sind gewöhnlich verbunden mit Leid oder Beeinträchtigung in persönlichen, familiären oder sozialen Bereichen, in Ausbildung, Beschäftigung oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.«, eigene Übersetzung.). Interessant ist, dass die WHO bei der Definition von psychischer Krankheit also nicht nur von Störungen in bestimmten Bereichen und deren Folgen ausgeht, sondern auch die möglichen Ursachen einbezieht.

Krankheitswert von Psychosen

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auf psychiatrischem Gebiet Psychosen am leichtesten als Krankheiten definiert werden können, da sie eine eigene Qualität besitzen und sich damit grundlegend vom Normalpsychologischen unterscheiden. Psychosen und andere Krankheitsprozesse, bei denen wir von einer biologischen Grundlage ausgehen, führen zu signifikanten Störungen auf verschiedenen Ebenen, die zwar nicht immer mit einem Leidensdruck, in aller Regel aber mit Beeinträchtigungen und Einschränkungen verbunden sind. Die übrigen Krankheiten sind schwerer als solche zu fassen, möglicherweise unscharf abgegrenzt und die Einschätzung, was als gesund oder krank gilt, kann sich im Laufe der Zeit ändern. Ein Beispiel ist die Schwierigkeit der Abgrenzung von pathologischer Trauer im Sinne einer Anpassungsstörung von einem »normalen« Trauerprozess. Die Grenze fest bei einer Dauer von 6 Monaten zu ziehen, erleichtert zwar eine diagnostische Zuordnung, wird dem Einzelfall aber unter Umständen nicht gerecht und kann dadurch zu einer unpassenden Pathologisierung führen.

Einbeziehung von Krankheitsursachen

Für die Praxis bedeutet dies, dass es bei der Erkennung von psychischen Krankheiten und bei deren Differenzialdiagnostik nicht nur auf die Beschreibung von Symptomen und der Folgen ankommt. Vielmehr muss auch die Qualität des klinischen Bildes betrachtet werden und wir müssen uns über mögliche Ursachen Gedanken machen. Die WHO bezieht sich in ICD-10 und ICD-11 nicht nur auf Krankheitserscheinungen, sondern greift auch biologische, psychologische und entwicklungsbezogene Ursachen auf. Diese Überlegungen dienen nicht nur der Einteilung von Krankheiten, sondern sind, wie wir noch sehen werden, auch wichtig für die Planung einer Therapie.

Psychiatrische Differenzialdiagnostik

Подняться наверх