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1.3 Zum Begriff der Psychose

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Das Spektrum der Erscheinungen, mit denen wir es in der klinischen Psychiatrie zu tun haben, reicht von leichten Beschwerden bis hin zu schwersten Beeinträchtigungen, von Leiden aufgrund allgemein verständlicher Zusammenhänge bis hin zu Zuständen ausgeprägter Verwirrung, in denen ein sinnvoller Gesamtzusammenhang nicht mehr hergestellt werden kann.

Abgrenzung zur Normalpsychologie

Im vorangegangen Abschnitt wurde bereits auf die unterschiedlichen klinischen Qualitäten eingegangen, die dem zugrunde liegen. Einerseits gibt es normalpsychologisch fassbare Zusammenhänge, bei denen das seelische Leid verständlich wird. In der Untersuchung kann ich mich in den Patienten hineinversetzen, der mir über seinen Lebensweg und seine Erlebnisse berichtet. Die Entwicklung einer Symptomatik wird verstehbar und die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit können verwischen. Andererseits gibt es Bilder, bei denen das Verständnis mehr oder weniger schnell an seine Grenzen stößt, die im Grunde nicht mehr einfühlbar sind und bei denen der Krankheitswert im Sinne einer qualitativen Abweichung vom Normalpsychologischen außer Frage steht. Statt zu verstehen müssen wir die Symptomatik also anerkennen und können bestenfalls versuchen, ihre Entstehung wissenschaftlich zu erklären. Hier sprechen wir von einer Psychose.

Exogene und endogene Psychosen

Der Psychose-Begriff wird 1841 von Carl Friedrich Canstatt (1807–1850) eingeführt und bezeichnet ursprünglich den seelischen Ausdruck einer Erkrankung des Gehirns. Im Laufe der Zeit wird Psychose synonym für Geisteskrankheit verwendet, und zwar sowohl für solche mit nachgewiesener als auch für Krankheiten mit vermuteter, aber (noch) nicht nachweisbarer körperlicher Ursache. (Zur Entwicklung des Psychose-Begriffs siehe Bürgy 2009.) Damit ist die Grundlage gelegt für die Unterscheidung von exogenen und endogenen Psychosen, wie sie 1892 von Paul Julius Möbius (1853–1907) getroffen wird. Möbius führt die so genannten endogenen Psychosen auf erbliche Anlagen zurück, während die exogenen Psychosen auf äußeren Einflüssen beruhen. Kurt Schneider (1887–1967) betont, dass aufgrund der Psychopathologie endogener Psychosen von einer organischen Grundlage ausgegangen werden muss, auch wenn diese nicht konkret gefasst werden kann. Bei Karl Jaspers (1883–1969) wird die scharfe Unterscheidung von (nicht verstehbarer) Psychose und verstehbareren Erscheinungen zur Grundlage der Krankheitslehre.

Klinische Symptome

Die Ursachen von Psychosen sind ebenso unterschiedlich wie die möglichen klinischen Symptome. Die qualitativen Veränderungen können verschiedene Bereiche des psychopathologischen Befundes betreffen, so die Wahrnehmung, das Denken oder die Affektivität. Im Gesamtzusammenhang einer Psychose ist zudem die Kognition meist mehr oder weniger beeinträchtigt. Eindrücklich zeigt sich eine Psychose, wenn etwa der formale Gedankengang so fragmentiert ist, dass ein normales Verstehen nicht mehr möglich ist, oder wenn starr auf Wahninhalten beharrt wird, ohne dass die sonst übliche Korrektur durch Abgleich des Urteils mit Beobachtungen und Erfahrungen vorgenommen werden kann.

Kategoriale Einteilung

Wenn wir also von einem qualitativen Unterschied je nach Vorliegen oder Nicht-Vorliegen einer Psychose ausgehen, nehmen wir eine kategoriale Einteilung vor. Das bedeutet, dass ein Patient nicht »ein bisschen psychotisch« sein kann. Zu einem gegebenen Zeitpunkt ist entweder eine Psychose festzustellen oder nicht. Das kann sich rasch ändern, sogar innerhalb eines einzelnen Gesprächs ist es möglich, dass ein Patient in einem Moment psychotisch ist und entsprechend erlebt und im nächsten Moment wieder nicht. Dies kann sich in offensichtlichen Widersprüchen ausdrücken, wenn der Patienten einerseits mit Überzeugung seinen Verfolgungswahn vertritt, andererseits sagen kann, dass er wohl gerade wieder paranoid sein müsse. Die Feststellung einer Psychose oder deren Ausschluss ist nun ein entscheidender Vorgang in der psychiatrischen Differenzialdiagnostik. Das Vorliegen einer Psychose hat nicht zuletzt therapeutische Implikationen, gerade im Hinblick auf die Möglichkeit einer antipsychotischen Pharmakotherapie ( Kap. 6.3).

Psychiatrische Differenzialdiagnostik

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