Читать книгу Baltrumer Wattenschmaus - Ulrike Barow - Страница 10

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»Es ist ganz sicher, dass dein Unterricht heute ausgefallen ist?« Elmar Diesterweg konnte es nicht so ganz glauben.

»Doch. Sonst wäre ich nicht hier, oder?«, antwortete Wilko bestimmt.

Er hatte den Jungen im Flur getroffen, gerade, als er das Haus verlassen wollte. Wilko hatte sich ihm angeschlossen, als er ihm erzählt hatte, dass er Queller pflücken wollte. Der Meeresspargel, wie er auch genannt wurde, schmeckte vorzüglich zu Lachs oder Lammbraten. Am Nachmittag erwartete er drei Damen, die sich zu einem Kochkurs in seiner Küche angemeldet hatten.

Sie überquerten den Weg, der am alten Ostdorf vorbei zum Heim des Niedersächsischen Turnerbundes führte, und erreichten bald den Heller, auf dem Tausende von Vögeln brüteten. Diesterweg hoffte, dass er einige der jungen Pflänzchen fand, die nicht vom Gänsekot verdreckt waren.

»Kann ich später mit dir das Essen zubereiten?«, fragte Wilko.

»Heute nicht. Da bekomme ich Besuch. Aber übermorgen kannst du gerne zu mir kommen«, erwiderte Diesterweg und legte seinen Arm um Wilkos Schultern, als er dessen enttäuschtes Gesicht sah. »So, gleich haben wir die Verlandungszone erreicht. Das ist der Ort, wo wir die Pflanze finden sollten.«

Die Vegetation wurde allerdings eher weniger als mehr in diesem schmalen Streifen zwischen Hellerwiesen und Wattenmeer. Hier konnten es tatsächlich nur Pflanzen aushalten, die kein Problem damit hatten, regelmäßig vom Salzwasser überspült zu werden. Und zu diesen Pflanzen gehörte der Queller. Und genau das gab ihm diese wunderbar salzige und leicht pfefferige Note. »Da schau mal. Da ist er.« Er bückte sich und kniff die grüne Spitze der Pflanze ab. »Salicornia europaea. Davon gibt es zehn bis 30 Arten. Sie sind fast nicht auseinanderzuhalten. Aber das macht nichts. Sie schmecken alle. Aber wenn du sie pflückst, mach es bitte so wie ich. Nicht die ganze Pflanze, sondern nur den oberen Teil. Der ist frisch und angenehm im Geschmack. Die Pflanze ist um diese Jahreszeit noch sehr klein, aber wenn sie älter wird, ist der Rest manchmal holzig und zu salzig.«

»Ich achte drauf.« Jetzt lächelte der Junge wieder und brachte ihm nach kurzer Zeit eine ganze Handvoll der frischgrünen Spitzen.

Er legte sie in den Korb aus Stroh und freute sich bereits auf die Zubereitung. Der Queller war nicht die einzige Pflanze, die nutzbar war. Vor zwei Wochen hatte er Wegerich gepflückt und die Blätter zu einem leckeren Salat verarbeitet. Ab Juli würde er den Samen dieser Pflanze sammeln und Speiseöl daraus bereiten.

»Machst du den Queller als Salat oder Gemüse? Du musst mir unbedingt zeigen, wie das geht. Für Mama, weißt du?«, bat Wilko.

»Meinst du nicht, dass sie das auch ohne meine Hilfe kann? Sonst darf sie sich auch gerne an meinem Kochkurs beteiligen. Ich werde sie mal fragen«, überlegte Diesterweg laut.

»Nein. Besser nicht«, wehrte Wilko unwillig ab.

Was war das? Hatte er etwas verkehrt gemacht? Der Junge hatte es wohl nicht so ganz leicht mit seinen Eltern. Er kannte das. Auch er hatte eine Kindheit hinter sich, an die er sich nur ungern erinnerte. Am schlimmsten war der Hunger gewesen. Es war nicht so, dass seine Eltern kein Geld gehabt hätten, nein, es hatte beiden nur die Lust auf regelmäßige Mahlzeiten gefehlt. Nur bei seiner Oma war der kleine Elmar immer gut versorgt worden. Sie ließ ihn, auch, als er ganz jung war, schon in die Töpfe schauen. Er konnte bis heute schwören, dass er allein aus diesem Grund Koch geworden war. Wahrscheinlich war die Erinnerung an seine Oma auch der Antrieb, warum er sich dieses Jungen angenommen hatte. »Komm mal her«, rief er zu ihm herüber. »Schau mal, was hier liegt.« Eine Nonnengans mit einem beinahe gänzlich abgerissenen Kopf lag zwischen den spärlichen Gräsern.

Wilko rupfte einen weiteren Stiel ab, kam langsam zu ihm und beugte sich über das tote Tier. »Mann, die hat es aber erwischt. Wie ist das passiert?«

Diesterweg zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ob Mensch oder Tier der Verursacher war. Wir nehmen sie mit und entsorgen sie.« Er war sich allerdings im gleichen Moment nicht mehr so ganz sicher, ob das eine gute Idee war. Zu präsent war ihm die Situation vor einigen Wochen in den Dünen. Bei einem Spaziergang hatte er im Gebüsch ein großes Netz entdeckt. Darin hatten sich zwei Stockenten verfangen und waren gestorben. Sie konnten nicht lange tot gewesen sein, sie sahen recht frisch aus. Er hatte die Netzfalle abgebaut, damit sich nicht weitere Tiere dort verfingen. Netz und Enten hatte er mitgenommen. Er konnte nicht einsehen, warum er die Vögel nicht in die Bratröhre stecken sollte. Auf dem Rückweg in den Dünen kam ihm dummerweise ein Insulaner entgegen und fragte mit viel Zynismus: »Na, besorgst du dir deine Essenszutaten schon in den Dünen? Wir kaufen alles in den hiesigen Märkten. Dafür sind sie da!« Er, Diesterweg, hatte zunächst keine Antwort gehabt, so überrascht war er gewesen, doch dann hatte er versucht, dem Mann klarzumachen, dass er alles so vorgefunden hatte. Doch der Mann hatte nur abgewinkt. »Stockenten, auch Wildenten genannt, sollen sehr lecker sein. Lass sie dir schmecken. Aber lass dich nicht erwischen. Die Jagdzeit für die Tiere ist vorbei.«

Ein paar Tage später fiel in einem Gespräch auf der Straße das Wort Stockente, als er vorbeikam. Er hatte keine Ahnung, ob es ihn betraf. Wollte auch nicht nachfragen.

Wilko griff in die Federn des Tieres und breitete die Flügel auseinander. »Die sieht echt cool aus. Schau mal, die gestreiften Flügel.«

»Weißt du denn, warum dieses Tier Nonnengans heißt?«

»Nee.«

»Wenn der Kopf noch dran wäre, könntest du es sehen. Sie hat ein weißes Gesicht und einen schwarzen Scheitel. Nacken und Hals sind auch schwarz, daher erinnert die Färbung an die frühe Tracht katholischer Nonnen.«

Der Junge schaute Diesterweg verschmitzt an. »Du kennst dich echt gut aus. Aber weißt du auch, wie sie gebraten aussieht?«

»Stand noch nicht auf meinem Speiseplan.« Diesterweg lachte.

»Darf ich mitessen?«

Elmar Diesterweg schaute überrascht hoch und erkannte Ole Zander, den Wattführer, der in der gleichen Straße wohnte.

»Klar. Kein Problem!« Diesterweg lächelte. »Willst du gleich einen Kurs belegen? Wir können natürlich auch eine Gemeinschaftsaktion überlegen. Du gehst mit den Leuten ins Watt, dann pflücken wir alle zusammen den Queller, und ich frage in einer der Hotelküchen nach, ob wir die nutzen können. Wäre nicht das erste Mal. Eine ähnliche Sache mache ich demnächst mit dem Nationalparkhaus. Wir werden im Watt Tische und Stühle aufbauen und dort essen. ›Wattenschmaus‹ haben Enna Klar und ich die Veranstaltung genannt. Ich überlege gerade, was wir servieren. Es sollte auf jeden Fall etwas mit der Umgebung, also dem Wattenmeer, zu tun haben. Wenn du dabei sein möchtest, musst du dich bei ihr anmelden.«

»Kann ich drüber nachdenken. Aber jetzt lern erst mal den Nachwuchs an. Macht Wilko gerade ein Praktikum bei dir?«, fragte Ole.

»So könnte man es vielleicht nennen.«

»Bis dann.« Ole Zander zeigte auf die weite Schlickfläche zwischen Insel und Festland, auf der kaum Wasser zu sehen war. »Ich muss ins Watt. Die Leute warten schon am ›Verhungernix‹ auf mich.«

Elmar Diesterweg sah hinter dem Mann her, der mit seinem schweren Rucksack und der Grabeforke in der Hand durch den Schlick Richtung Hafen stapfte.

»Brauchst du noch mehr? Wieviel soll ich pflücken?«, fragte Wilko.

»Ich denke, es reicht beinahe. Schau. Da vorne steht ein Büschel, davon nehmen wir etwas mit, dann ist es gut.«

»Aber …«

»Nein. Wir pflücken nur so viel, wie wir brauchen. Das habe ich dir schon oft gesagt, oder?« Elmar Diesterweg hatte plötzlich keine Lust mehr. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause. Hoffentlich hatte der Wattführer nicht gedacht, er habe die Gans höchstpersönlich zu Verzehrzwecken getötet. Er hätte besser darauf hinweisen sollen, dass er lediglich den Queller als Nahrung nutzen wollte.

»Ja, ja, ich habe verstanden«, nörgelte Wilko. »Die Großen bestimmen und die Kleinen müssen folgen. Wie bei meinen Eltern.«

Es tat Diesterweg weh, was der Junge sagte. Er hatte sich so um ihn bemüht. Hatte zugehört, wenn Wilko mal wieder mit verheultem Gesicht vor seiner Tür gestanden hatte. Hatte versucht, ihm das Gefühl zu geben, dass er ihn trotz der jungen Jahre respektierte und ihn ernst nahm. Er war kurz davor, ihm eine ziemlich abweisende Antwort zu geben, aber er riss sich zusammen und sagte nur: »Du kannst mir zu Hause helfen, den Queller zu waschen und vorzubereiten. Übermorgen gehen wir wieder zusammen raus und sammeln und kochen danach das perfekte Menü. Was hältst du davon?«

Wilko schaute ihn von der Seite an. Der Trotz war einem strahlenden Lächeln gewichen. »Okay, Boss. So wird es gemacht. Heute kochst du mit deinen Frauen und übermorgen sind wir dran.«

»Vielleicht finden wir auch Löffelkraut. Davon ein paar der scharfen Blätter in den Salat, das ist auch sehr lecker. Löffelkraut ist übrigens so reichhaltig an Vitamin C, dass es früher auf Segelschiffen gegen Skorbut eingesetzt wurde.«

Wilko schaute ihn fragend an. »Skorbut?«

»Das ist eine Vitaminmangelkrankheit. Da fielen den Seeleuten die Zähne aus.«

»Aha«, überlegte Wilko. »Daher hat man das Labskaus erfunden. Das kann man schließlich auch ohne Zähne schlucken.« Er kicherte.

Auch Diesterweg lachte. »Da magst du recht haben.« Gemeinsam gingen sie zurück über den Heller nach Hause.

»Wie war das noch?«, fragte Wilko. »Ist das eigentlich Nationalparkgelände? Dürfen wir hier laufen? Wir haben das nämlich gerade in der Schule. Ruhezone I, Ruhezone II und so.«

»Ach«, erwiderte Diesterweg versonnen. »Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, wenn keiner mitbekommt, wenn jemand etwas Verbotenes getan hat, kann die Person auch nicht verurteilt werden, verstehst du?«

»Oder jemand kriegt es mit, aber sagt nichts.«

Elmar Diesterweg schwieg einen Moment, dann meinte er: »Die Möglichkeit besteht natürlich auch.«

Als sie die Haustür öffneten, stand Hans Jessen vor ihnen und starrte sie wutentbrannt an. »Ach, so war das mit: Man muss töten, um zu leben.«

»Was meinen Sie?«, fragte Diesterweg verblüfft.

»Was ich damit meine?« Hans Jessen lachte kreischend auf und deutete auf das kopflose Tier, das Diesterweg im Gras neben dem Fahrradständer abgelegt hatte. »Als ob Sie das nicht wüssten! Schlagen im Beisein meines Sohnes Gänsen den Kopf ab, nur damit Sie was für den Kochtopf haben!«

Waren jetzt alle verrückt geworden? Es musste doch klar sein, dass man erstens Nonnengänse nicht mal eben so einfangen und dass man zweitens Nonnengänse gar nicht verwerten konnte. Sie schmeckten einfach nicht.

»Es ist doch gut, wenn man aufmerksame Nachbarn hat. Die Szene kam Ole seltsam vor. Da hat er mich gleich angerufen. Auch weil er sich wunderte, dass Wilko nicht in der Schule war.«

Du liebe Güte, dachte Diesterweg. Das ist das zweite Mal, dass jemand etwas in den falschen Hals bekommt. Er mochte nicht darüber nachdenken, wie schnell sich auch diese Geschichte auf der Insel herumsprechen würde.

»Aber der Junge hatte frei. Der Unterricht war ausgefallen«, stotterte Diesterweg. Er merkte, wie Wilko neben ihm unkontrolliert zu zittern anfing. Jessen machte einen Schritt auf seinen Sohn zu, griff in sein T-Shirt. »Du gehst jetzt rein. Mit dir rede ich später.«

Der Junge rührte sich nicht.

»Los. Rein mit dir!«, schrie Jessen sein Kind an.

Was soll ich machen, überlegte Diesterweg. Würde der Mann Wilko schlagen? Dann musste er eingreifen. Oder würde das die Lage für das Kind verschlimmern? Er wollte um nichts in der Welt den Vater weiter aufregen. »Herr Jessen, die Gans haben wir tot auf dem Heller gefunden. Wir waren unterwegs und haben Queller für ein Gericht gesammelt, das ich heute Nachmittag kochen will. Wilko interessiert sich so sehr für das Kochen.«

Wilko schaute ihn angsterfüllt an. Hatte er etwas Verkehrtes gesagt?

»Dann war mein Sohn schon öfter bei Ihnen in der Wohnung? Mal sehen, was die Polizei dazu sagt!«

»Aber was hat die damit zu tun?«, fragte Diesterweg verdattert. Allmählich wurde die Lage für ihn unübersichtlich.

»Das können Sie sich immer noch nicht denken? Der Junge geht nicht zur Schule, nur damit er mit Ihnen kochen kann? Dahinter steckt mehr als nur Queller zu sammeln. Man muss töten, um zu leben – irre!«

»Nein. Wenn ich es Ihnen doch sage!«, versuchte Diesterweg Jessen zu überzeugen.

Jetzt liefen Wilko die Tränen über das Gesicht.

»Papa, was ist das für ein Krach?« Elmar Diesterweg sah Meta, blass und mit verwuschelten Haaren, im Nachthemd in der offenen Wohnungstür stehen. Gleichzeitig kam Ilona Klinker die Treppe hinunter. Ihr Dackel folgte ihr, ungelenk wie immer, seinen übergewichtigen Bauch von Stufe zu Stufe schiebend.

Klaus Jessen wandte sich um. »Nichts, mein Kind, gar nichts. Geh wieder ins Bett. Wilko und ich kommen auch gleich. Und Sie, Frau Klinker, geht es gar nichts an, was hier passiert. Aber wenn Sie es genau wissen wollen, schütze ich gerade meine Kinder vor einem per-…«

»Nein!«, schrie Diesterweg. »Nicht vor den Kindern.« Dann fügte er leise hinzu: »Wir können uns gerne unterhalten, wenn wir allein sind. Aber wir sollten jetzt wirklich …«

Hans Jessen hörte nicht mehr zu. Er schob Wilko grob den Flur entlang, verschwand mit ihm und Meta in der Wohnung und knallte die Tür zu.

Elmar Diesterweg hätte sich nicht gewundert, wenn die Klinker einen gehässigen Kommentar losgelassen hätte. Doch die Frau drehte sich wortlos um und ging die Treppe hoch. Der Hund folgte ihr mit durchdringendem Jaulen.

Er nahm sein Körbchen mit dem Queller. Die Lust am Kochen war ihm vergangen. Zumindest für heute. Aber es nützte nichts. Die Damen vom Kochclub würden darauf keine Rücksicht nehmen.

Baltrumer Wattenschmaus

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