Читать книгу Baltrumer Wattenschmaus - Ulrike Barow - Страница 7

3

Оглавление

Aus dem einen Glas Rotwein waren drei geworden. Das merkte Röder am nächsten Morgen, als in aller Frühe sein Telefon klingelte.

»Paul Abarth hier«, meldete sich der Leiter der kleinen Baltrumer Inselschule. »Hätten Sie Zeit für mich? Wir wollten über die Fahrradkontrolle sprechen.«

»Natürlich. Wann? In einer halben Stunde?«, antwortete Röder.

»Nein. Vielleicht heute Mittag. Ich rufe nur jetzt schon an, weil gleich der Unterricht beginnt. Wie wäre es um zwei bei mir im Büro?«

»Dann um zwei bei Ihnen.« Es passte auch Röder ganz gut in den Kram. Er würde sich in Kürze mit seinen Kollegen vom Festland erst einmal um das Grab kümmern müssen.

Ein Blick aus dem Fenster sagte ihm, dass er an diesem Morgen seine Regenklamotten getrost zu Hause lassen konnte. Im Osten der Insel stand die Sonne bereits am Himmel. In einer halben Stunde würde der Hubschrauber mit den Leuten vom Kriminaldauerdienst landen.

Er räumte die Reste des Frühstücks weg und setzte sich in sein Dienstzimmer. Die Büroarbeit hörte nicht auf. Er sortierte ein paar Unterlagen, schaute nach, ob wichtige E-Mails angekommen waren, und machte sich auf den Weg zum Flugplatz. Gerade landete eine Maschine. Der Pilot stieg aus und packte ein paar Pakete neben die Landebahn. Aha, der Zeitungsflieger, überlegte Röder. Der kam in der Saison jeden Morgen um 8.30 Uhr. Die Mitarbeiter der entsprechenden Geschäfte warteten bereits. Zügig beluden sie ihre Wippen und verließen den Platz. Röder stellte sein Rad ab und klopfte an die Tür des Towers.

»Komm rein«, hörte er Melanies Stimme. »Habe dich schon gesehen.«

»Ich wollte nur sagen, dass gleich ein Hubschrauber landet«, teilte er der Frau mit, die an diesem Morgen Dienst in dem kleinen Tower tat.

»Die Besatzung hat sich bei mir angemeldet«, erklärte sie. »Ist etwas passiert?«

Röder überlegte. Sollte er …? Warum nicht? Kramers, Tim Seebald und auch die Feuerwehrleute wussten von den Knochen. Also wussten es bereits Dreiviertel der Insulaner. Da war er sich ziemlich sicher.

»Nichts Spektakuläres«, winkte er ab, »nur ein seltsamer Knochenfund, der untersucht werden muss. Daher kommen die Kollegen vom Festland, nehmen den Fundort unter die Lupe und alles Relevante mit.«

In der Ferne hörte er bereits das dumpfe Schlagen der Rotoren. Er schloss die Tür, kurz darauf landete der Hubschrauber.

Martin Brinkmann und ein weiterer Mann kamen ihm lächelnd entgegen.

»Darf ich vorstellen: Lars Haltegrund. Er wollte unbedingt mal auf einer Insel Spuren sichern«, erklärte Brinkmann. »Ist es mal wieder soweit?«

»So sieht es aus«, erwiderte Röder. »Laden wir eure Sachen ein und gehen zum Friedhof. Auf dem Weg dorthin berichte ich, was euch erwartet.«

Brinkmann nahm einige Kisten aus dem Hubschrauber und lud sie in die Polizeiwippe. »Hat es hier gestern auch so sehr geregnet?«

»Ziemlich.« Röder erzählte von seiner durchnässten Kleidung. »Aber die Fundstelle ist abgesichert.«

Als sie den Friedhof erreicht hatten, sah Röder einige Menschen, die um das abgesperrte Areal standen.

»Was ist mit Kramers Grab?«, rief ihm eine der Frauen zu.

»Eine Ermittlung steht an«, gab er knapp Antwort. »Bitte verlassen Sie das Gelände.«

Nur langsam löste sich die interessierte Gruppe auf. Nur Tim Seebald blieb abwartend neben dem Zelt stehen.

»Gut, dass du da bist«, begrüßte der Inselpolizist den Totengräber.

»Braucht ihr einen Sarg und die Totenkutsche?«, fragte Tim.

»Warte ab. Ich denke nicht. Meine Kollegen werden die Grabstätte zunächst in Augenschein nehmen.«

Die Männer schoben das Zelt zur Seite und entfernten die Folie.

»Wo sind denn die Knochen?«, wunderte sich Brinkmann.

»Da. Im Grab.« Röder deutete auf das Viereck.

Haltegrund machte Fotos, während Brinkmann eine kleine Schaufel aus einer Metallkiste nahm. »Und wie tief?«, fragte er, als er Schicht für Schicht der trockenen Erde beiseiteschob.

Tatsächlich, je tiefer sie gruben, desto mehr Knochen holten sie aus der Erde. Sogar den Schädel fanden sie. »Das ist bestens«, sagte Brinkmann und hielt ihn hoch. »Wir haben, sehr gut erhalten, das Gebiss. Wenn die Person offiziell als vermisst gemeldet wurde, können wir mit ein bisschen Glück sehr schnell herausfinden, um wen es sich handelt. Die Knochen sind meines Erachtens ausgewachsen.«

Röders Telefon meldete sich. Hoffentlich eine gute Nachricht, dachte er und wurde belohnt. Es war sein Hilfssheriff. Genau genommen diesmal eine Kollegin, die ihn in den nächsten Wochen unterstützen und bereits am späten Nachmittag auf die Insel kommen würde. Er fragte sich kurz, ob es eine weibliche Form von Sheriff gäbe, aber es wollte ihm nichts einfallen. Anika Frederik. Interessanter Name. Er war gespannt auf die Kollegin.

»Also, wie geht es weiter?«

Martin Brinkmann deutete auf eine Metallkiste. »Hier hinein legen wir die Knochen und nehmen sie mit zur weiteren Untersuchung. Du bekommst so bald wie möglich Bescheid, wenn wir Neues haben. Wie es mit den Ermittlungen weitergeht, solltest du mit Müller besprechen.«

Lars Haltegrund hatte den Deckel der Kiste geöffnet. Sie war mit dickem Vlies ausgelegt. Dorthin platzierte er vorsichtig Knochen für Knochen. Dann zeigte er auf ein Stück Stoff. »Das befand sich auch im Grab. Wir nehmen es mit zur Untersuchung. Ach ja, es könnte sein, dass du die Besitzer des Grabes zur DNA-Probe bitten musst. Nur, damit wir sichergehen können, dass es sich nicht um jemanden aus der Familie handelt. Aber das kannst du mit Müller besprechen. Bei dem werden alle Informationen auf dem Schreibtisch zusammenlaufen.«

»Darf ich fragen, was hier vor sich geht?« Röder drehte sich um und sah die Pastorin, Nadja Recknagel, hinter sich auftauchen. Er hatte ganz vergessen, sie von dem Vorfall zu unterrichten. Das holte er nun nach. »Es ist sicher, dass hier nicht noch ein Familienmitglied beerdigt wurde?«, fragte er zum Schluss.

Tim Seebald lachte auf. »Michael, wenn es so wäre, hätte ich dir davon berichtet. Schließlich bin ich der Totengräber. Mir entgeht nichts.«

»Aha, wenn das so ist, dann kennst du die Umstände, wie und warum die Knochen hier lagen.«

»Ach, ich meine doch die offiziellen, also die richtigen …«, stotterte Tim, »ach was, du weißt schon, die Beerdigungen mit Pastorin und so.«

»Nun lassen Sie den armen Mann in Ruhe«, mischte sich Nadja Recknagel ein. »Er hat keine Ahnung und ich auch nicht. Auch wenn ich zugebe, dass ich schon gern wüsste, wer hier die Totenruhe gestört hat.«

»Ich hoffe, die Experten am Festland finden es heraus.« Röder deutete auf die beiden Männer, die Kisten und Taschen auf der Wippe verstauten. Zuletzt nahmen sie mit Tims Hilfe die längliche Metallkiste mit den Knochen darin und trugen sie zu den anderen Sachen. »Die Knochen gehen nach Oldenburg zur Untersuchung.«

»Dann braucht ihr die Totenkutsche also nicht?«, fragte Tim.

Röder überlegte, dann meinte er: »Ich denke nicht. Es ist meines Erachtens nicht respektlos, wenn wir die Überreste zügig und ohne großes Aufsehen zum Flugplatz bringen. Oder was denken Sie, Frau Recknagel?«

»Gehen Sie. Das ist schon in Ordnung«, erwiderte die Pastorin knapp. »Die schnelle Aufklärung der Sache ist viel wichtiger, um dem oder der Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

»Der Hubschrauber ist unterwegs. Kommst du mit, Michael?«, fragte Brinkmann.

»Natürlich. Bin gleich soweit.« Er klärte mit Axel Meinders ab, dass die Feuerwehr das Zelt abholen sollte, aber das Grab weiterhin mit der Folie abgedeckt und gesichert bleiben möge, und bat Tim, auf das Eintreffen der Feuerwehr zu warten. Dann rief er bei Kramers an und unterrichtete sie davon, dass das Grab vorerst nicht wieder herzurichten sei, da die Polizei gegebenenfalls noch einmal den Zugriff brauchte. Dass er wegen der Probe bei ihnen vorbeikommen würde, verschwieg er. Klaus Kramer schien ihm an diesem Morgen bereits nicht mehr ganz nüchtern zu sein. Er wollte keinen sinnlosen Streit riskieren. Er schaute auf die Uhr. Gleich zwölf. Da hatte er genug Zeit bis zu seinem Treffen mit dem Schulleiter.

»Ich bin in Kürze wieder vor Ort«, rief er der Pastorin und dem Totengräber zu, die in ein Gespräch vertieft waren, dann verließen die Ermittler den Friedhof.

»Liebe Güte, was für ein Krach«, bemerkte Lars Haltegrund, als sie auf die Straße zum Flugplatz abbogen.

»Ringelgänse, Möwen, Austernfischer – alle reagieren ungehalten, wenn sich ein Fluggerät nähert«, erklärte Röder. »Aber wir befinden uns im Nationalpark. Da läuft nichts mit Abschießen. Auch wenn die Menge der Flattertiere ständig zunimmt.« Er zeigte auf die Hellerfläche, auf der sich die Vogelschwärme wie eine weiße oder graue Decke über das Grün gelegt hatten.

»Das sollte den Gästen, deren Schlafzimmer zum Heller hinzeigen, besser vor der Anreise klargemacht werden. Ich könnte bei der Lautstärke kein Auge zutun«, überlegte Haltegrund.

»Ginge mir ähnlich«, bestätigte Martin Brinkmann. »Und soweit ich weiß, geht das Geschnatter auf dem Heller den ganzen Sommer über, oder?«

»Die Vögel kommen im Frühjahr und fliegen ab Mitte Juli weiter. Einige Arten bleiben sogar inzwischen. Schaut mal«, Röder zeigte auf einen weißen Vogel mit einem löffelartigen Schnabel, »ein Löffler. Gibt es nicht sehr häufig und noch gar nicht lange hier.«

»Scheint mir aber recht zutraulich zu sein«, wunderte sich Brinkmann.

Und tatsächlich: Der große Vogel erhob sich erst in die Luft, als sich der Hubschrauber mit lautem Getöse näherte.

Sie luden alles ein und die Männer verabschiedeten sich. Röder fuhr zurück zum Friedhof und sah, dass die Feuerwehr das Zelt abgebaut hatte. Somit war alles geregelt. Die Pastorin war bereits gegangen, auch Tim und der Inselpolizist verließen den Friedhof.

Er fuhr zurück in die Wache und räumte ein paar Papiere auf dem Schreibtisch zusammen. Die neue Kollegin sollte nicht gleich den Schreck ihres Lebens bekommen, wenn sie ihre Arbeitsstätte für die nächsten Wochen sah.

Dann ging er in die Küche der Dienstwohnung und machte sich einen schnellen Kaffee. Es war ruhig in der Wohnung. Weder Sandra noch Amir waren da. Hatte sie etwas gesagt, wohin sie …? Ach ja. Er musste sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass seine Frau tagsüber oft nicht da war. Sie hatte zusammen mit ihrer Freundin einen Bioladen auf der Insel aufgemacht. Gemüse und Obst bekamen sie vom Hof seines Freundes Arndt Kleemann und seiner Frau Wiebke. Seit zwei Monaten war der Laden geöffnet, und die beiden Frauen hatten gleich gut zu tun gehabt. Er setzte sich ins Wohnzimmer, genoss die Stille und dachte über den Fund auf dem Friedhof nach. Er war gespannt, ob sich herausstellen würde, wer der oder die Tote war und welche Ermittlungsarbeit auf der Insel es nach sich ziehen würde. Aber zunächst musste er sich anhören, was der Schulleiter zu sagen hatte.

Er stand auf, spülte seine Tasse aus und fuhr los. Es war immer noch trocken, auch wenn sich gegen Westen ein paar dunkle Wolken sammelten.

Er fuhr an der Volksbank vorbei und bog am Hotel »Seehof« links ab. Gleich darauf stellte er sein Rad in den Ständer an der Schule. Hoffentlich nimmt es keiner mit, dachte er. Ohne Rad war er aufgeschmissen. Er erinnerte sich an einen Sommer vor ein paar Jahren. Da waren einige Fahrräder der Kinder während des Unterrichts plötzlich verschwunden. Später stellte sich heraus, dass Gäste die Räder mitgenommen hatten, weil sie glaubten, dort sei ein kostenloser Fahrradverleih. Netterweise wurden die Räder zurückgegeben.

Paul Abarth stand in der Tür und begrüßte ihn freundlich.

»Kommen Sie rein.«

Er folgte dem Schulleiter ins Büro. »Also, wie sind die Pläne?«

»Setzen Sie sich.« Abarth deutete auf einen Bürostuhl, der vor dem Schreibtisch stand. »Wir sprachen ja schon einmal über die Fahrradkontrolle. Wir haben uns nun gedacht, dass wir den erhobenen Zeigefinger weglassen und stattdessen eine fröhliche Schulparty veranstalten, bei der alle mitmachen. Sie kommen und kontrollieren die Räder. Wir haben schon jemanden, der bei Bedarf kleine Reparaturen ausführen kann. Dazu machen wir ein tolles Programm und wollen vorbeifahrende Insulaner anhalten und sie fragen, ob wir deren Räder auf Sicherheit kontrollieren dürfen. Die Kinder helfen Ihnen und können so ihr neuerworbenes Wissen anwenden.«

Röder musste lachen. »Da bin ich aber gespannt, welcher Einwohner auf die Bremse tritt. Aber gut, ich bin gerne dabei. Wie wäre es in 14 Tagen? So können Sie in Ruhe mit Ihren Schutzbefohlenen alles vorbereiten, und meine Kollegin und ich stoßen dann zu Ihnen.«

»Wunderbar.« Abarth zögerte. »Wo Sie gerade Schutzbefohlene sagen. Ich muss etwas loswerden. Ist wahrscheinlich völlig unwichtig, aber dann können Sie mal hören, womit wir uns auseinandersetzen müssen. Wilko, der Junge von Antje und Hans Jessen, sagte neulich: ›Wer leben will, muss töten!‹ Der Knabe ist erst elf und dann solche Sprüche!«

»Haben Sie nachgefragt, was er damit meinte?«

»Natürlich. Aber er hat nur den Kopf geschüttelt und geschwiegen. Er und seine Schwester Meta, sie ist acht, sind eigentlich sehr fröhliche, aufgeschlossene Kinder. Doch seit einiger Zeit werden sie immer stiller und beteiligen sich kaum am Unterricht. Das berichten alle Lehrer. So etwas passiert immer mal wieder. Hat mit der Entwicklung zu tun und gibt sich meistens. Aber bei Wilko fällt mir neuerdings auf, dass er ab und zu seltsame Sprüche loslässt. Zum Beispiel diesen hier: ›Ich kann nicht. Ich hab’s ihm versprochen. Ich muss zu ihm.‹ Das war, als ich ihn darauf hinwies, dass wir nachmittags gegen eine Mannschaft vom Turnerbund auf dem Schulsportplatz Fußball spielen wollten. Dann drehte er sich um und war verschwunden.«

»Wissen Sie, wer ›ihm‹ ist?«

»Keine Ahnung.«

»Sie werden ihn im Auge behalten«, bat Röder den Schulleiter. »Reden Sie mit den Eltern. Sollte sich Neues ergeben – Sie wissen, wie Sie mich erreichen.«

Paul Abarth nickte. »Ich rufe gleich bei den Jessens an und bitte um ein Gespräch. Ich unterrichte Sie, wie sich das Ganze entwickelt.«

Michael Röder stand auf. »Gut. So verbleiben wir.«

»Danke.«

Der Inselpolizist verließ die Schule mit dem Gedanken, froh zu sein, dass es diesmal eine Kollegin war, die zu seiner Unterstützung auf die Insel kam. Sollte ein Kontakt zu den Kindern oder den Eltern nötig sein, würde sie bestimmt die passenden Worte finden. Zumindest hoffte er es. Noch kannte er sie nicht.

Baltrumer Wattenschmaus

Подняться наверх