Читать книгу Baltrumer Wattenschmaus - Ulrike Barow - Страница 8

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Anika Frederik spielte gedankenverloren mit dem Bändchen ihres Notizbuches. Gleich war die halbe Stunde Überfahrt, die sie vom Festland trennte, vorbei und sie würde ins Inselleben eintauchen. Sie hatte sich die Stelle nicht ausgesucht, sondern ihr Chef hatte ihr dringend dazu geraten. »Sie bleiben in Ihrem Job, aber es ist ein völlig anderes Arbeitsgebiet. Ruhig und beschaulich. Trunkenheit am Zügel – das war’s.«

Sie hatte lachen müssen. Dabei war es gar nicht der Job gewesen, der sie belastet hatte. Zum zehnten Mal auf dieser Schifffahrt zog sie ihre Geldbörse mit dem Bild aus der Tasche und steckte sie wieder ein. Am Ostende von Norderney gewahrte sie jede Menge Seehunde, die sich in ihrer Ruhephase nicht einmal von dem vorbeifahrenden Schiff stören ließen. Auch ein kleines Motorboot, das mit aufheulendem Motor an der Sandbank vorbeirauschte, schreckte die Tiere nicht auf.

Die »Baltrum I« querte die Wichter Ee, das Fahrwasser zwischen den Inseln, und bog in den Baltrumer Hafen ein. Es dauerte nicht lange, da verband der heruntergelassene Landgang das Schiff mit der Pier. Sie warf den leeren Kaffeebecher in den Mülleimer und verließ das Schiff. Auf zu neuen Ufern. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr Kollege wartete schon. Er sah nett aus. Schlank, Ende 40. So schätzte sie ihn zumindest ein. Er begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. Sie holten ihr Gepäck aus dem Container und luden es auf den Fahrradanhänger.

»Ich habe dir ein Rad mitgebracht. So geht es zügiger«, sagte der Mann, der sich als Michael Röder vorgestellt hatte.

Das war gut. So mussten sie sich wenigstens nicht endlos unterhalten. Sie wollte erst einmal ankommen. Alles Weitere würde sich morgen bei Dienstantritt ergeben.

Als sie an der Dienstwohnung ankamen, nahm sie sogleich ihren Koffer und folgte dem Inselpolizisten.

»Soll ich dir alles zeigen?«, fragte er. »Die Wache ist gleich hier unten.«

»Geht das bitte auch morgen? Von mir aus ganz früh. Ich möchte erst einmal den Koffer auspacken und einen Spaziergang machen. Damit ich weiß, wo ich mich befinde«, bat sie. »Hast du einen Ortsplan?«

»Liegt auf dem Tisch. Aber eigentlich reicht es zu wissen, dass du dich hier im Westdorf befindest und, wenn du immer geradeaus gehst, irgendwann im Ostdorf landest«, erklärte Röder. »Verlaufen passiert nicht. Zumindest nicht für jemanden aus unserer Zunft. Morgen besorge ich dir einen Prospekt. Dann hast du mehr Informationen. Ansonsten – wenn du weitere Fragen hast, Sandra, meine Frau, und ich wohnen gleich links auf der anderen Seite. Falls dich Hunger überfällt – es gibt jede Menge Lokalitäten hier. Das Fahrrad kannst du bei Nichtgebrauch ins Gartenhäuschen stellen. Auch links.«

»Danke. Wann beginnt der Dienst morgen?«

»Sei um acht Uhr da. Ich habe einiges zu erzählen.« Damit war der Mann sehr zu ihrer Beruhigung verschwunden.

Sie legte ihre Sachen in den schmalen Schrank im Schlafzimmer, wusch sich das Gesicht, zog Zivilklamotten an, steckte Geld und Inselplan in die Jackentasche und startete ihren Erkundungsgang. Auf der Strandmauer angekommen, setzte sie sich auf einen der Steine, die einladend herausschauten und ließ den Blick über das Wasser gleiten. Kleine Wellen rollten an die Buhnen, und Urlauber waren damit beschäftigt, sich immer wieder zu bücken und etwas in Taschen oder Tüten zu stecken. Ihr Blick ging nach rechts über den breiten Strand. An den Randdünen luden einige Strandkörbe zum Verweilen ein. Allerdings schien es ihr nicht warm genug, um im Bikini dort zu sitzen. Das Thermometer zeigte bestimmt nicht mehr als 15 Grad an, und die Sonne versteckte sich immer wieder hinter dunklen Wolken.

»Nein, meine!«

»Nein, meine!«

»Die Muschel gehört mir!« Eine Kindergruppe, gefolgt von ein paar Erwachsenen, schlenderte vorbei. Wobei die Erwachsenen eher schlenderten, die Kinder aber fröhlich hin und her hüpften. Ein kleines Mädchen hielt die Hände auf dem Rücken fest verschlungen, während die anderen versuchten, ihm den Schatz zu entreißen. »Sucht euch selbst welche. Da liegen doch genug!«, rief das Mädchen, und so schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder hinter dem Deichschart. Den Eltern war wohl nicht mehr nach Muschelsuche am Strand gewesen.

Was für ein unschlagbar geruhsames Leben, dachte Anika. Natürlich – die Feriengäste hatten nur eine begrenzte Zeit hier. Aber die Insulaner, besonders deren Kinder, konnten es gar nicht besser haben. Sie wuchsen quasi auf einem Freiluftspielplatz auf. Hier konnte nichts passieren. Kein Auto konnte … Nein. Sie stand auf und lief weiter über den Höhenweg. Rechts sah sie ein großes Gebäude. Das musste das Schwimmbad sein. Eine weiße Brücke tauchte vor ihr auf, die zu dem Gebäude führte. Sie ging weiter und bog rechts ab. War hier bereits das Ostdorf? Sie schaute auf den Plan und stellte fest, dass sie sich genau in der Mitte zwischen Ostdorf und Westdorf befand. Bei den Schaukästen blieb sie stehen. Sie war überrascht über die vielen Veranstaltungen und Angebote auf dieser kleinen Insel. Dabei war nicht einmal Hauptsaison. Ein Hinweisschild zeigte nach links. »Rosengarten« stand darauf. Den würde sie sich ansehen und dann versuchen, ihren Magen zu beruhigen, der nach Essbarem verlangte.

Sie öffnete die schwere Pforte, fühlte die Muscheln, die den Rundweg des kleinen, gepflegten Gartens bedeckten, unter ihren Sneakers und setzte sich auf eine der hölzernen Bänke. Sie schloss die Augen und ließ das Erlebte Revue passieren. Manchmal hatte ihr Chef in Barsinghausen sogar gute Ideen. Und der Vorschlag, sie für vier Wochen auf die Insel zu schicken, war mit Sicherheit der beste von allen gewesen. Natürlich – passieren konnte immer etwas. Aber sie war weg von zu Hause, weg aus der Stadt. Sie öffnete ihr Notizbuch und schrieb Rosengartentor – warum so massiv?, dann klappte sie es zu und steckte es ein. Das war die erste von sicher vielen Fragen, auf die sie eine Antwort brauchte. Ihr Kollege würde ihr da bestimmt weiterhelfen.

Eine ganze Weile blieb sie sitzen, hörte den Vögeln zu und beobachtete eine Maus, die unbeeindruckt von ein paar Gästen, die die ersten Rosenblüten bewunderten, vor ihrem Loch hin und her lief und die spitze Nase in den Wind reckte.

Wie spät war es eigentlich? 21 Uhr. Es war immer noch hell. Kein Wunder zu dieser Jahreszeit. Aber ob es auf dieser Insel jetzt etwas zu essen gab, war fraglich. Für alle Fälle hatte sie zwei belegte Brötchen und ein paar Kekse mitgebracht. Sie hatte keine Lust aufzustehen, merkte jedoch, wie der Wind ihr unter die Jacke zog und sie zum Frösteln brachte. Also sollte sie besser gehen. Nicht, dass sie ihren ersten Arbeitstag mit Erkältung im Bett verbringen musste.

Auf ihrem Rückweg kam sie an zwei Hotels vorbei. Den Blick auf die Speisekarten verkniff sie sich. Nein, sie würde schnurstracks zurück in ihre Dienstwohnung gehen, eine gemütliche Hose anziehen und sich mit den Brötchen in den Sessel kuscheln. Sie wunderte sich, dass ihr trotz der späten Stunde Eltern mit Kinderwagen begegneten. Aber im Urlaub war eben alles anders. Daran musste sie sich gewöhnen, genau wie an viele andere Dinge. Da war sie sich sicher.

Sie lenkte ihr Fahrrad um die Ecke und öffnete gerade die Tür des Gartenhauses, als Michael Röder mit einem Hund auftauchte.

»Hallo, Frau Kollegin«, begrüßte er sie freundlich. »Wie wäre es mit einem Abendschluck?«

Ihr drehte sich fast der Magen um. Wenn sie jetzt, mit leerem Bauch, auch nur ein Glas Bier trinken würde – sie mochte nicht daran denken, wie schlecht es ihr erginge. Außerdem würde sie mit dem Mann in den nächsten Wochen sicher genug zusammen hocken.

»Nein, danke. Morgen vielleicht. Ich bin müde.« Damit schob sie das Rad ins Gartenhaus, und Röder verschwand mit einem kurzen Abschiedsgruß in seiner Wohnung.

In der Wohnung angekommen, biss sie hungrig in ihr Brötchen und merkte sofort, wie sich ihre Laune besserte. Nachdem sie auch das zweite Brötchen nahezu verschlungen hatte, legte sie sich aufs Bett und schlief ein, ohne sich vorher ihren Schlafanzug anzuziehen.

Plötzlich schreckte sie hoch. Das durchdringende Horn eines Krankenwagens holte sie aus dem Schlaf. Wo bin ich hier, dachte sie verwirrt und horchte. Es war nichts als Stille um sie herum. Eine Stille, die sie als beängstigender empfand, als wenn tatsächlich der Alarm von draußen zu hören gewesen wäre. Eine Stille, die so laut war, dass sie sich die Bettdecke über den Kopf zog und ihre Fäuste auf die Ohren presste. »Warum hört es nicht auf? Warum nicht?«, wimmerte sie.

Baltrumer Wattenschmaus

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