Читать книгу Baltrumer Wattenschmaus - Ulrike Barow - Страница 5

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»Was ist mit dem Rosenstrauch? Willst du den mitnehmen?« Tim Seebald machte einen letzten Spatenstich und hielt gleich darauf die Pflanze hoch. Trockener Sand rieselte herab.

»Nee, lass man«, winkte Bernd Bohlen ab. »Ich würde gerne, aber bei uns in den Garten passt nichts mehr rein.«

Tim Seebald lachte. »Du hast auch schon genug von diesem heiligen Fleckchen Erde mitgehen lassen.«

»Immerhin helfe ich dir kostenlos«, protestierte Bohlen, »dafür darf ich wohl …«

»Klar. Wird sowieso bald ein Ende haben. Der Friedhof wird immer leerer. Die Gräber werden nach der Ablaufzeit aufgelöst – so wie das vom alten Volkers hier, und neue werden kaum noch angelegt.« Er zeigte auf die Stele, die im hinteren Teil des Friedhofes stand. »Was von den Menschen übrigbleibt, ist lediglich ein kleines Metallschild mit Namen derer, die auf See bestattet wurden. Mehr bleibt nicht.«

»Wem sagst du das?«, bestätigte Bohlen, »meine Schwester wollte auch unbedingt eine Seebestattung. Sie ist an Krebs gestorben. Mein Schwager hat ihren Wunsch erfüllt. Aber manchmal vermisst er doch einen Ort zum Trauern, hat er mir neulich erzählt.«

»Manche Orte – wie Harlesiel – haben einen Platz geschaffen, wo Hinterbliebene auf das Meer schauen und an ihre Liebsten denken können. Er heißt ›Brücke der Erinnerung‹ und ist genau auf das Beisetzungsgebiet zwischen Spiekeroog und Wangerooge ausgerichtet. Vielleicht wäre etwas Ähnliches auch für hier eine Idee«, überlegte Tim Seebald. »Aber nach Harlesiel kommt man schnell mal mit dem Auto, wenn man am Festland wohnt. Der Weg auf die Insel ist aufwendiger. Die Frage ist, wieviel Leute das in Anspruch nehmen würden.«

»Das weiß man nicht. Hat man heute überhaupt noch Zeit zum Trauern in dieser hektischen Welt?«, sinnierte Bernd.

»Vielfach sicher nicht. Und zum Pflegen der Gräber fehlt erst recht Lust oder Zeit.« Tim Seebald deutete auf ein Grab in der nächsten Reihe. »Die Seibolds wohnen auf der Insel. Trotzdem ist das Fleckchen Erde mit Muscheln belegt. Da muss man sich nicht mehr kümmern, meinen die Leute. Dabei sollte man nicht verkennen, dass auch dieser Belag hin und wieder Pflege erfordert. Aber darüber haben wir uns schon so oft unterhalten. Wir werden die Beerdigungsrituale nicht mehr zurückdrehen können.« Tim Seebald zuckte mit den Schultern. »Ich hätte es gerne, wie es früher war – mit bunten Blumen überall auf den Gräbern. Hier bei den Kramers sieht man zwar Grün, aber es ist einfach nicht gepflegt. Das Unkraut wuchert.« Er machte einen Schritt auf das Nachbargrab zu, bückte sich, hob etwas auf und zeigte es Bernd. »Das sieht fast aus wie ein Fingerknochen.«

Bernd Bohlen nahm das Teil, drehte es hin und wieder her, dann sagte er: »Quatsch. Das kann gar nicht sein. Die Toten liegen hier in Särgen. Wie soll denn ein Finger da …«

»Keine Ahnung. Wir sollten die Erdschicht entfernen und nachsehen, ob sich weitere Knochen dort befinden«, schlug Tim vor, doch Bernd schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall. Das können andere machen.«

»Mensch, reg dich nicht auf.« Tim wischte sich den Schweiß von der Stirn und hinterließ ein paar dunkle Streifen. »Ich bin selbst nicht sicher, was es ist. Es war nur so ein erster Gedanke. Wahrscheinlich hat sich jemand einen Scherz erlaubt und einen Hühnerknochen dort hingeworfen. Oder eine Möwe hat ihn fallengelassen.«

»Du hast recht. Wir können uns nicht um alles kümmern. Also lass uns hier weitermachen«, schlug Bernd vor.

»In Ordnung«, erwiderte Tim, »der alte Grabstein muss wie üblich hinter die Hecke. Die Firma aus Norden, die den abholt, wird nächste Woche hier sein.«

Die beiden wuchteten den schweren Stein auf die Schubkarre und fuhren den Inhalt auf das Gelände neben dem Friedhof. Dort lagen bereits zwei weitere Grabsteine und mehrere Einfassungssteine von aufgelösten Gräbern. Dann gingen sie zurück, warfen die ausgegrabenen Blumen bis auf den Rosenstock in die Karre und brachten alles zum Komposthaufen. Von dort nahmen sie Erde mit und schaufelten sie dorthin, wo sich das Grab vom alten Volkers befunden hatte.

»So, und nun den Rasensamen rein, gießen und fertig.« Tim sah Bernd nicken, hatte aber das Gefühl, dass der Mann, der ihm netterweise immer half, wenn es Schweres zu erledigen galt, nicht ganz bei der Sache war. Wieder und wieder schaute der Mann hinüber zu dem Familiengrab der Kramers. Wahrscheinlich hatte Bernd Angst, dass der Rest des Skeletts plötzlich und unerwartet auftauchte. Er musste grinsen. Das wäre echt ein Ding. So konnte man natürlich auch Beerdigungskosten sparen, dachte er. Aber zugleich war ihm klar, dass ein anonymes Verscharren auf dem Friedhof mit Sicherheit aufgefallen wäre. Abgesehen davon, dass er sich häufig hier aufhielt, um alles in Schuss zu halten, kamen auch immer wieder Besucher, um sich die Namen auf den Steinen anzusehen. Im hinteren Bereich lagen Gräber von Soldaten, die bei der Explosion ihres Minensuchbootes ums Leben gekommen waren. Das Schiff war kurz nach dem Krieg vor der Insel auf eine Mine gefahren. Gleich neben den Gräbern waren Steine als Erinnerung an alte Insulanerfamilien aufgestellt worden.

»Bernd, wo ist die Tüte?«

Bernd Bohlen zuckte zusammen und nahm den Rasensamen aus der Vorratskiste. »Ich, du, ich, ach was!«

»Was möchtest du mir damit sagen?« Tim ahnte schon, was Bernd wollte. Nämlich weg. Möglichst schnell weg. Er war erstaunt, wie nahe seinem Freund der Fund des Knochens ging.

»Moin. Na, fleißig?«

Tim drehte sich um. Er konnte ein Stöhnen kaum unterdrücken. Nicht Martha. Auch sie war häufig auf dem Friedhof anzutreffen. Fast noch häufiger als er. Sie war eine der wenigen Insulanerinnen, die sich intensiv um ein Grab kümmerten. Und immer wollte sie sich unterhalten, wenn sie auf dem Weg zum Grab ihres Mannes bei ihm vorbeikam.

»Natürlich, Martha.«

»Ihr löst Volkers Grab auf? Sind denn schon wieder 25 Jahre rum? Tied vergeiht, hätte mein Geerd jetzt gesagt. Is so. Dat sall woll ook nich mehr lang dauern, bis ik min Beenen unnert Gras liegen hebb. Und wer kümmert sick dann?«

Oh, Mann, das ewig gleiche Geleier. Neulich hatte er es gewagt, ihr vorzuschlagen, sie solle sich doch seebestatten lassen. Da war er allerdings auf Granit gestoßen.

»Dat meenst du nich in Ernst?«, hatte sie fassungslos gesagt. »Ik sall mien Geerd hier alleen liegenlaten? We hebben im Leben binanner gelegen und dat sall ok im Dod so sein.«

»Martha, ich kümmere mich!« Martha und ihr Mann Geerd hatten keine Kinder. Also hatte er der alten Frau mindestens schon zum zehnten Mal versprochen, die Pflege zu übernehmen. Warum auch nicht? Ob er es wirklich tat, konnte sie dann schließlich nicht mehr überprüfen.

Martha nickte nur und schlurfte langsam weiter.

»Martha, ich habe einen Rosenstock. Willst du ihn haben?«, rief er hinter ihr her.

»Nee, dat lot man. Geerd het immer seggt, wat we bruken, kopen wir uns.« Sie zeigte auf einen Korb mit bunten Blumen. »Heb ik bi Anke holt.«

Na, dann eben nicht. Wenn Geerd es so wollte. War ja nur ein Angebot.

»Was ist nun? Gibt es noch etwas, oder machen wir Schluss für heute?« Bernd schaute ihn bittend an.

»Nein. Gönnen wir den Toten die Grabesruhe. Ich muss nach Hause. Das Abendessen wartet«, beschloss Tim mit einem Blick auf die Uhr.

Sie verstauten die Spaten, die Harke und den Eimer im Gartenhaus, luden den Rosenstock auf die Wippe und verließen den Friedhof. Die schwere Pforte quietschte beim Öffnen.

»Am Öl kann’s nicht liegen. Is’ keins dran«, murmelte Bernd, als er sein Rad aus dem Ständer hob.

»Danke für’s Helfen. Ich melde mich bei Bedarf wieder«, verabschiedete Tim ihn.

»Immer gerne«, erwiderte Bernd und bog links ab ins Ostdorf.

Tim fuhr am Hotel »Dünenschlösschen« und am Sportplatz vorbei und dann geradeaus. Zu Hause angekommen, wurde ihm wie fast jeden Abend schmerzlich bewusst, dass vielleicht ein Abendessen, jedoch keiner auf ihn wartete, mit dem er es zusammen genießen konnte. Wie gerne hätte er jetzt eine fröhliche Begrüßung vernommen, aber es blieb ruhig. Wie jeden Abend. Caroline war nicht mehr da. Seine Lebensgefährtin hatte ihn vor vier Monaten verlassen, seitdem war Stille eingekehrt. Er hatte bis heute keine Ahnung, warum Line – er hatte sie nie Caroline genannt – ein Leben auf dem Festland vorgezogen hatte. Natürlich hatte seine Freundin ihm zu erklären versucht, warum sie gehen würde, aber Tim hatte sich bis heute geweigert, es verstehen zu wollen. An diesem Abend hatte die Kälte des Januars in seinem Haus Einzug gehalten und war, obwohl der Frühling viele warme Tage gebracht hatte, nicht wieder verschwunden.

Er koppelte die Wippe vom Fahrrad und stellte den Rosenstrauch in einen Eimer. Es war nicht das erste Mal, dass er Blumen mitgenommen hatte. Sie waren voller Leben, warum also sollte er sie wegwerfen? Da gab er sie lieber anderen Insulanern. Auch wenn der Aberglaube besagte, dass man vom Friedhof nichts mitnehmen dürfe, weil das Unglück bringe. Aber er war sich sicher, dass dieser Glaube nur ausgestreut worden war, damit die Räuber nicht mit Blumen, die sie unerlaubt von den Gräbern mitgehen ließen, ihr Wohnzimmer schmückten. Sein Basecap und die Arbeitshandschuhe warf er auf das Regal im Flur. Das ging jetzt, seitdem Line weg war. Sie hatte immer darauf bestanden, dass die Arbeitssachen in den Schuppen gehörten. Warum konnte es nicht noch immer so sein?

Tim warf sich in den Sessel. Der Appetit, den er auf dem Friedhof gespürt hatte, war ihm vergangen. Jedes verdammte Teil, der leere zweite Sessel, die grüne Kuscheldecke mit den Fransen, die sie ihm zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte, alles, verdammt alles erinnerte ihn an die Frau, die er so liebte.

Er musste raus an die frische Luft, konnte nicht drinnen bleiben. Beinahe rannte er, zog die Tür hinter sich zu ohne abzuschließen und ging zurück dorthin, wo er sich zurzeit am wohlsten fühlte. Auf den Friedhof.

Ich glaube, ich bin verrückt, dachte er, als er die metallene Pforte öffnete, die auf der einen Seite ein Segelschiff und auf der anderen die Inschrift »Christ Kyrie, komm zu uns auf die See« trug. Was soll ich hier? Natürlich gibt es immer etwas zu tun, aber nicht um 19 Uhr. Da wollten selbst die Toten ihre Ruhe.

Langsam schlenderte er an den Gräbern vorbei. Um einige kümmerte er sich, andere wurden von den Angehörigen gepflegt. Wie das von den Kramers. Er blieb stehen und musste beinahe lachen bei dem Gedanken an Bernds Gesicht nach dem Knochenfund.

Er bückte sich und schob vergilbte Narzissenblätter zur Seite. Auch Krokusse, die vor zwei Monaten den beginnenden Frühling begrüßt hatten, ließen nun schlaff die Köpfe hängen. Kramers hätten hier wirklich mal Ordnung reinbringen können, dachte er. Aber das mussten sie selbst wissen. Er war dafür nicht zuständig. Er wollte gerade weitergehen, da fiel ihm doch etwas auf. Ein toter Zweig einer kleinen Birke, der über das Grab hinausragte, störte seinen Ordnungssinn. Aber das Problem war keines. Er griff danach und riss ihn ab. Zumindest wollte er es, musste jedoch feststellen, dass er nicht nur den Zweig, sondern das ganze Bäumchen mit dem weißen Stamm in der Hand hielt. Sand flog hoch und landete auf seiner Jacke. Tim erschrak. Was hatte er da veranstaltet? Er legte den Baum neben das Grab und ließ sich auf die Knie fallen. Hoffentlich tauchten nicht gerade die Kramers auf, bevor er alles wieder hergerichtet hatte. Das würde ein schönes Geschrei geben.

Sicher war es am besten, die Birke wieder einzugraben. Und zwar sofort. Natürlich hatte er in dem kleinen grünen Gartenhäuschen eine Schaufel liegen, aber der Schlüssel lag neben seinem Basecap auf dem Regal. Also hieß es mit den Händen ein Loch zu graben, das groß genug war, die Wurzeln des kleinen Baumes aufzunehmen. Es ging erstaunlich leicht. Die Erde war nicht so fest, wie er befürchtet hatte. Plötzlich spürte er einen Stich an seinem linken Zeigefinger. Eine rostige Haarspange hatte den Schmerz verursacht. Er legte sie neben das Grab. Er würde sie später entsorgen.

Vorsichtig vergrößerte er das Loch und starrte auf das, was sich unter seinen Händen zeigte. Ein Knochen, dann ein zweiter schob sich ihm entgegen. Erst ein kleiner, dann einer, der aussah, wie eine Unterarmspeiche, dann ein dickerer mit einem Knubbel daran. Er schob wie unter Zwang weitere Erde vom Grab und hörte erst auf, als ihn eine Stimme in die Wirklichkeit zurückholte.

»Machst du eigentlich nie Feierabend? Dein Job ist es doch, Menschen zu vergraben, nicht auszubuddeln.« Bodo, sein Nachbar, stand vor ihm und schaute neugierig zu ihm herunter.

»Ruf Michael an«, krächzte Tim. »Hier stimmt was nicht.«

»Wieso? Das ist ein Friedhof. Da dürfen …«

»Ruf ihn an! Sofort!« Einen weiteren Satz würde er nicht herausbringen.

Bodo hatte offensichtlich verstanden. Er zog sein Handy aus der Tasche, wechselte ein paar Worte und steckte es wieder ein. »Er ist auf dem Weg. Wir sollen nichts weiter anfassen.«

»Darauf kann er sich verlassen«, stöhnte Tim und versuchte aufzustehen. Doch erst, als Bodo ihm unter die Arme griff, kehrte Kraft in seine Beine zurück.

»Nun sag mal, was ist passiert? Wieso wusstest du …?«

Tim winkte ab. »Warte, bis Michael da ist. Dann muss ich nicht alles zwei Mal erzählen.«

Baltrumer Wattenschmaus

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