Читать книгу Baltrumer Wattenschmaus - Ulrike Barow - Страница 12

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»Na, haben Sie sich den Mann schon vorgenommen?« Hans Jessen stand am offenen Fenster und schaute Anika zu, wie sie verzweifelt versuchte, ihr Fahrrad abzuschließen. »Das müssen Sie nicht. Hier wird kein Rad geklaut. Schon gar kein Polizeidienstrad.«

Dienstrad? Sie blickte auf das Gestänge, doch nirgendwo konnte sie einen Hinweis darauf entdecken, dass man es als polizeieigen hätte erkennen können. Und wenn, würde es einen eifrigen Dieb auch nicht von seiner Tat abhalten. »Haben Sie Zeit?«

»Ich habe. Allerdings ist alles gesagt, oder?«

Anika Frederik antwortete nicht, sondern ging ins Haus und fragte sich, ob der Mann tatsächlich die Wohnungstür öffnete.

Doch er erwartete sie bereits im Flur. »Wollen Sie reinkommen?«

»Sind Ihre Kinder da?«, fragte sie.

»Ja, Meta liegt im Bett und Wilko sitzt an seinen Hausaufgaben. Ich habe sie mir telefonisch geben lassen. Wäre ja noch schöner, wenn er ohne sie durchkommen würde, wenn er schon nicht am Unterricht teilnimmt.«

»Darf ich mit ihm reden?«

Jessen zögerte. »Ich habe bereits alles versucht, ihn zum Reden zu bringen, aber er schweigt.«

»Alles?«, erwiderte Anika scharf.

»Ich habe keine Gewalt angewendet. Ist nicht mein Stil. Zumindest nicht bei Kindern. Kann ich ruhig sagen. Meine Akte kennen Sie sicher.«

Nein, die kannte Anika nicht. Röder hatte sie bisher nicht erwähnt.

»Also, was ist nun? Wenn wir Licht in die Angelegenheit bekommen wollen, ist es wichtig, dass …«

»Wilko. Die Frau von der Polizei will mit dir reden«, rief Jessen und riss eine Tür auf. Gleich darauf stand der Junge zitternd vor ihr.

»Wir gehen ins Wohnzimmer«, forderte Jessen die Polizistin auf, doch Anika winkte ab. »Ich würde gerne mit Wilko allein sprechen, wenn Sie mir die Erlaubnis geben. Wir könnten das in seinem Zimmer erledigen.«

»Wenn Sie meinen, dass es hilft – bitteschön.« Jessen trat einen Schritt zurück und zeigte auf die offene Kinderzimmertür.

Wilko setzte sich auf sein Bett, und die Polizistin quetschte sich auf den schmalen Kinderstuhl vor Wilkos Schreibtisch. »Möchtest du mir erzählen, wie du Herrn Diesterweg kennengelernt hast und was euch verbindet?«

Wilko nickte, dann begann er flüsternd. »Das war, als meine Eltern rumgeschrien haben, weil Mama immer weg ist wegen ihrer Arbeit. Und wenn sie zu Hause ist, soll sie kochen, hat Papa gesagt. Aber er sagt auch, dass sie nicht gut ist, und wenn sie das nicht bald lernt, haut er ab.«

»Und – kocht deine Mama denn so schlecht? Schmeckt es euch Kindern auch nicht?«, hakte Anika ein.

Jetzt stahl sich ein kleines Lächeln über das Gesicht des Jungen. »Wenn meine Mutter mal kochen muss, dann schlage ich immer vor, dass ich Pizza kaufen gehe. Das klappt fast immer. Sie kann einfach nicht kochen. Daher macht das der Papa. Das schmeckt irgendwie normal. Ich habe immer gedacht, das Essen muss so – langweilig schmecken. Aber seitdem ich mit Elmar koche, weiß ich, wie es auch anders geht. Soll ich Ihnen mal sagen, was wir schon gekocht haben? Labskaus. Das war superklasse. Und nicht etwa mit Corned Beef. Elmar hat gesagt, das nehmen nur die, die keine Lust haben, richtig zu kochen. Nein, wir haben gepökeltes Rind- und Schweinefleisch zerkleinert. Und Matjes und Gurken auch. Dazu haben wir einen Salat aus Brennnessel, Feldsalat und Löwenzahnblättern gemacht. Ganz frisch. Und die Soße dazu – total lecker.«

Anika wusste, dass es besser wäre, den Jungen nicht zu unterbrechen, dennoch winkte sie ab. »Habt ihr außer Kochen sonst Dinge miteinander gemacht?«

Wilko zögerte. »Ja, aber das war nicht schön.«

»Was war es?«, fragte Anika gespannt.

»Nichts. Eigentlich war es nichts«, erwiderte Wilko traurig.

»Bitte, Wilko.« Anika hoffte so sehr, dass der Junge sich öffnete. Dann hatten sie endlich etwas Verwertbares in der Hand.

»Na gut. Wir haben zum Beispiel ›Mensch ärgere Dich nicht‹ gespielt und Elmar hat jedes verdammte Mal gewonnen!« Wilko war aufgesprungen. »Es ist nur ein Spiel und man gewinnt mit Glück. Aber die verdammten Würfel wollten nie so wie ich!«

Anika konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Wenn das wirklich alles war …

»Also wolltest du …«

»Ja, ich wollte kochen lernen und das Mama beibringen. Im Treppenhaus roch es immer so lecker, und ich habe Mama gefragt, ob sie nicht mal bei Elmar was lernen kann, aber sie hat nur gelacht. Darum musste ich das machen! Damit ich ihr das beibringen kann und Papa nicht mehr meckert. Und wenn ich die doofe Schule aushabe, werde ich Koch!«

»Das ist eine gute Idee«, freute sich Anika. »Gibt es noch etwas, was du an Herrn Diesterweg magst?«

»Ja. Wenn ich traurig bin, und ich meine nicht traurig, wie nach dem ›Mensch ärgere Dich nicht‹ Spiel, sondern richtig traurig, dann setzen wir uns zusammen auf das Sofa und er erzählt mir Geschichten aus der Zeit, wo er in Amerika gewohnt hat und so. Das ist schön.«

»Setzt sich dein Papa denn nicht mal mit dir gemütlich auf das Sofa?«

Wilko schüttelte traurig den Kopf. »Papa nie. Der meckert immer nur. Manchmal nimmt er Meta in den Arm, weil die noch kleiner ist. Sagt er. Und Mama merkt einfach nicht, wenn es mir nicht gut geht. Außerdem hat die nie Zeit.«

»Dann sage mir, was es mit diesem ominösen Satz auf sich hat. Wer leben will, muss töten, oder so ähnlich.«

Wilko schaute sie ernsthaft an. »Das ist nun mal so. Wenn wir ein Schnitzel essen, muss vorher das Schwein getötet werden. Das weiß doch jeder.«

»Hat Herr Diesterweg schon einmal in deinem Beisein Tiere getötet?«

Wilko schwieg, dann schüttelte er kaum wahrnehmbar den Kopf. »Nein«, hörte Anika ganz leise.

Anika stand auf. »Danke für deine Offenheit. Darf ich das deinem Vater erzählen?«

»Nein, besser nicht. Aber eigentlich ist es auch egal. Der lässt mich sowieso nicht mehr zu ihm, so sauer wie der ist.« Wilko nahm sein Kopfkissen, knuddelte es zusammen und warf es auf den Boden. »Aber dann gehe ich heimlich. Papa merkt doch sowieso nicht, wenn ich weg bin. Und Mama erst recht nicht.«

Anika konnte das traurige Gesicht des Jungen kaum ertragen. »Bitte, Wilko. Lass ein wenig Ruhe einkehren. Vielleicht besinnen sich deine Eltern und alles wird besser.«

»Wenn Sie meinen!« Es klang nicht sehr viel Zuversicht in Wilkos Stimme. Aber dann fügte er an: »Ich denke darüber nach. Danke fürs Zuhören.«

Anika stand auf. »Okay. Ich schaue mal. Tschüss, Wilko.«

Auf dem Flur stand Wilkos Vater und schaute sie auffordernd an. Sie wusste, was er hören wollte, doch sie fragte nur: »Wollen Sie etwas unternehmen?«

Hans Jessen schüttelte den Kopf. »Bringt doch nichts. Wegen einer toten Gans in der Verlandungszone wird kein Verfahren eröffnet, nicht wahr?«

Sie verließ die Wohnung, ohne sich zu verabschieden. Wilko und auch seine Schwester taten ihr unendlich leid. Nur weil die Erwachsenen Stress hatten, mussten die Kinder es ausbaden. Aber sie wusste, es ging noch schlimmer. Es gab Kinder, die konnten nichts mehr ausbaden, weil sie nicht mehr lebten.

Sie ging die Treppe hoch zur nächsten Tür und klingelte. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann stand Elmar Diesterweg, angetan mit einer bunten Schürze, vor ihr und lachte sie an. Das Lachen erstarb jedoch sofort, als er erkannte, wen er vor sich hatte. »Entschuldigung, ich dachte, es wären die drei Damen vom Kochclub«, Er zog nervös an der Schleife, die die Schürze auf seinem Rücken zusammenhielt. »Heute Abend geht es um die Zubereitung von frischen Smoothies und Cocktails.«

»Ich habe ein paar Fragen«, erklärte Anika. »Aber wenn es jetzt nicht passt …«

»Nein, nein, kommen Sie herein.« Er warf die Schürze auf ein kleines Schränkchen im Flur. »Ich würde Sie gerne ins Wohnzimmer bitten, aber eigentlich müsste ich in die Küche. Ich bereite einiges vor. Die Damen müssten … Darf ich meine Schürze …«

»Herr Diesterweg, nun mal ganz ruhig. Wir gehen in die Küche, Sie arbeiten und ich schaue Ihnen zu. Dabei beantworten Sie mir die eine oder andere Frage. Wäre das in Ordnung?«, schlug Anika vor.

Diesterweg nickte und führte sie in einen modernen Raum, der von einer großen Kochinsel und darüber von einer ebenso gewaltigen Abluft dominiert wurde. »Hier ist mein Arbeitsplatz.« Er zeigte stolz in die Runde.

»Ich bin beeindruckt«, gab Anika zu, konnte sich jedoch eine Frage nicht verkneifen. »Warum riecht es denn im Treppenhaus immer so nach Essen, wenn Sie hier das Beste vom Besten installiert haben?«

»Tja. Die Antwort ist: Kommen Sie mal her!« Er zeigte auf ein Rohr, das durch die Wand nach draußen führte. »Hier ist meine Abluft. Alles, was da rausdünstet, kommt genau in der Ecke neben dem Flurfenster an. Und jedes Mal, wenn die Klinker das Fenster aufreißt, wird es nur schlimmer im Treppenhaus. Es hat übrigens eine Weile gedauert, bis ich das System begriffen hatte.«

Anika schaute den Mann verwundert an. »Aber warum das alles? Das hätten Sie längst ändern können!«

Diesterweg lächelte. »Lassen Sie einem Mann sein Geheimnis. Außerdem finde ich gar nicht, dass es im Treppenhaus stinkt. Ich finde den Geruch sehr angenehm. Wäre doch auch ziemlich niederschmetternd für meine Kochkünste, wenn ich anders denken würde. Aber wahrscheinlich wollten Sie mir ganz andere Fragen stellen, oder?«

»In der Tat. Was war heute auf dem Heller los?«

Elmar Diesterweg nahm ein paar Möhren und schrubbte sie unter dem laufenden Wasserhahn sauber. Dann zeigte er der Polizistin eine Schüssel, in der grüne, gummiartige Stücke lagen. »Da. Queller. Den habe ich mit Wilko gesammelt. Sicher hätte ich nachhaken müssen, ob die Schule wirklich ausfällt, aber er hat es mir glaubhaft versichert.«

»Haben Sie die Gans getötet?«

»Nein. Ich habe auch nicht den geringsten Schimmer, warum sich die Polizei dafür interessiert.«

»Nonnengänse stehen unter strengstem Schutz.«

»Ich weiß. Ich habe keine Ahnung, warum sie kopflos dort herumlag. Ich glaube, Sie gehen besser«, sagte der Mann und begann nun eine Zwiebel in rasender Geschwindigkeit in kleine Stücke zu zerteilen. Plötzlich schrie er auf. Anika sah Blut aus seinem Zeigefinger laufen. »Das haben Sie jetzt davon«, schrie er weiter. »Verdammt, ich muss gleich dieses Essen zubereiten.«

»Kann ich Ihnen ein Pflaster holen?«, fragte Anika, als sie sah, dass das Bluten nicht aufhörte.

»In der Schublade.«

Anika schob die Lade auf und fischte ein Pflaster heraus. Sie hoffte, dass es die richtige Größe hatte, zog das Papier ab und verarztete Diesterwegs Finger.

»So, bevor die drei Damen kommen, sage ich Ihnen etwas und dann gehen Sie: Ich mag Wilko sehr und freue mich, dass er sich so für das Kochen interessiert. Genau, wie ich mich auf die Gäste freue, denen ich mein Wissen weitergeben kann.«

»Wie auch immer – ich kann Ihnen nur raten, den Kontakt zu dem Jungen zu beenden. Seine Eltern sind dagegen. Zumindest, bis sich die Sachlage geklärt hat«, forderte sie den Mann eindringlich auf.

»Das Leben ist kurz, man muss das Beste draus machen.« Sehr zu Anikas Erstaunen lächelte Diesterweg sie freundlich an.

Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was er damit sagen wollte, hatte jedoch das Gefühl, dass er ihr den tieferen Sinn hinter seinen Worten nicht erklären würde.

Diesterweg hatte die Küchentür geöffnet und zeigte in den Flur. »Sie finden allein raus? Ich habe zu tun.« Er nahm ein Messer aus der Schublade. »Ich muss Kräuter aus dem Garten holen. Für die Smoothies.«

Was sollte sie machen? Einfach gehen? Es gab keinen Grund für weitere Befragungen. Im Hausflur nahm sie ihr Notizbuch heraus. Sie würde mit Röder die Sache besprechen. Ebenso würde sie nach Jessens Akte fragen. Auch dazu machte sie eine kurze Notiz, steckte das Büchlein wieder ein und verließ das Haus. Ein Zusammentreffen mit der Mieterin von oben brauchte sie nicht mehr.

Was sie jedoch dringend brauchte, war Nahrung. In welcher Form auch immer. Ihr wurde klar, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte und nichts Greifbares in der Dienstwohnung finden würde. Sie hatte schlichtweg vergessen einzukaufen. Kochen war sowieso nicht unbedingt ihre Leidenschaft. Wie der Diesterweg sich ständig damit beschäftigen konnte, war ihr schleierhaft. Essen diente dazu, den Körper auf Trab zu halten und nicht, stundenlang in einem Restaurant auf ein Häppchen nach dem nächsten zu warten und zum Schluss halbhungrig 200 Euro auf den Tisch zu blättern. So war es ihrer Freundin passiert. Die schwärmte heute noch davon.

Vielleicht sollte sie auch mal bei Diesterweg in die Lehre gehen, um ihren kulinarischen Horizont zu erweitern. Aber erstens war der Verdacht der illegalen Tiertötung nicht vom Tisch und zweitens hatte sie keine Ahnung, ob Diesterweg wirklich so gut in seinem Fach war. Stattdessen holte sie sich im »Inselmarkt« eine Reispfanne. Das musste für den Abend reichen.

Doch als ihr Telefon klingelte, ahnte sie, dass ihre Reispfanne warten musste. Sie sollte recht behalten.

Baltrumer Wattenschmaus

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