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Röder zog seine leichte Dienstjacke an und holte sein Rad aus dem Gartenhäuschen. Der Maiabend zeigte sich recht kühl und der kräftige Westwind schob dunkle Wolken vor sich her. Er war gespannt, was ihn auf dem Friedhof erwartete. Bodo Kehler hatte sich bei seinem Anruf recht kurzgehalten.

Es waren nicht viele Menschen unterwegs, als er beim Hotel »Seehof« auf die D-Straße und gleich darauf am Hotel »Fresena« durch das Deichschart fuhr. Auch am Spielteich brauchte er nur ein, zwei Überholmanöver, dann stellte er sein Rad vor dem Friedhof ab. Hinten auf der Bank sah er Tim Seebald sitzen. Selbst aus der Ferne konnte man ihm ansehen, dass es ihm nicht gutging.

Bodo stand in der Mitte des Friedhofs an einem Grab und wedelte mit den Armen. »Die verdammten Möwen«, schrie er. »Dabei gibt es hier nichts zu holen.«

»Was habt ihr gefunden?«, rief er ihm zu.

»Ich nichts«, antwortete der stabile Mann mit der Halbglatze und deutete auf Tim Seebald. »Der da. Schau dir das an.«

Als Röder das Grab erreicht hatte, sah er Knochen. Und etwas, was wie die Reste einer Jacke aussah. Ihm war in diesem Moment nicht ganz klar, ob es ein ganz normaler Vorgang war, in einem Grab Knochen zu finden. Natürlich war er sich sicher, dass Tote in einem Sarg beerdigt wurden. Und das viel tiefer. Aber konnte es nicht durch Regen und andere Umstände passieren, dass Knochen zutage traten? Er schaute zu Tim, der sich immer noch nicht rührte. Dort saß der Fachmann. Und er war sich sicher, dass diese Situation nicht normal war, sonst hätte der Herr der Gräber anders reagiert.

»Wenn du bitte auf die Fundstelle aufpassen würdest? Ich muss mit Tim reden«, bat er Bodo.

Der nickte. »Was ist mit ’ner Folie oder so?«, brummelte er.

»Machen wir gleich.«

Er berührte Tim leicht an der Schulter, dann setzte er sich neben ihn. »Erklär mir, was los ist.«

»Ich war heute mit Bernd hier. Volkers’ Grab auflösen. Da hat Bernd auf dem Nachbargrab einen Knochen gefunden. Wir haben unseren Spaß gehabt, weil wir dachten, eine Möwe hätte den verloren. Ist ja nicht aus der Welt geholt der Gedanke. Heute Abend bin ich noch mal auf den Friedhof …«

»Warum?«, unterbrach Röder ihn.

»Ist doch egal. War eben hier«, winkte Tim ab. »Ich habe einen abgestorbenen Ast an der kleinen Birke auf Kramers Grab bemerkt und wollte ihn abreißen. Leider kam der ganze Baum raus, und als ich ein Loch buddelte, um den Baum wieder einzupflanzen, sah ich das Elend.«

»Dass die Knochen hochkommen, ist nicht normal, oder?«, fragte Röder.

Tim Seebald hob den Kopf und schaute Röder ungläubig an. »Wie soll das denn passieren? Meinst du, der Sarg öffnet sich von allein? Nee, mein Guter. Da hat jemand eine weitere Leiche mit reingepackt.« Er schlug die Hände vor das Gesicht. »Welcher Idiot macht nur so etwas? Und wann? Das muss doch jemand gemerkt haben! Im Sommer spazieren hier auf der Hellerstraße immer Leute vorbei. Die müssen mitbekommen haben, wenn hier nachts gegraben wurde.«

»Bis jetzt wissen wir nicht, wann was genau passiert ist. Ich werde erst einmal veranlassen, dass die Überreste aufs Festland zur Untersuchung geschafft werden, und mit Kramers Kontakt aufnehmen.«

»Das dürfte auch besser sein. Vielleicht könntest du mein Zutun beim Finden der Leiche verschweigen.«

Röder schaute ihn überrascht an. »Wie soll ich das verstehen?«

»Na ja, ich kann mit denen nicht so gut. Und wenn die hören, dass ich an der Birke herumgezupft habe, sind die bestimmt sauer. Geht mich auch eigentlich nichts an, was die mit ihrem Grab machen.«

»Mal schauen, was ich tun kann«, sagte Röder, »aber zunächst muss ich die Kollegen vom Festland benachrichtigen.«

»Kann ich nach Hause gehen?«, fragte Tim.

»Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe einen Moment. Falls Fragen sind. Immerhin kennst du dich hier am besten aus.« Röder schaute in den Himmel. Die Wolken waren bedrohlich näher gekommen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Tropfen fielen. Das konnte er jetzt am wenigsten gebrauchen. Er rief Axel Meinders, den Gemeindebrandmeister, an, und der versprach, mit ein paar Mann, einer großen Plane und einem Zelt anzurücken.

Mit seinem Chef Müller in Aurich verabredete er, dass die Spurensicherung am nächsten Morgen auf die Insel kommen und die Reste des oder der Toten zur genauen Untersuchung mitnehmen würde. Zur Vorsicht würde er auch die Pastorin anrufen. Er vermutete, dass auch sie keine Erklärung für den Leichnam in Kramers Grab hatte, aber sicher war sicher.

»Und du hast wirklich keine Idee? Weißt du denn, wann der letzte Tote hier begraben wurde?«, fragte Röder.

Tim Seebald zeigte auf den Grabstein. »Da steht es. Es ist ein Familiengrab. Der Vater von Klaus Kramer ist über 90 geworden und im Februar vor zwei Jahren beerdigt worden. Seitdem haben sich die Kramers aber kaum um ihr Grab gekümmert. Sieht ziemlich verkommen aus. Zur Pflege haben die keine Lust. Zumindest habe ich die auf dem Friedhof nur ganz selten gesehen. Selbst das Belegen mit Muscheln ist bei Kramers noch nicht angekommen. Aber was sage ich immer: Die Dinger gehören an den Strand.«

»Der Lauf der Zeit«, bestätigte Röder. »Und wenn man bedenkt, dass es nicht einmal Baltrumer Muscheln sein dürfen …«

»Genau«, schaltete sich Bodo ein, »ich habe vielleicht einen auf den Sack bekommen, als ich am Strand Muscheln gesammelt habe und mir zufällig einer vom NLWKN in die Quere gekommen ist. Ich Blödmann habe auch noch frank und frei erzählt, dass die Muscheln für das Grab meiner Großmutter seien. Da durfte ich die Wippe sofort wieder ausleeren und den Inhalt zu dem Riesenhaufen von einer Million anderer Muscheln zurück in den Sand kippen. Ich habe dann Muscheln aus Holland bestellt. Tja, das ist deutsche Gesetzgebung. Völlig verrückt!«

Röder wusste, dass es verboten war, Muscheln vom Strand mitzunehmen, aber auch er fand diese Regelung ziemlich absurd. Strandschutz war wichtig. Klar. Aber so viele konnte man gar nicht entnehmen, dass der Strand einer Gefährdung ausgesetzt war. Zumindest den Insulanern sollte es erlaubt sein, die Gräber oder auch den Vorgarten zu schmücken. Wobei er allerdings auch wieder an Sandras Argumentation denken musste. Sie hatte, seit sie auf dem Hof seines Freundes Arndt Kleemann gewesen war, ihre Liebe zu den Bienen entdeckt und wünschte sich nichts mehr, als dass jedes Grab und jeder Vorgarten wieder bepflanzt würden.

Motorengeräusch holte ihn aus seinen Gedanken. Alex und seine Leute rückten an. Er verabschiedete Bodo und Tim fürs Erste, nicht ohne die Bitte an den Totengräber, sich am nächsten Morgen auf dem Friedhof einzufinden. Seine Hilfe konnte beim Abtransport der sterblichen Überreste nötig sein. Dann half er den Feuerwehrleuten, den Schutz aufzubauen. Zusätzlich sicherten sie die Fundstelle mit Flatterband. Röder war sich zwar nicht ganz sicher, ob das Band eine Hilfe war, oder in dem einen oder anderen erst recht den Wunsch weckte, einmal in das Zelt hineinzuschauen. Er hatte jedoch keine Lust, die Nacht auf dem Friedhof zu verbringen, und sein neuer Hilfssheriff, der ihm in den Sommermonaten zur Seite stand, würde erst in zwei Tagen seinen Dienst antreten.

Er schaute auf die Uhr. War es schon zu spät, um bei Kramers an die Tür zu klopfen? 21 Uhr. Ging noch. Er verließ den Friedhof und fuhr los. Weit kam er jedoch nicht, da setzte prasselnd der Regen ein. Bevor er das Deichschart bei der »Teestube« erreicht hatte, war er völlig durchnässt. Wie gut, dass ich meine Regenjacke zu Hause am Garderobenhaken gelassen habe, dachte er. So wird sie wenigstens nicht nass! Nein, er konnte Kramers nicht zumuten, dass er so bei ihnen auftauchte. Er würde erst nach Hause fahren, sich um- und diesmal wetterfest anziehen.

Jetzt nichts wie rein. Beinahe warf er sein Rad an den Zaun und öffnete fast gleichzeitig die Tür zur Dienstwohnung.

»Zieh die Klamotten im Bad aus!«, hörte er Sandra aus dem Wohnzimmer.

Er zog das kleine Stück Reißverschluss wieder zu. Sie sollte ihren Willen haben. War auch besser so. Der Regen hatte ihn bis auf die Haut durchnässt, so klebte selbst das Unterhemd an seinem Rücken.

»Willst du einen Tee zum Aufwärmen?« Sandra stand in der Tür und schaute ihn mitleidig an, als er mühsam seine Füße von den Socken befreite.

»Nein. Nur etwas zum Anziehen. Ich muss wieder los.« Während er sich trockenrubbelte, erzählte er ihr, was der Grund für seine Aktivitäten war. »Ich bin echt gespannt darauf, was sich aus dem Leichenfund ergibt.«

»Ich auch. Das muss ja gruselig ausgesehen haben.«

»War nicht so schlimm. Es waren nur Knochen übrig. Es war kein Fleisch mehr dran und auch keine Haut. Außerdem sah man die Reste eines dunklen Stoffs.«

»Warten wir also auf die Ergebnisse der Rechtsmedizin. Ist denn hier mal jemand vermisst worden? Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Sandra.

»Ich habe auch nichts auf dem Plan. Wenn es sich um einen Inselbewohner handeln würde, wäre mir der Vorgang sicher bekannt.« Er wischte sich ein letztes Mal mit dem Handtuch über den Bauch.

»Es schüttet doch ganz schön«, gab Sandra zu bedenken. »Würde es nicht reichen, wenn du Kramers anrufst?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte die Reaktion sehen. Wir kennen wie gesagt keine Zusammenhänge. Es nützt nichts. Ich muss los.«

Röder hatte das Gefühl, dass selbst Amir, ihrer beider Heidewachtel, ihn bedauernd anschaute, als er die Haustür hinter sich schloss. Es regnete immer noch und der Wind hatte zugenommen. Von dem lauen Maiabend, der Sandra und ihn gestern zu einem späten Strandspaziergang eingeladen hatte, war nichts mehr zu spüren. Er sah kaum einen Menschen auf der Straße.

Er fuhr die Düne hoch zu Kramers Haus und klingelte. Nichts rührte sich. Er versuchte es ein zweites Mal. Dann öffnete sich die Tür.

»Wer will da was von uns zu später Stunde?«, brummte Klaus Kramer mit tiefer, vom regelmäßigen Alkoholkonsum verdunkelter Stimme.

»Ich bin es. Michael. Darf ich reinkommen?«

Wortlos machte ihm Klaus Kramer Platz. Im Wohnzimmer sah Röder Elli sitzen. Sie drückte den Ton des Fernsehers weg. »Was führt dich zu uns?«

Ein zweites Mal erzählte er an diesem Abend von dem Fund und sah, wie die beiden ihn immer ungläubiger anschauten.

»Unser Grab?«, fragte Elli fassungslos. »Im Grab von unseren Eltern?«

»Von meinen Eltern«, warf Klaus ein.

»Ja, ist gut«, wischte Ella seine Worte genervt weg. »Ich will sie dir nicht nehmen.«

»Die letzte Beerdigung hat vor zwei Jahren stattgefunden, richtig?«, fragte der Inselpolizist.

»Ja, da ist sein Vater gestorben.« Ella zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf ihren Mann, der seinen breiten Körper im Sessel versenkte. »Seitdem haben wir uns allerdings nie mehr so richtig um das Grab gekümmert. Mal eine Blume drauf gepflanzt, wenn wir im Garten was übrighatten, das war es auch schon.«

Er stand auf. »Die Leiche wird morgen früh abgeholt. Ich bitte darum, dort keine Spuren zu zerstören.«

»Wenn du damit sagen willst, dass du denkst, dass wir die Knochen heute Nacht bereits aus dem Grab entfernen, hast du dich getäuscht. Außerdem, wer bezahlt uns eigentlich das Wiederherrichten des Familiengrabes?« Klaus Kramer schaute den Polizisten vorwurfsvoll an.

»Klaus. Halt die Klappe!« Energisch schob Ella sich aus dem Sessel und beugte sich drohend über ihren Mann. »Als ob Michael nichts Wichtigeres zu tun hätte!«

Tatsächlich. Hatte er. Und wenn es nicht der Fall gewesen wäre, hätte er in diesem Moment wichtige Aufgaben erfunden. Er wollte nichts wie raus, sich zu Sandra ins Wohnzimmer setzen und ein Glas Rotwein genießen.

»Ich gehe dann mal«, sagte er knapp und verließ das Haus, ohne eine Antwort abzuwarten.

Baltrumer Wattenschmaus

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